II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 743

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11. Reigen
Theaterzensur nicht mehr gibt, vinkulierten behördliche Helfershelfer auf
Grund eines deutbaren Vertragsparagraphen ein richtiges Zensurverdikt.
Der Tanz um den „Reigen
Gegen den deutlichen Befehl einer vorläufigen gerichtlichen Ent¬
Von Hermann Kienzl.
scheidung hat die Aufführung des „Reigens“ am 23. Dezember statt¬
gefunden.
Unser Berliner Schauspielreferent schreibt:
Man muß bedauern, daß das Ansehen des Gerichts hierdurch zu
Direktichertrud
Im „Kleinen Schauspielhaus“ —
Schaden kam. Man muß sich freuen, daß das höhere Recht, das mit den
Cysoldt und Maximilian Sladek — war die Uraufführung von Arthur
zeistigen Ansprüchen mündiger Menschen geboren ward, vor Schaden be¬
Schnitzlers „Reigen“ für den 23. Dezember angekündigs Wer nicht
hütet wurde.
fremdtrerr verrletzten dreißig Jahre, ist vertgut mit dem
Das Gericht hat vielleicht nur seine paragraphierte Schuldigkeit ge¬
einnervigen und skeptischen Wiener — dem Europäer. Weiß auch, daß
tan. Es hatte im gegebenen Stadium der Angelegenheit nicht zu ent¬
Schnitzler, der melancholische Philoseph der Erotik, mit senen zarten
cheiden, ob der Anwurf der Unzüchtigkeit berechtigt sei. (Einzuschalten:
Fingern letzte Schleier von der Tragikomödie der Geschlechter hebt, an¬
er alte Spruch, die Moral sei in der Kunst selbstverständlich, will sagen,
mutig und doch schonungslos, lächelnd und ernst. Die Grazien und der
daß Gut und Böse für das Kunstwerk mit Gelungen oder Mißlungen
Weltgeist machten ihn zum österreichischen Bruder (nicht etwa zum Nach¬
zu übersetzen ist und, wie die vollkommenste Darstellung des Lasters
kommen!) Maupassants, des Franzosen. Jener Sünder oder Tor, der
künstlerische Tugend, so auch das Unzüchtige züchtig sein kann ...)
Schnitzler — in einseitiger, bedenklicher Genußfähigkeit oder in zelotischer
Daß sich die vorläufige gerichtliche Entscheidung nicht mit dem üb¬
Blindheit — einen Pornographen schilt, er muß Shakespeare, den schlech¬
lichen Text begnügte, vielmehr den Direktoren des „Kleinen Schau¬
ten Kerl, für die Menchelmorde Richards III. verantwortlich machen!
vielhauses“ für den Fall der Uebertretung sechs Wochen Haft an¬
Auch den „Reigen“, die zehn erotischen Szenen, kennt man seit länger
drohte, ist allerdings auffällig
als zwanzig Jahren ... In der alten Welt (vor 1918) war nicht nur
Die volle moralische Verantwortung für eine gegen die Moral
die Aufführung, nein, zeit= und ortsweilig auch das Buch verboten.
der Kunst gerichtete Aktion tragen die Leitung der staatlichen Hoch¬
Um so heftiger fand es Verbreitung. Kam selbstverständlich auch in die
chule für Musik (die Hauswirtin des Theaters) und das
Hände vieler, die dem Besinner der Natur (siehe Schovenhauer über den
preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und
tückischen Knalieffekt der Natur!) nicht nachzusinnen, ihm nur Sinnlich¬
Volksbildung (die vorgesetzte Behörde der Hochschule). Herr
fern von
keit abzuschmeicheln imstande waren. Was will es sagen? Manches Blatt
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Hänisch weilte in der Unglücksstunde seines Dezernenten
in Goethes Werken erhint menschliche Kaninchen! Nicht so borniert, wie
Berlin, ahnungslos. Hätte er nicht nach seiner Rückkehr sofort seinen
es auf den ersten Blick scheinen will, waren die Religionslehrer, die den
Beamten desavouiert, man müßte dem sozialdemokratischen Minister ein
lirtext der Bibel breiten Volkskreisen vorenthielten. Aber in der Kunst
Standbild neben dem des bei lebendigem Leibe hochseligen Doktor Studt,
geht es nicht mit dem Verbergen. Kämen um der Anfälligen und
es wahrhaft königlichen Kultusministers, errichten ...
Kranken willen die Gesunden zu Schaden. Müßten um der Armen im
Man hat nun Schnitzlers zehn erotische Dialoge auf der Bühne ge¬
Geiste willen alle glücklichen Geister ins geistige Armenhaus. Vom
sehen. Es sind nicht bloß handlungslose Gespräche. Dort, wo im Buch,
Theater forderte der alte Lessing, wahrhaftig ein Erzieher de, Menschen¬
die Konversation in ein Vorher und Nachher scheidend, Punkte und Ge¬
geschlechts, daß es allwöchentlich Aufführungen nur für reife Männer
dankenstriche gesetzt sind, fiel vor der kleinen, in Gazeschleier gehüllten
veranstalte; damit nicht durch Prüderie und Verlogenheit die dramatische
Biedermeierbühne der diskrete Vorhang. Mit Geschicklichkeit, ohne
Kunst auf den Hund komme. Rücksicht auf weibliche Ueberverschämtheit ist
plumpe Unterstreichung und allzu pointierte Aufreizung wurde die Auf¬
heute überflüssig; von Lessings Meinung bleibt der Fingerzeig: das ernste
gabe gelöst (Regisseur Hubert Reusch). Es war die Kunst des
Theater ist kein Erziehungsinstitut für Backfische! Im übrigen gebe sich
französischen Rokokos, das Animalische seiner Schwere zu entheben, es
jeder Vater selbst die Mühe, Bücher und Schauspiele für seine Kinder
in die Zone der gestügelten Amoretten zu tragen. Schnitzlers Wiener¬
auszuwählen.
tum hat viel von dieser Art — wiewohl wehmütige Resignation ihn
Schnitzlers zehn Szenen, zum „Reigen“ gebunden, sind naturalistische
immer wieder an die Erde kettet. Daß eine Bühne in dex Zone von
erotische Knalleffekte, durchaus geistig destilliert, selbstverständlich ohne
Berlin bis zu einem gewissen Grade jenen Rhythmus fand, war eine
chmierige Spekulation, vielmehr mit ernster Würde und heiterer Grazie
hübsche Neuigkeit. Schauspielerische Großtaten gab es nicht. Doch
vorgeführt, also von künstlerischem Adel. Daß kniffliche Bureaukraten,
Poldi Müller als süßes Mädel, Karl Ettlinger als Dichter,
die nebenbei einer bestimmten Stelle eine privatrechtliche Gefälligkeit zu
Robert Forster=Larrinage als Graf: das waren gute und
erweisen beflissen waren, einem Kunstwerk das Verbotstäfelchen „Un¬
eine Typen.
züchtig“ anhängten, das war eine schlimmere Blamage, als die Verschan¬
Ich schwöre: Es wurde kein Zuschauer sittlich verdorben.
delung ewigschöner Menschlichkeit durch die berüchtigten Feigenblätter!
Ich schwöre: Wenn die zur Generalprobe gelabenen Vertreter des
In der Tat: auf einem Neben= und Schleichweg wollte der alte Unhold
Unterrichtsministeriums sich von der Wahrheit überzeugt hätten, daß es
an den Geist und an die Kunst heran, und, obwohl es in Deutschland eine
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für einen phantasielosen Bureaukraten schwierig ist, den Kontrast
nackter Buchstaben und künstlerischer Verkleidung zu erkennen, — die
Herren wären in Verlegenheit geraten, ihren Einspruch zu begründen.
Viel eicht hätten sie ihrem Chef, dem Unterrichtsminister, die größere
Verlegenheit erspart. Denn dieser mußte am Tage nach der Aufführung,
seine Beamten blamieren (ach, sie hatten es schon selbst getan!) und den
Einspruch bei Gericht zurückziehen.