4.9. Anatol Zy
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Anatol
Der gemütliche Urenkel Child Harolds tänzelte diese Woche über die Bühne
des Lessing-Theaters. Die Wiener Mama hat den englischen Gemahl mit einem
Franzosen, genannt Mauppassant, betrogen. Das ethnographische Experiment
dieser Rassenmischung hat der Dame viel Vergnügen verursacht, und es ist dar¬
aus ein gar zu nettes Kerlchen entstanden. Der lebenslustigste Weltschmerzler,
der Mann mit dem kusshungrigen Sattsein, ein ewig beschäftigter Müssiggänger.
Ein Kunstprodukt der Grossstadt charakterisiert durch die gut gebügelte
Hosenfalte. Das ist Anatol. Aber die ewige Sehnsucht nach dem Weibe veredelt
diesen Gecken. Ein künstliches Etwas, ein Dandy in steter Berührung mit dem
Elementaren alles Weiblichen. Das ist das Problem dieser Einakter.
Es sind lustige, wohlige, leichte Stücke. Leicht in der Form, lustig im Dialog,
wohlig in der Atmosphäre, aber eigentlich tief rührend und aufwühlend, ge¬
schrieben in verstecktem Leid von einem Vielgeprüften am Weibe.
Anatole auf seiner unaufhörlichen Liebesjagd ist wie ein unbeholfenes Kind,
das seine Mutter sucht. Hat das Kind seine Mutter gehabt, soll auch der Mann
die seine haben. Untreue Männer sind nicht hart und herzlos (wie man sie ge¬
wöhnlich schildert), — sie sind die grössten Kinder, die weichsten Muttersöhnchen,
mit einer Sehnsucht ganzer Hingabe und eines vollen Geliebtseins. Kein Wunder,
dass ihre Seelenwanderung durch viele Frauenleiber dauern muss ein Leben lang.
Werde ich allein geliebt? Nur für mich geliebt? Kann ich im Augenblick
eine Ewigkeit schenken? Das sind die Schicksalsfragen Anatoles.
Seine Existenz ist ausgefüllt durch den Kampf mit der Frau. Das hat für uns
Heutige, Nervigere etwas störendes. Der Kampf des Mannes, der durch das Weib
aus seinen Bahnen gelenkt wird, regt mich auf. Aber das enge Leben eines fin de
siècle-Männchens, der gar keine Bahnen geht; sein Winseln und sein Söhnen,
seine Gebärden und seine Witze, das alles wirkt schon etwas verstaubt. Es gibt
uns mehr dokumentairen Aufschluss über ein entschwundenes Jahrzehnt, als
der Stoff an aufpeitschendem, in uns eingreifendem Interesse erregen könnte.
Darum hat auch das Publikum, das vier Stücke geniessend und mitempfindend
aufnahm, plötzlich nach dem fünften widerstanden. Es war zu viel aus einem
Guss, und mit der gewohnten Undankbarkeit der abgekühlten Theaterbesucher
verliessen die Leute kaum applaudierend das Haus.
Von dem Recht dieser Undankbarkeit will ich nun auch Gebrauch machen.
Ich will es sogar missbrauchen. Ich schweige über manches Treffliche, das uns
besonders die Schauspielerinnen boten und möchte einige verfängliche Fragen
stellen:
Hat man je einen Weltmann so eine scheussliche Bude bewohnen sehen?
Anatole in so einem Zimmer ist um die Hälfte seiner Wirkung gebracht.
Die Wartenden
133
Ist das eine Gasse am Weihnachtsabend? Bewegen sich diese Schauspieler
in einem gut geheizten Salon oder in Schnee und Eis, zwischen Häusermauern
Ist das eine Wiener Balleteuse? Fräulein Sussin spielt glänzend, ber sie
trägt einen Regenmantel wie ein Berliner Dienstmädchen, das zu Schramm geht.
Kleinigkeiten. Frivole Aeusserlichkeiten. Aber sie stören mein Auge. Und
wenn ich ins Theater gehe, kann ich doch meine Augen nicht in die Seele stecken?
Weil es Aeusserlichkeiten gibt, die ablenken, darf man aus Trotz gegen solchen
eitlen Aufwand nicht vergessen, dass es auch Aeusserlichkeiten gibt, die zu¬
gleich das Innere offenbaren.
LUDWIG HATVANY
Die Mo¬
Mensch
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Anatol
Der gemütliche Urenkel Child Harolds tänzelte diese Woche über die Bühne
des Lessing-Theaters. Die Wiener Mama hat den englischen Gemahl mit einem
Franzosen, genannt Mauppassant, betrogen. Das ethnographische Experiment
dieser Rassenmischung hat der Dame viel Vergnügen verursacht, und es ist dar¬
aus ein gar zu nettes Kerlchen entstanden. Der lebenslustigste Weltschmerzler,
der Mann mit dem kusshungrigen Sattsein, ein ewig beschäftigter Müssiggänger.
Ein Kunstprodukt der Grossstadt charakterisiert durch die gut gebügelte
Hosenfalte. Das ist Anatol. Aber die ewige Sehnsucht nach dem Weibe veredelt
diesen Gecken. Ein künstliches Etwas, ein Dandy in steter Berührung mit dem
Elementaren alles Weiblichen. Das ist das Problem dieser Einakter.
Es sind lustige, wohlige, leichte Stücke. Leicht in der Form, lustig im Dialog,
wohlig in der Atmosphäre, aber eigentlich tief rührend und aufwühlend, ge¬
schrieben in verstecktem Leid von einem Vielgeprüften am Weibe.
Anatole auf seiner unaufhörlichen Liebesjagd ist wie ein unbeholfenes Kind,
das seine Mutter sucht. Hat das Kind seine Mutter gehabt, soll auch der Mann
die seine haben. Untreue Männer sind nicht hart und herzlos (wie man sie ge¬
wöhnlich schildert), — sie sind die grössten Kinder, die weichsten Muttersöhnchen,
mit einer Sehnsucht ganzer Hingabe und eines vollen Geliebtseins. Kein Wunder,
dass ihre Seelenwanderung durch viele Frauenleiber dauern muss ein Leben lang.
Werde ich allein geliebt? Nur für mich geliebt? Kann ich im Augenblick
eine Ewigkeit schenken? Das sind die Schicksalsfragen Anatoles.
Seine Existenz ist ausgefüllt durch den Kampf mit der Frau. Das hat für uns
Heutige, Nervigere etwas störendes. Der Kampf des Mannes, der durch das Weib
aus seinen Bahnen gelenkt wird, regt mich auf. Aber das enge Leben eines fin de
siècle-Männchens, der gar keine Bahnen geht; sein Winseln und sein Söhnen,
seine Gebärden und seine Witze, das alles wirkt schon etwas verstaubt. Es gibt
uns mehr dokumentairen Aufschluss über ein entschwundenes Jahrzehnt, als
der Stoff an aufpeitschendem, in uns eingreifendem Interesse erregen könnte.
Darum hat auch das Publikum, das vier Stücke geniessend und mitempfindend
aufnahm, plötzlich nach dem fünften widerstanden. Es war zu viel aus einem
Guss, und mit der gewohnten Undankbarkeit der abgekühlten Theaterbesucher
verliessen die Leute kaum applaudierend das Haus.
Von dem Recht dieser Undankbarkeit will ich nun auch Gebrauch machen.
Ich will es sogar missbrauchen. Ich schweige über manches Treffliche, das uns
besonders die Schauspielerinnen boten und möchte einige verfängliche Fragen
stellen:
Hat man je einen Weltmann so eine scheussliche Bude bewohnen sehen?
Anatole in so einem Zimmer ist um die Hälfte seiner Wirkung gebracht.
Die Wartenden
133
Ist das eine Gasse am Weihnachtsabend? Bewegen sich diese Schauspieler
in einem gut geheizten Salon oder in Schnee und Eis, zwischen Häusermauern
Ist das eine Wiener Balleteuse? Fräulein Sussin spielt glänzend, ber sie
trägt einen Regenmantel wie ein Berliner Dienstmädchen, das zu Schramm geht.
Kleinigkeiten. Frivole Aeusserlichkeiten. Aber sie stören mein Auge. Und
wenn ich ins Theater gehe, kann ich doch meine Augen nicht in die Seele stecken?
Weil es Aeusserlichkeiten gibt, die ablenken, darf man aus Trotz gegen solchen
eitlen Aufwand nicht vergessen, dass es auch Aeusserlichkeiten gibt, die zu¬
gleich das Innere offenbaren.
LUDWIG HATVANY
Die Mo¬
Mensch