II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 455

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Zyklus
4.9. Anatol
Kammerspiele: „Anatol.
Dies graziöse Werk Schnitzlers ist jetzt bald dreißig Jahre alt,
bey man kann ihm keine Geheimratsecken ansehen. Und wenn ein¬
man die österreichische Welt, von der es Leben und Atem empfangen
ha dahingestorben sein wird, „Anatol wird seinen Ruhm be¬
haupten. Es gibt kaum etwas in deutscher Sprache, was ihm an
heiterer Anmut gleichkommt, und sein Duft rührt nicht von franzö¬
sischem Ersatzparfüm her.
In den Kammerspielen führte Regie der Moskauer Iwan
Smith. Er hörte aus diesen Szenen nur die Melancholie und nicht
das Gelicher der Liebesgötter, und spielte, mit Ausnahme von
„Abschiedssoupe," und „Hochzeitsmorgen, Schnitzler wie Tschechow.
Anton Edthofer hat die Melodie des „Anatol im Blut;
etwas melancholisch, etwas schürzenjägerisch und etwas eingebildet,
alles in allem, es wurde ein Mensch daraus.
Hermann Thimig spielte den Freund Max mit Pädagogen¬
brille, bürgerlich-reputierlich; Selbstironie in den Konturen der
Gestalt.
Und die Damen? Erika v. Thelmann war typisches
süßes Mädel, Lina Lossen große Dame, die an ihrer Tugend
leidet, Margarete Christians Ballettkätzchen, treuherzig,
sentimental, gefräßig in drolligem Durcheinander, Marga¬
rete v. Bukovics flatterhaft. Und die schöne Russin Ar¬
benina raste kosakisch durch Anatols Hochzeitsmorgen, Sträuße
Man sollte ihr endlich eine Rolle geben,
und Vasen demolierend.
in der sie ihre große Begabung harmonischer entfalten kann.
C. v. O.
Kunschronik.
Kammerspiele des Deutschen Theaters: Arthur Schnitz¬
sers Anatol“. Die Rotters haben den Versuch unternommen,
Gerhart Hauptmanns „Elga", das dunkellebige Traumstück
des Schlesiers, neu zu beleben. Frau Tilla Durieux mußte
ihnen dabei helfen, und das Spiel, das im „Trianon¬
Theater“ über die Szene ging, erlebte, wenn wir es noch so
nennen wollen, nur einen knapp bemessenen Achtungserfolg. Die
„Kammerspiele des Deutschen Theater" hatten im
Gegensatz zu diesem Unternehmen mehr Glück, als sie zum gestrigen
Freitag abend Arthur Schnitzlers melancholisch, lieberfüll¬
ten „Anatole-Zyklus wieder auf die Bühne stellten. Sie ver¬
trauten die Rolle des Jünglings Herrn Anton Ethofer an
der sich ihrer gut annahm, sie aber letzten Endes doch nicht ganz
ausschöpfte. Ein Rest blieb, zu tragen peinlich: ein kleiner Stich¬
ich kann es nicht anders nennen —, der ins Kinohafte führte und
damit dem garten Gebilde des Wiener Dichters etwas von der
Schmelz wahm, der über diese Szenen ausgebreitet liegt. Unter
der Regie des Russen Iwan Schmith, dieses tüchtigen
Mannes, gab man von den sieben Szene des „Anatol“, unter
Weglassung von „Denksteine“ und „Aconie", das fünf anderen
Stücke: Reizvoll „Die Frage an das Schicksal"; sehr empfindsam
verstehend „Weihnachtseinkäufe"; übermütig, jugendhaft berauscht
„Abschiedssoupeur: ein wenig mit Beigeschmack gemischt die „Evi¬
sode" mit dem kleinen Zirkusmädel Bianca und schließlich
„Anoto's Hoch=eitsmonen“, des Ende dieses Zuklus mit der drauf¬
gängerischen Ilona, die den Herzallerliebsten, der nun ins Bür¬
gerliche entgleitet, nicht frieden will. — Fünf kleine, sehr fein
beobachtete, seelenvoll zart eingestimmte Bier zu dem ewig jungen
und unausschöpfbaren Thema „Liebe". Man soll nicht gleich an
Schnitzlers „Reigen“ denken; denn der Dichter hat den Skandal
der sensationellen, kasseninstinktmäßig angelegten Berliner Auf¬
führung sicherlich nicht gewollt. Dazu ist er viel zu abwegig, zu¬
sein und zu absolut on die Ideen seiner Spiel: hingegeben, die er¬
der Arzt, psychologisch begründen kann. Man soll bei „Anatol
vor allem aber nicht vergessen, daß diese Szenen die Grundlage für
das schwermütige, bittersüße Lid „Liebelei" gewesen sind. In
diesem Zusammenhang sehen sich die Dinge ganz anders on: man
begreift den Dichter, sein Wollen, sein Können, seine Liebe zur
Sache.
Die Tatsache, daß man nun in den Kammerspielen, nachdem
der Abend erfrischend entzückte, diese Schnitzlerschen Szenen spielen
wird, muß festgehalten werden. Was hier an wienerisch lächelnder
Melancholie gegeben wird, ist unvergleichlich wertvoller als all das
andere, was man uns mit dem Thema Liebe zum Beispiel von
französischer Seite immer wieder und noch in den letzten Tagen
vorsetzte. Gewiß, auch in Schnitzer ist neben dem Wienerischen
das Prickende des französischen Esprits, was die Franzosen aber
nicht haben, ist die uns, die wienerische Innigkeit dieses Dich¬
ters, der mit dem einen Auge lacht, während ihm aus dem anderen
die Tränen der Rührung fallen. Es scheint mir müßig zu sein,
die Frage zu stellen, ob dieser Jüngling Anatol in den Jahren, da
wir ihn nicht saken, jung blieben ist? Er war der alte, derselbe
Falter von damals, der die Blüten auf der Frühlingswiese seines
Lebens küßt und das für seinen Selbstzweck hat. Man kann wohl
sagen, daß dieser Anatol kein Manntypus ist, wie wir ihn jetzt
etwa für unsere Zeit benötigen, wohl aber, daß er der liebe Junge
ab, als den wir ihn damals kennen lernten. Ihn verurteilen,
hieße auch Lüge am eigenen Ich begehen, hieße sich unwahrhaftig
vor die Brust schlagen und das Seiende als nichtseiend zu erklären.
Um die Aufführung der Kammerspiele machten sich neben
Anton Edhofer Hermann Thimie und in den Mädchenrollen
Erika von Thellmann (Coca), Lina Lossen (eine wunder¬
bare Frau Gabriele), Margarete Christians seine herz¬
erfrischende Annie), Margarete von Bukowicz (Bianca und
Stelle Arbenina (als rassige Ilona) verdient. Es gab schöne,
wohlgelungene Bühnenbilder, einen harmonischen Ablauf der
Szenen und demeureusen eine Anteilnahme des Publikums, die
bewies, daß ihnen die lächelnde Grazie der Spiele Freude bereitet
W. C. G.
hatte.