II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 463

4.9. Anatol - Zyklus
„Anatol.
Von Arthur Schnitzer.
Kammerspiele.
Arthur Schnitzlers Früh= und Erstlingsbräuchen vom Liebeln des
braven Jünglings Anatol — schier dreißig Jahre sind sie alt — sahen
am Freitag abend in den Kammerspielen ein bißchen schwindsüchtig
drein. Versunkene Glocken. Krieg und Revolution haben tiefe Klüfte
aufgerissen zwischen den Wiener Literaturidealen von 1890 und den
Zielen und Idealen, die man heute bei den so arg veränderten Um¬
ständen für unsere Dichter wohl gern aufstellen möchte — eigentlich
aufstellen müßte. Die Kinder von Anatols Geist, seine Drächen und
Dänichen, sind heute jedenfalls die allerüberflüssigsten Einwohner
Deutschlands, und ihre Freuden und Leiden brauchten uns am wenig
sten zu kümmern und zu interessieren.
über den Abend ist gar zu wenig zu sagen. Erika v. Thellmann,
Margarete Christians, Margarete v. Bucovics, Stelle Arbenina spielten
vier Variationen des kleinen süßen Mädels, wie sie im Reigen von
51—101 durch die bewegliche Seele Anatols hingleiten. Jede be¬
eiferte sich, ein anderes neues Gesicht ein zu zeigen und eine Toilette
aus Beckers Wiener Modehaus zu mannequinieren. Und Lina Lossen
spielte sogar die Dame, neidisch auf solches Glück. Man fühlte sich
immer wieder als Begnadigter, Lina Lossen auf der Bühne zu sehen;
viel zu selten, ach zu selten wird's einem zuteil, und ein seelischer
Ton zitterte selbst an diesem Abend durch das Haus.
Anton Edthofer muß den Anatol aus den grauen Monotonien noch
ein bißchen herausbringen und neben dem nainen harmlosen Jüng¬
ling auch den gewaltigen Herzensbrecher und Bonvivant ein wenig
herauskehren. Würdig und gespaßig sah Hermann Thimig mit
goldener Brille als Mentor Schnitzlerscher Lebenskunst drein.
Julius Karl
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„Anatol.
Neuenstudierung in den Kammerspielen.
in Arthur Schnitzer=Abend — nicht
weniger als fünf Einakter des „Reigen=Dich
te alle auf, den gleichen Ton gestimmt, nach
den Namen des „Helden" „Anatol“ genannt.
Einer dieser Einakter betitelt sich „Episode-
sie könnten alle so heißen, denn sie behandeln alle
nur Episoden aus dem Leben des vielgeliebten
Anatols. Besonderen Reiz bekam die Ausfüh¬
rung dadurch, daß man in jedem Stückchen auch
immer ein neues, weibliches Wesen zu sehen be¬
kam — so wie es einst im Leben dieses Mannes
wirklich gewesen sein konnte.
In der „Frage an das Schicksal
spielte Erika von Thellmann die süße Coco,
die hypnotisiert wird und in der Hypnose (in der sie
sogar ihr wirkliches Alter gesteht) verraten soll,
ob sie Anatol immer treu gewesen sei, seitdem
sie ihn liebt. Doch — er wagt die Frage nicht
an sie zu richten, will weiter an sie glauben. In
den „Weihnachtseinkäufen", dem zwei¬
ten Einakter, gab Lina Lossen die elegante
Dame, die ebenso lieben könnte, wie das Vor¬
stadtmädel, doch nicht den Mut dazu gefunden
habe“ — wie sie sagt. Hier waren ein paar
schöne Akkorde angeschlagen worden — man be¬
dauerte es, daß die Melodie nicht weiterklana.
der Vorhang so bald fiel. Im sattsam bekannten
„Abschiedssouper war es Margarethe
Christians, die den dritten Mädchentypus
zeichnete, das übermütige, lustige Ballettmädel
Annie. In der „Episode", einem Liebes¬
idyll, das nur zwei Stunden gedauert, gab Mar¬
garethe von Bukovics die reisende Schau¬
spielerin, die beim Wiedersehen mit Anatol keine
Ahnung mehr von seiner Existenz hatte, ihn mit
einem Herrn aus Petersburg verwechselte, obwohl
er in dem Glauben gelebt hatte, daß er ihr für
immer unvergeßlich sein müsse. Und endlich in
„Anatols Hochzeitsmorgen" tobte sich
Stella Arbenina als leidenschaftlich¬
rassige Geliebte aus, die nur durch das Da¬
zwischentreten des Freundes Max so weit ge¬
bändigt werden konnte, daß Anatol im letzten
Augenblick zu seiner Hochzeit entfliehen konnte.
Diesen Freund Max, der auch in den meisten
andern Stücken auftrat, gab Hermann Thimig
mit Humor und Verständnis für jegliche Si¬
tuation. Verwunderlich nur, daß er der Freund
dieses Anatol sein konnte, dieses Menschen, der
jedem andern männlichen Wesen mit seinen
ewigen Weibergeschichten auf die Nerven gefallen
wäre. Anton Edhofer gab ihn, wie es das
Stück verlangte, begeistert, blasiert, sentiment,
erbost oder komisch.
So hatte der Abend einen guten Klang, und
das für solche Liebeleien noch interessierte Publi¬
E. Gr.
kum amüsierte sich köstlich.