II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 493

4.9. Anatol
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Zyklus
— 12
Wien, Donnerstag
turen geblieben: es ist zwar noch immer eine Stadt mit zwei
Millionen Einwohnern und doch nur mehr mit einer ver¬
schwindend kleinen Anzahl von Wienern. Aber Anatol selbst
ist noch lebendig; mag sein, daß der Typus als solcher sorgen¬
verufs= und bedenkenloser Genießer, mag sein, daß dieser Typu¬
in der heutigen Zeit nicht mehr existieren könnte: der Mensch
Anatol ist — wie jedes echte Kunstwerk — noch immer Gegen¬
wart, noch immer Fleisch und Blut; besonders wenn Waldau
diesen Anatol spielt. Es ist das ein schmeichelnder Reiz, eine
entzückend beschränkte, ein bißchen frivole, ein bißchen weh¬
mütige Liebenswürdigkeit, von der man wie von einer
betörend leichten und leichtsinnigen Musik umfangen wird
Waldaus noble Anmut ist wie die Grazie des alten Wien
selbst, diese Grazie, die einen zuweilen vergessen machen konnte,
daß der Charakter dieser Stadt oft nichts war als ein¬
bequeme, verbindliche und für wohlhabende Leute äußerst
gemütliche Charakterlosigkeit. Waldau zunächst kommt Fräulein
Geßner, die Annie im „Abschiedssouper, durch und durch
echt, unbändig komisch in ihrer bodenständigen Urwüchsigkeit
und erfrischend ordinären Natürlichkeit. Wo Natürlichkeit nur
„gemacht wird, wie von Fräulein Fein, in „Episode" wirk¬
sie als Unnatur. Auch Frau Terwin trägt die Ilona in
„Anatols Hochzeitsmorgen" wie ein „auf Glanz" hergerichtetes
Kostüm aus dem älteren Wien. Den Max spielt der sonst so
interessante Herr Rainer mit einem mehr eingetrockneten als
trockenen Humor. Eine Fehlbesetzung. Ausgezeichnet Herr
Daghofer in einer Kellnerepisode, dann Frau Hagen in
„Weihnachseinkäufe. Die Regie führt diesmal Paul Kalbeck:
er sucht keine Effekte und findet die delikatesten Wirkungen.
y
Klavierspielerinnen. Sie treten bekanntlich in beruhigender
Anzahl auf, eine holde Spezies, die anscheinend auch bei weniger
günstigem Konjunkturwetter prächtig gedeiht. Maria Kogan
vertritt die heroische Spielart. Ihr Sinn ist aufs Große, Effekt¬
volle gerichtet. Dabei herrscht bemerkenswerte technische
Disziplin. Und wenn die musterhafte Ordnung, in welcher sich
der imposante Aufmarsch der Tonreihen vollzieht, einer
geradezu militärischen Eindruck hervorruft, so fehlt es ander¬
seits auch nicht an empfindsamen, zarten und anmutigen Zügen,
Vor allem aber will Maria Kogan lebensvolle Gestalterin sein.
Darum auch mag sie die Beethovenvariationen op. 35 über ein
Thema aus den „Geschöpfen des Prometheus gleichsam als
Motto an die Spitze ihres Programms gestellt haben, um zun
Ausdruck zu bringen, daß auch ein jedes der vorgetragenen
Konzertstücke ein Geschöpf prometheischen
Nachschaffens sein
soll. — Zdenka Ticharich ist die zeit= und stilbewußte
Exponentin modernen Musikempfindens. Demgemäß wendet
sich ihr Sinn wohl der altklassischen Kunst zu, weicht aber den
abgegrasten Weideplätzen landläufigen Virtuosentums in
weitem Bogen aus, um sich dann um so nachdrücklicher mit den
Ausdrucksproblemen unsrer Tage zu befassen. Sie begann mit ein
altitalienischen Klavierstücken, die in ihrem feinziselierten Vor¬ eine
trag entzückend klangen. Kostbare Miniaturen, von denen sie auch ein¬
der scheinbarsten in Zeichnung und Kolorit, in der
Schattierung und der Modellierung etwas Apartes zu geben
szen
mußte. Die seelenvolle Künstlerin, die mit Priesterinnenernst
am Flügel sitzt, bringt schon in ihrer Erscheinung Strenge und den
Reinheit des Stils zum Ausdruck; und während ihre Augen
vero
wie suchend in die Ferne schauen, scheint ihre Seele im innigsten
Kontakt mit den verklungenen Musikfahrhunderten zu stehen.
Emmy Zopf begann wieder in Zeichen der Promethens¬
variationen von Beethoven, um an im gleichen Sinne fort¬
zusetzen und die romantischen Charaktergeschöpfe Chopinschen
hint
Dichtungen nachzubilden; den Reigen holder, sich wiegender, lichke
singender und schwärmender Geister der Des-Dur=Bereuse, die auf
streitbaren Temperamente der Moll=Etude oder die phan
Ken
tastischen Gestalten des B=Moll=Scherzos. Was natürlich nur
möglich ist, weil zwischen den natürlichen Talenten und der
bot
erworbenen Fähigkeiten ein so glücklicher Ausgleich besteht
weil sie so musikalisch empfindet und weil sie die Technik der
sich,
Geläufigkeit sowie die Kunst des Belichtens und Abblenden
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so geschickt beherrscht. Mit der Pianistin teilte sich die Künf
sympathische Konzertsängerin Hella Baum in die Pflichten
und Ehren eines „Vindobona=Abends". Fräulein Baum hat
eine hübsche, zierliche und geschmeidige Stimme, die wie ge¬


Reinhardtbühne.
Eine Reprise von Anatole erweckt na¬
turgemäß immer wehmütige Erinnerungen.
Allgemeiner und persönlicher Natur. Wie be
neidenswert jung und unbekümmert war ich
als ich Schnitzlers erster Biograph wurde und
seiner Einakterreihe mein hochweises Lob zu¬
teil werden ließ. Und doch! Die nüchterne,
hyperpraktische und trotzdem verkrachte Ge¬
genwart vermag den Zauber und den Duft
nicht zu zerstören, die über dieser Szenen¬
folge schweben. Die Behauptung, daß diese
„himmelblauen Reminiscenzen jetzt Moder¬
geruch ausströmen, ist falsch, grundfalsch,
Sind sie doch genau so lebendig wie einst.
bewiesen sie doch gerade, wie stark auch
in dieser alles eher als sympathischen Zeit
die Sehnsucht und das Verständnis für Schnitz¬
ter, seine Menschen, seine Gedanken, seine
Stimmungen sind. Man müßte nur den Mut
finden, offen einzubekennen, daß dem so ist
und daß die geistige Revolution, die bisher
der politischen nicht folgte, einen Schnitzler
nicht nur nicht von seinem Postament stür¬
zen, sondern ihm endlich das längst fällige
Denkmal setzen wird. Gespielt wurde, wie
immer bei Reinhardt, einwandfrei, Was Waldau
in der Titelrolle vielleicht an Jugendlichkeit
vermissen läßt, wiegt er überreichlich durch
sein geniales Können und seine bezwingende
Eigenart auf. Der Max war mit dem tüchtigen
Herrn Rainer fehlbesetzt. Warum verurteilt
man Herrn Sina, seit er bei Reinhardt en¬
gagiert ist, zum Spazierengehen oder zum
Grotesktanz im Variété? Die Damen Geßner,
Fein und Hagen trafen den Ton ihrer Auf¬
gaben meisterhaft. Frau Urban-Kneidinger ist

le
de
der
bildschön, Frau Moissi-Terwin sehr tempe¬
ckt
ramentvoll. Die selten aufgeführte „Episode
übte kräftige Wirkung. Es war ein Genuß,
gst,
ein echter Genuß, wieder einmal bei Schnitz¬
ler zu Gaste sein zu dürfen.
und
ne
und
Die Aufführung des „König Lear ge¬
staltete sich zu einer Meisterleistung der
Regie und der Inszenierung. Der Titelrolle
lich Klöpfer die ganze Gewalt seiner Lei¬
denschaft, die Eindringlichkeit seiner Geber¬
de, aber auch seine große und vollendete
lem
Technik, Hugo, Hans und Helene Thimig
hen
standen auf der Höhe ihrer Aufgaben, Maria
Fein bewährte sich als eine durchaus eigen¬
artige Regan, während Frau Hagen die herbe
und
Ruchlosigkeit der Generil so stark auftrug,
daß es beinahe parodistisch wirkte. Homola,
Fernau, Feldhammer und Rainer entledigten
sich einwandfrei ihrer Partien, Wundervoll
Waldau als Narr, der tiefste Eindruck des
Abends neben dem alten Thimig und der
köstlichen Episodenfigur Romanowskis.
A. S.
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