II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 492

sie ein paar der Herzen unteren Tonnen, wogegen die
— vielleicht — das volle Deit getilgt hätte. Man schloß also
ein Glücksgeschäft ab, führte „Madame Butterfly" mit Gama
Walska auf und lud die Musikkritik dazu ein. Das Publikum
lachte, zischte oder klatschte, und die Kritik stellte die Unmöglich¬
keit der Sängerin fest. Damit wäre die Angelegenheit erledigt
gewesen. Das Glücksgeschäft war mißlungen. Was eben in der
Natur solcher Geschäfte liegt, die nur der Kauf einer Hoff¬
nung sind.
Nun aber kommt Paul Stefan und macht für das Miß
39 lingen nicht diejenigen verantwortlich, die das Geschäft
abschlossen, sondern die Wiener Musikkritik. Ein bequemer
Ausweg. Wenn die Kritik ein notleidendes Institut monate,
ja jahrelang gehätschelt und geschont hat, ihm mit allen Mitteln
auf die Beine half, dann hat sich das Institut aus eigener
Kraft emporgearbeitet. Von der Kritik ist nicht weiter die Rede.
Hat ein Institut sich aber in eine schlechte Spekulation verrannt,
dann ist die Kritik schuld. Das alte Lied vom Sündenbock.
Paul Stefan beschuldigt die ganze Wiener Kritik, den Fall
Walska mißverstanden und die Heilung der Volksoper ver¬
hindert zu haben. Sie hätte die Dame rühmen, die Falsch¬
sängerin preisen oder, von einer Kritik absehend, sich auf un¬
gezeichnete, konventionelle Notizen („Mit schönem Erfolg
gastierte Ganna Walska an der Volksoper") beschränken sollen.
Wenn es ein Irrtum war, eine mehr als unfähige, ja
lächerliche Sängerin abzulehnen, dann bekenne ich mit
Freuden, daß ich geirrt habe. Mit Freuden. Denn ich bin zur
Beurteilung künstlerischer Vorgänge bestellt und nicht von
Handelsgeschäften.
Es war aber ein Handelsgeschäft, ein Geschäft nach dem
Schema do ut des, und es bedeutete einen Fehler, zu dieser Vor¬
stellung, deren Qualität und Zweck man kannte, die Kritik
einzuladen.
Die Volksoper hätte ihren Zweck erreicht, wenn sie sich mit
Ganna Walska auf eine höhere Summe geeinigt und zu ihrem
Auftreten die Lokalberichterstatter geladen oder selbst Notizen
versendet hätte, was sie auch sonst tut. Aber die Kritik einladen
und dann verlangen, daß sie keine Kritik sei und nur kommer¬
zielle Instinkte entwickle, ist zuviel. Und lächerlich, diesen
klaren Tatbestand zu verdunkeln und eine mißlungene Opera¬
tion dem Dritten aufzuhalsen.
Ich mache niemand einen Vorwurf aus einem ganz
oder halb mißlungenen Geldgeschäft. Das ist schwer und heikel.
Aber wenn ich einen Ertrinkenden retten will, mache ich eine
Zille los und rufe nicht die Hochseeflotte herbei.
Man muß auch nachsichtig in der Beurteilung mensch¬
licher Torheiten, duldsam gegen Romantik der Nerven sein.
Will jemand monatelang in einem umbrischen Landstädtchen
den Spuren des heiligen Franziskus nachgehen, so soll er's tun
— er lädt sich dazu auch keine Kritik ein. Und will eine
Dame, der die Natur das Singen verwehrt, absolut singen,
so tue man ihr den Gefallen, lasse sich die Gefälligkeit gut be¬
zahlen, aber fordere nicht Kunstrichter auf, die Sache um¬
zulügen. Um drei Milliarden hätt' ich mir übrigens als Kunst¬
richter ein paar Gelsentöne und eine absolute Stimmunfähig¬
keit gefallen lassen. Aber um dreißig Millionen finde ich es zu
billig. Da bin ich sogar der bessere Geschäftsmann.
Endlich ist die Kritik nicht allein Diener verschiedener
Bühnen, sondern vor allem Diener des Publikums. Und das
Publikum, das am Abend vorher gelacht oder gezischt hat,
legt Wert darauf, daß es in seinem Empfinden nicht von denen
verraten und verkauft werde, denen es vertraut.
Die Volksoper hat um den — imaginären, leider ihr nicht
vorausbezahlten — Preis von drei Milliarden verlangt, daß
die Kritik ihr die Mauer mache. Und Paul Stefan glaubt,
daß niemand in Wien darüber geschaut und gelacht hätte. Er
wähnt, daß dann die Volksoper auf gesunde Basis gebracht
worden wäre. Ich halte ihm nur Ibsen vor, auf den er gewiß
hält: daß auf Unwahrheit niemals ein Wohlergehen be¬
ruhen, ein Glück gegründet werden kann.
Dr. Ernst Decsey.
Josefstädter Theater. Zum erstenmal „Anatol“ von
Artur Schnitzler. — Anatols Welt — diese Welt des
Wien vor dem Kriege — ist uns heute fremd und fast ungekannt
geworden. Von jenem Wien sind kaum mehr die äußeren Kon¬