II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 706

allen Gebieten. Aber auch die andern Darsteller wußten sich aus
Neid und Kleinlichkeit, aus Streit und Mißtrauen emporzu¬
ringen, und es bleibt bewunderungswürdig, daß sich die mensch¬
liche Seele trotzdem ausschwingen konnte, zu einer Höhe der
Kunst, wie gerade die Kriegsgefangenentheater sie erreicht
hatten. Von diesem Standpunkt aus gesehen, war das „Theater
hinter Stacheldraht eine segensreiche Wohltat zu nennen, da
es manchem Unglücklichen, der dem sicheren Elend und Siechtum
verfallen wäre, neues Leben und Hoffen gab, ihn vor dem
Untergang rettete.
Leutnants als Gretchen und Salome.
Aus der Größe der Schwierigkeiten, die sich der Theater¬
gründung entgegenstellten, wuchsen um so mehr Unter¬
nehmungsgeist und Erfinderkraft; die vielen bürgerlichen Be¬
rufe, die da in den Lagern vertreten waren, stellten ihre
Fähigkeiten und Geschicklichkeiten in den Dienst einer guten
Sache und wurden somit auch Bereiter der Wege, die aus dem
drohenden geistigen Tod führen sollten. Techniker, Ingenieure,
Maler, Kunsthistoriker sorgten für Dekorationen, Möbel und
Kostümentwürfe. Chemiker erzeugten Farben und Schminke,
Friseure, Tischler, Schneider und Schuster, sie alle fanden Be¬
schäftigung. Für die Darsteller selbst stand dem Regisseur eine
ganze Armee aller Altersklassen und Mundarten zur Ver¬
fügung. Und waren sie auch keine berufsmäßigen Schauspieler,
eine Voraussetzung brachten sie alle mit: Lust und Liebe, Fleiß
und Lernfreudigkeit, oft aber auch natürliche Begabung. Eine
schwer zu lösende Aufgabe war die Erziehungsarbeit bei den
Darstellern der weiblichen Rollen, die selbstverständlich auch
von den Kriegsgefangenen gespielt werden mußten, wozu sich
jedoch nur solche von entsprechender Jugend, Gestalt und
Stimmlage eigneten. Speziell auf diesem Gebiete konnten
durch sorgfältige, unablässige Arbeit verblüffende Resultate
erreicht werden. Ein blutjunger Leutnant als Margarete in
Schnitzlers „Literatur", ein andrer als Salome, in Bildern
gezeigt, ließen kaum Zweifel einer echten Darstellerin auf¬
kommen.
Zu den größten Schwierigkeiten gehörte im Anfang die Be¬
schaffung der Textbücher, die, aus russischen Volksbibliotheken
entlehnt, an der Hand von Wörterbüchern mühsam ins Deutsche
rückübersetzt werden mußten, wobei das Uebersetzerkollegium
oft Gefahr lief, von den russischen Wachtposten in recht unlieb¬
samer Weise überrascht zu werden. Schnitzler, Sudermann,
Hauptmann und viele andre wurden auf diese Weise übersetzt.
Indessen arbeiteten Ingenieure und Handwerker an dem
Bühnenbau. Es war auch dies kein leichtes Unternehmen,
denn es mangelte an allem. Materialnot zwang überdies oft
zu den originellsten Einfällen. Auf Sackleinwand oder aus
zusammengenähten Hemden und Taschentüchern ornamentierte
man aufgenähte Streifen zerschnittener Wolldecken, aus denen
dann der Vorhang entstand. Je nach den Platzverhältnissen
und der Gemütsbeschaffenheit eines russischen Lagerkomman¬
danten gab es für Theaterzwecke eine ganze Baracke, eine
Saalecke, oft aber nichts, und dann mußten eben die Kameraden
durch freiwilliges Zusammenrücken Platz schaffen, um Bühne,
Zuschauerraum und sonstige Räume zu ermöglichen. Sehr oft
aber kam all diesen Bestrebungen der theaterfreundliche Sinn
der Russen entgegen, so daß vielfach auch eigene Räumlichkeiten
zur Verfügung standen. So konnte man im Bilde einen ehe¬
maligen Pferdestall sehen, der nach umfangreichen Adap¬
tierungsarbeiten zu einem regelrechten Theater umgestaltet
wurde. Auch schwedische und dänische Hilfe haben hier Großes
geleistet.
Not macht erfinderisch.
Die große Not, die in allen Zweigen der Wirtschaft nach
dem Sturze der Zarenregierung äußerste Sparsamkeit gebot,
rief auch auf dem Gebiete des Theaters geniale Erfindungs¬
rabe auf den Plan, die gerade zu einer Zeit, als Sibiries
fast aller Rohstoffe entblößt war, die größten Triumphe feierte.
Es mußte alles aus dem Nichts hervorgezaubert werden.
Kulissen aus mehreren Lagen Zeitungspapier mit selbst er¬
zeugten Leimfarben übermalt, die sogar des Nachts bewacht
werden mußten, danit diese Bühnenkunst nicht etwa den
vielen Ratten zum Opfer falle, eine praktische Bühnen¬
beleuchtung, durch en kunstvolles System drehbarer Draht¬
zylinder, von einer Stelle aus das Licht dämpfen oder in
seiner ganzen Stäre wirken zu lassen, die vielen kleinen
Sorgen um Kostüme, Requisiten und sonstige Spieldetails,
sie alle wurden durch den einfallsreichen, erfinderischen Geist
eines jeden Mitarbeiters behoben. Für Chemiker, Techniker
und Konstrukteure war sogar die Mistablagerungsstätte eine
wertvolle Fundgrube geworden. Dort gab es verschieden¬
rochene Grammophonplatten, Rinde
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4.9. Anatol
Zyklus
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