II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 717

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4.9. Anatol - Zyklus
energisch verbeten; auf dem Weihnachtstisch lagen Loden¬
stoff aus der Sachdemobilisierung, Gebrauchsschuhe aus
dem Staatsamt, Kondensmilch, zwei Kilo Kaffee, zwei
Kilo Zucker, außerdem kam eine vom Land durch be¬
sondere Begünstigung bezogene Gans auf den Tisch.
Dazu genügt eine Summe von 8000 Kronen zu veran¬
schlagen.
Und nun naht Weihnachten des Jahres 1920 heran.
Anatol zerbricht sich den Kopf: es ist ausgeschlossen,
daß er nicht den Verhältnissen Rechnung trägt. Frau
Gabriele bekommt wieder ihre Blumen, natürlich, jetzt
eigentlich nur mehr aus alter Gewohnheit, er war im
Sommer bei ihr doch dreimal zu Mittag in St. Wolfgang
eingeladen und wenn schließlich auch alles längst vor¬
über ist, er will doch so tun, als ob. Mit seiner dies¬
maligen Kleinen hat er fabelhaftes Glück; sie heißt
Griselda, ist Disponentin in einem Bankgeschäft, hat sich
alle materiellen Geschenke verbeten, ist nur für die Kunst,
weil sie ein Monatsgehalt von 8000 Kronen bezieht und
an der Börse beispielsweise im November 42332 Kronen
verdiente. Außerdem macht sie Valutageschäfte.
Am 20. hatten Anatol und selbstvertändlich auch der
Hofrat noch nicht die geringste Kleinigkeit gekauft. Der
Preis einiger schädiger Blümerin, die natürlich für Anatol
nicht in Betracht kamen, erreichte den Kaufschilling eines
Ziergartens im Frieden Dem Hofrat kam der rettende
Gedanke: Ich glaube, du kaufst ein paar Bücher!
Er und die Rätin unternahmen einen Spaziergang durch
die Straßen; prüften, überlegten, rechneten.
Und Anatol kam durch einen Zufall in die Sezession,
stieß im Ver-Sacrum-Zimmer auf eine Ausstellung von
Büchern. Er sah da auf einmal beisammen, was er ja in
etlichen Stücken besaß, wovon er wußte, daß ein paar
deutsche Verleger schon eine solche Höhe erreicht hatten,
aber daß es neben Wiener wissenschaftlichen Verlags¬
publikationen ein österreichisches Buch, das ein wirk¬
licher und tadelloser Europäer gelten lassen kann, gibt,
— er gewahrte es eigentlich erst jetzt. Hier in dieser
Ausstellung Wiener Verleger ist dem Wiener Buche von
1920 ein Tempel errichtet, trotz aller Nöten der Zeit als
da sind Papiermangel, Höhe der Druck- und Bindekosten,
Materialknappheit, neuzeitliche Honorare zeigt sich nun
das Wiener Buch als Handelsprodukt auf vollendeter Höhe.
Diesen Eindruck hatten Anatol in der Ausstellung
und das hofrätliche Ehepaar anläßlich ihres Weihnachts¬
spazierganges. In der Seilergasse beim Graben sahen sie in
den Schaufenstern der Buchhandlung Perles die unver
gleichlichen, einfach restlos kostbaren Werke der Staats¬
druckerei und ihres Verlages, allen an Erlesenheit voran¬
schreitend, das Gustav Klimt-Werk von Max Eisler.
Der geschätzte, namentlich die Wiener Natur so glücklich
fühlende Kunsthistoriker hat damit dem verstorbenen
Großmeister der neuen Malerei Oesterreichs eine seiner
schöpferischen Bedeutung entsprechende Würdigung durch
eine Gesamtdarstellung seines Wirkens gegeben. Klimt
reicht heute schon weit über das Heimatliche hinaus ins
Allgemeine, greift in die Zusammenhänge europäischer
Kunstentwicklung. Einband, Buchschmuck, Format und
Schriftsatz wurden im Sinne Klimts gewählt; als Größe
wurde das für Klimt charakteristische Großquart bestimmt.
Den mit einem Klimtschen Zierstempel versehenen
Einband entwarf Professor Josef Hoffmann.
Hier liegt auch eine ganz neue Ausgabe sämtlicher
Werke Anzengrubers auf, veranstaltet in 15 Bänden
unter Mitwirkung von Karl Anzengruber, dem Sohne des
Dichters, geleitet von Dr. Rudolf Latzke und Dr. Otto
Rommel aus dem Kunstverlag Schroll. Sie ist eine muster¬
gültige und wirklich vollständige Gesamtausgabe, da auch
die im Nachlaß gefundenen, für Anzengruber charakte¬
ristischen Aphorismen über Gott und die Welt, die
ungedruckten Stücke „Die schauderliche Plunzen, Der
Reformtürk. — Die Libelles. — Der Sackpfeifer.
Der ewige Jud. Glacéhandschuh und Schurzfelle. —
Ein Geschworener in drei Bänden ans Licht treten.
Dr. Rommel bürgt für vortreffliche textkritische Arbeit;
der wissenschaftliche Apparat folgt am Schlusse jedes
Bandes. Literarisch kritische Einleitungen und eine
lebendig dargestellte Biographie vervollständigen den Inhalt.
Einmal nun gefesselt, begann auch Anatol jetzt einen
Bücher-Spaziergang. Vor dem Schaufenster und dann im
Laden der Buchhandlung Perles standen der elegante
Lebenskünstler und das sorgliche Elternpaar, von den