Der alte Schauspieler 
Genast erzählt vom »
Zerbrochenen Krug« in 
Weimar, am 2. März 1808: »
Bei der Aufführung dieses Stückes ereignete sich ein Vorfall, der in dem kleinen Weimarschen
                           Hoftheater noch nie dagewesen und als etwas Unerhörtes bezeichnet werden konnte: ein
                           herzoglicher Beamter hatte die Frechheit, das Stück auszupfeifen. Karl August, der
                           seinen Platz  auf dem sogenannten bürgerlichen Balkon hatte, bog sich über die Brüstung
                           heraus und rief: ›Wer ist der freche Mensch, der sich untersteht, in Gegenwart meiner
                           Gemahlin zu pfeifen? Husaren, nehmt den Kerl fest.‹ Dies geschah  und er wurde drei
                           Tage auf die Hauptwache gesetzt. Den anderen Tag soll Goethe gegen Riemer, der es
                           mir mitteilte, bemerkt haben: Der Mensch hat gar nicht so unrecht gehabt; ich wäre
                           auch dabei gewesen, wenn es der Anstand und meine Stellung erlaubt hätten. Des Anstandes
                           wegen hätte er eben warten sollen, bis er außerhalb des Zuschauerraumes war.« Man weiß auch sonst, daß 
Goethe in kein Verhältnis zu 
Kleist kommen konnte, an dem ihm »
die nordische Schärfe des Hypochonders und die Gewaltsamkeit der Motive« unerträglich war. »
Ich habe ein Recht,« hat er einmal gesagt, »Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt
                           und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der
                           Fall ist, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zum Grunde
                           liege; genug, er hält nicht, was er zugesagt. Sein Hypochonder ist gar zu arg; er
                           richtet ihn als Menschen und Dichter zugrunde. Sie wissen, welche Mühe und Proben
                           ich es mir kosten ließ, seinen ›Wasserkrug‹ aufs hiesige Theater zu bringen. Daß es
                           dennoch nicht glückte, lag einzig in dem Umstande, daß es dem übrigens geistreichen
                           und humoristischen Stoffe an einer rasch durchgeführten Handlung fehlt.« Und ähnlich ein anderes Mal zu 
Riemer, sich über die eigensinnigen und eigenwilligen Neuen von 
Kleists Art beklagend: »
Sie meinen, außer dem Rechten gäbe es noch ein Rechtes, ein anderes Rechtes, das hätten
                              sie. Wie wenn es außer dem Schwarzen in der Scheibe noch eins gäbe, und da schießen
                              sie denn ins Blaue.« Womit er übrigens nur das allgemeine Gefühl seines ganzen Kreises aussprach. So
                        schrieb Fräulein 
v. Knebel an ihren 
Bruder: »
Ein fürchterliches Lustspiel, was wir eben haben aufführen seh’n und was einen unverlöschbaren
                        unangenehmen Eindruck auf mich gemacht hat, und auf uns alle, ist der ›
Zerbrochene Krug‹ von Herrn 
von Kleist in 
Dresden, Mitarbeiter des charmanten ›
Phöbus‹. Wirklich hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich wäre, so was Langweiliges und
                        Abgeschmacktes hinzuschreiben. Die 
Princeß meint, daß die Herrens von 
Kleist gerechte Ansprüche auf den 
Lazarus-Orden hätten. Der moralische Aussatz ist doch auch ein böses Uebel.« 
Kleist gab das Mißgeschick selbst zu, als er in den »
Phöbus« ein Fragment aus dem Stücke setzen ließ, mit der resoluten Bemerkung: »Da dieses
                        kleine, vor mehreren Jahren zusammengesetzte Lustspiel eben jetzt auf der Bühne von
                        
Weimar verunglückt ist  .  .  . « Er konnte nur freilich nicht ahnen, daß es dabei bleiben sollte: indem sich das
                        Stück allmählich im stillen immer dankbarere Leser gewann, fuhr es im Theater bei
                        den Zuschauern zu »verunglücken« fort. Eigentlich bis heute. 
Laube erzählt in seinem 
Burgtheater: »
Noch in einer anderen komischen Richtung versuchte ich das Repertoire zu erweitern.
                           In der Richtung nach Norden, möchte ich sagen. Heinrich v. Kleists ›Zerbrochener Krug‹
                           gehört ganz zur nordischen Komik. – Heinrich v. Kleist stand lange auf der Senatorliste
                           unserer großen Poeten. Man meinte, es müsse alles dafür getan werden, dem Publikum
                           begreiflich zu machen, daß ihm einer der nächsten Sessel nach Schiller und Goethe
                           eingeräumt werde. Ich war selbst dieser Meinung und hatte vor, all seine Dramen in
                           Szene zu setzen. Zuerst brachte ich den ›Zerbrochenen Krug‹, der hier nie gegeben
                           worden; eigentlich ohne Erfolg. Er erschien zu nordisch, zu kalt, zu gedacht, zu abstrakt.
                           Mehr Komik für den Denker, als für den Zuschauer. Der Unterschied unserer deutschen
                           Landsmannschaften zeigt sich da sehr deutlich. Die märkische Landsmannschaft, zu welcher
                           Kleist gehörte, findet das Stückchen ihrem Geschmacke zusagend, sie folgt ihm mit
                           Behagen. Döring gibt auch den Dorfrichter Adam viel cynischer, schärfer und frecher
                           als La Roche, und die Döringsche Charakteristik entspricht dem märkischen Grundtone.
                           Die norddeutsche Komik steht eben der Kaustik viel näher, als die süddeutsche. Aber
                           auch im Norden mußte dieser durch die Romantiker berühmt gewordene ›Krug‹ gestrichen
                           werden bis auf die Knochen. Er ist viel zu breit für die Szene. Und dem Süddeutschen
                           ist ein Körper ohne Fleisch ein mißlich Ding.« In 
Wien hat er in der Tat eigentlich niemals gewirkt. Auch in 
München nicht, sogar bei 
Dingelstedts Mustervorstellungen von 1854 mit 
Döring kaum. Eigentlich also nur in 
Berlin, so lange 
Döring den Dorfrichter gab. Dann auch nicht mehr. Erst 
neulich noch, als er im 
Kleinen Theater wieder versagte, hat 
Siegfried Jacobsohn verzeichnet, es habe sich »
die über alle Begriffe herrliche Komödie seit Dörings Tode auf keiner Bühne behaupten
                           können«. Warum? Ein von allen bewundertes Stück, das überall durchfällt. Es muß doch einen
                        Grund haben. 
Laube spricht auch in seinem 
Stadttheater einmal über das Stück. Und da sagt er einen sehr merkwürdigen Satz: »
Selbst der ›Zerbrochene Krug‹, in der Schmidtschen Verkürzung von Döring meisterhaft
                           dargestellt in der Figur des Richter Adam, ist ganz selten geworden im Repertoire.
                           Anderswo hat er nie festen Fuß fassen können, weil man seine Komik, die Komik der
                           Voraussetzungen, zu spitz fand für die Bühne. Diese Komik bringt es mit sich, daß
                           man nachträglich lacht, im Theater aber will man auf der Stelle lachen.« Dies scheint mir das Wesen der 
Kleistschen Charakteristik zu enthalten, welcher sich der Zuschauer, auch im Tragischen,
                        immer erst nachher durch Reflexion bemächtigen kann, während es dramatisch ist, sie
                        uns unmittelbar aufzudrängen. Er braucht also Schauspieler, die dem Zuschauer sogleich
                        bringen, was ihm dieser Dichter immer erst am Ende, erst bei einer inneren Revision
                        zu Hause gibt, indem sie vorweg aus Eigenem spielen, was er erst zuletzt durch einen
                        langwierigen Prozeß als Resultat gewinnt. Wir haben im »
Krug« immer am Ende das Gefühl: würde er uns jetzt gleich noch einmal vorgespielt, so
                        könnten wir erst lachen. Er braucht also Schauspieler, die fähig sind, uns durch irgend
                        eine geheime Macht, was der Dichter versäumt, gleich schon vorempfinden zu lassen,
                        noch bevor es sich aus der Handlung ergibt, die so dramatisch ist als die Darstellung
                        ihrer Menschen undramatisch. 
Tieck muß dies schon gemerkt haben. Er sagt in den 
dramaturgischen Blättern einmal: »
Kleists Dramen geben dem Schauspieler große Veranlassung, seine Kunst zu zeigen, aber
                           zugleich gehört es zu den allerschwierigsten Aufgaben, sie befriedigend oder auch
                           nur so aufzuführen, daß die Absichten des Dichters nicht ganz verloren gehen. Alle
                           diese Charaktere müssen sehr scharf umrissen werden, das Kolorit ist grell und beides,
                           Umriß und Farbe, verschwindet zu Zeiten beinah wieder ganz, und dem Schauspieler ist
                           die Ergänzung, gewissermaßen die Schöpfung, unbedingt anvertraut.« Deutlicher ausgedrückt: man hat bei 
Kleists Gestalten immer das Gefühl, daß der Dichter ihren »Charakter« eben durch den dramatischen
                        Verlauf nur erst sucht; und wir müssen mit ihm suchen, und wenn er ihn endlich gefunden
                        hat, ist das Stück schon aus, es endet mit seiner Entdeckung. Bei 
Shakespeare auch, wird man vielleicht sagen. Ja, aber anders: 
Shakespeare deckt im letzten Akt auf, als jetzt für den Verstand bewiesen, was wir mit dem Gefühl
                        schon in der ersten Szene geheimnisvoll antizipiert haben. (Worin 
Shakespeare wie das Leben ist, unser Leben selbst, das auch nichts anderes mit uns tut.) Und
                        eben dies, was 
Shakespeare vor 
Kleist voraus hat, diese magische Macht, uns sogleich fühlen zu lassen, was uns die dramatische
                        Begebenheit dann erst an den Gestalten erkennen läßt, muß diesem, wenn er wirken soll,
                        der Schauspieler geben. Ich weiß freilich heute nur drei, welchen ich es für den »
Krug« zutrauen kann: 
Novelli, 
Kainz und 
Girardi.
 
                     Was ich am »
Grünen Kakadu« immer wieder bewundere, ist, daß er ganz unmittelbar auf uns und doch keinen Augenblick
                        als Kostüm wirkt. Sonst sagt man sich bei »historischen« Stücken entweder: Aha, er
                        meint uns, er hat uns nur verkleidet, aber wir sind’s, uns geht es an, unser Fall
                        wird verhandelt. (Bei 
Shakespeare, 
Goethe, 
Schiller immer.) Oder man weiß gleich, daß eine Vergangenheit gezeigt werden soll, mit Gedanken,
                        die wir nicht mehr denken, Gefühlen, die uns fremd geworden sind, Menschen, die wir
                        nicht mehr haben. 
Schnitzler trifft es wunderbar, beides zu verbinden: das »Echte« mit unserem neuen Gefühl. Niemals
                        empfinden wir das als »Kostüm«, wir sind sogleich in jene große Zeit entrückt. Wir
                        spüren: Diese waren anders, keiner ist heute so, unser Leben hat diese Form nicht
                        mehr. Und spüren doch ihre Leidenschaft als unsere und spüren zugleich fast einen
                        geheimen Wunsch, ihre Vergangenheit zu unserer Zukunft zu machen. Es ist Geschichte,
                        ja, aber lebendige, aus der noch Funken in unsere Wünsche springen.
 
                     Herr 
Höfer, dieser so kluge, so geschickte, nur nicht drastische Künstler, gibt den 
Adam sehr fein, ohne ihm freilich jene positive Komik zuzuschießen. Lustig ist die 
Marthe der Frau 
Thaller, von angenehmer Frische der 
Ruprecht des Herrn 
Birron und in die ganze Vorstellung bringt Herr 
Vallentin, der neue Regisseur, ein Tempo und einen Zug, die man sonst in diesem Theater nicht
                        kannte. Man spürt seine starke Hand auch im »
Kakadu«, der, von den Damen 
Lißl und 
Ritscher, den Herren 
Kramer, 
Jensen und 
Birron vortrefflich dargestellt, das Publikum in einen Taumel und Tumult riß, wie man hier
                        lange, lange, keinen vernommen hat. 
                        
Hermann Bahr.