Lieber Arthur! 
                     1889 in 
Paris, als ich eben über den Winter nach 
Spanien und 
Marokko ging, erhielt ich einen 
Brief mit der erstaunlichen Nachricht, auch 
Wien fange jetzt von neuem zu dichten an, wenn auch zunächst nur in 
Brünn. Und die Beredsamkeit eines jungen 
Brünners hatte wirklich einen bisher unbescholtenen 
Buchdrucker so betörend verwirrt, daß richtig Neujahr 1890 das erste Heft der »
Modernen Dichtung« erschien, eine »Monatsschrift für Literatur und Kritik« verheißend, von 
E. M. Kafka herausgegeben, im Verlag von 
Rudolf M. Rohrer in 
Brünn: ein Ereignis für uns Jungen, denn schon das verpönte »Modern« im Titel kündigte
                        den Bruch mit dem geheiligten Brauch an, auch ein noch so sittsames, unärgerliches,
                        zimmerreines Talent, selbst wenn es von den Auguren schon beglaubigt war, erst mit
                        ergrauenden oder ausgefallenen Haaren einzulassen; es müsse dunsten, um schmackhaft
                        zu werden. Ungedünsteten hatte bisher nur 
Michael Georg Conrad Zuflucht geboten, in seiner »
Gesellschaft«, seit 1885: hier war nicht nur erlaubt, jung zu sein, es war geboten; und es wurde jetzt, in
                        
Kafkas »
Moderner Dichtung« hier und 
gleich darauf in 
Brahms »
Freier Bühne für modernes Leben« auch draußen, ein Programm, jung zu sein, dem wir die Treue hielten, so lang es
                        irgend ging. In dieser »
Modernen Dichtung« las ich zum erstenmal Deinen Namen. Zwar warst Du schon vorher in einem Blättchen, das glaube ich »
An der schönen blauen Donau« hieß, lyrisch aufgetaucht, aber erst jetzt zeigst Du Dein wahres Gesicht: 
Anatol erscheint, und in bester Gesellschaft; 
dasselbe Heft, das den »
Hochzeitsmorgen« bringt, enthält 
Gerhart Hauptmanns »
Apostel«, 
Liliencrons »
Gruß an ÖsterreichS. 424–425.« und Beiträge von 
Bölsche, 
Maria Herzfeld, 
Paul Ernst, der Baronin 
Suttner, 
Dörmann, 
Kitir, 
Josef Diner, 
Salten, 
Hermann Menkes und 
mir. Und das Jahr darauf gibst Du dem Blatt, das sich 
indessen umgetauft hat und jetzt »
Moderne Rundschau« nennt, nicht bloß die »
Denksteine«, nicht bloß ein schwärmerisches 
Gedicht, gewissermaßen einen Stoßseufzer darüber, daß Dir nichts Ordentliches einfällt, sondern,
                        
Arthur, 
Arthur, Du wirst es nicht glauben, aber Du kannst es nicht leugnen, es zeigt sich da schwarz
                        auf weiß, daß Du damals ehrlich bemüht und auf dem besten Wege warst, Dich zum richtigen
                        Feuilletonisten, und nicht etwa bloß von der großen Art, sondern auch von der andern,
                        umzufrisieren. Du schriebst damals eifrig Buchkritiken, und 
eine davon schließt mit dem Ausruf: »
Das Schauspiel ist, wie auf dem Titel bemerkt steht, den Bühnen gegenüber Manuskript.
                           Die Bühnen werden sich das nicht zweimal sagen lassen.« Ist das nicht schon ganz der Augenaufschlag des triumphierenden Plauderers, vor
                        dem die schöne Leserin in Wonne zerfließt? Und ich bewahre noch aus der Zeit, als
                        ich Redakteur der 
Deutschen Zeitung war, einen Brief von Dir mit der ganz ernsthaften, treuherzigen Versicherung: »
Schließlich werde ich doch wohl auch das Feuilletonschreiben lernen – vorläufig fehlt
                        mir noch manches dazu.« Ja, lieber 
Arthur, um ein Haar wärst Du vielleicht ein glänzender 
Causeur geworden, der Sonntagscauseur 
Wiens, wie Du doch auch um ein Haar Dein 
Alexander Weihgast hättest werden können. Und gerade diese paar Haare, um die Du dies und noch mancherlei,
                        was in Deinem Horoskop stand, nicht geworden bist, haben Dich mir von Jahr zu Jahr
                        immer lieber und werter gemacht!
 
                     Wir lernten uns 1891 kennen. Ich war in 
Wien gelandet, in meinen jungen Ruhm gehüllt, in 
Berlin zum »Kritiker der Moderne« ernannt, hochmütig, übermutig, unmutig, ein selber ganz
                        ratloser Führer, durch die Welt wurstelnd. Du warst ein junger Arzt ohne Patienten,
                        auf die Dein Wartezimmer (in der 
Giselastraße, wenn ich mich recht erinnere) sichtlich auch gar nicht wartete, sondern auf 
Froufrou von Frauen: es ergab schließlich den ersten Akt der »
Liebelei«, damit hat es sich gerechtfertigt. Im »
Einsamen Weg« heißt es: »
Wir bringen einander die Stichworte so geschickt – es gibt pathetische Leute, die
                              solche Beziehungen Freundschaft nennen.« Pathetisch sind wir nun eigentlich beide nie gewesen, immerhin duzten wir uns bald,
                        sahen uns oft und wetteiferten in Stirnlocken: Du mit einer blonden, die sich elegischer
                        gab, ich mit einer braunen, südlich wehenden. Die Leute konnten sich nicht einigen,
                        wer von uns mehr posierte, und ich darf annehmen, daß ich Dir damals nicht weniger
                        unausstehlich war als Du mir. Du warst mir unausstehlich vor allem durch dein unwiderstehliches
                        Talent. Nicht als ob es mich neidisch gemacht hätte; Neid lag niemals im Bereich meiner
                        Möglichkeiten. Nein, ich bewunderte Dein Talent und mißgönnte Dir’s nicht, aber ich
                        hätte Deinem Talent gern einen anderen Menschen gegönnt, ich hätt ihm einen anderen
                        Kerl gewünscht. Dieses Wort drückt genau das aus, was mir damals an Dir fehlte: Du
                        warst mir nicht der Kerl zu Deinem Talent, Du warst überhaupt kein Kerl und ich glaubte
                        zuweilen Deinem Talent immer wieder anzuhören, wie tief es sich insgeheim nach einem
                        Kerl dazu sehnte: der stärkste Reiz Deiner Dichtung, auch im Scherz, selbst im Spotte
                        noch, ihr Hauch einer unendlichen Melancholie, schien mir durch diese quälende Sehnsucht
                        erklärt. Und da dies, was ich hier niederschreibe, ja nur den einen Sinn haben kann,
                        daß einmal Jemand, der Dich seit dreißig Jahren kennt, Dein ganzes Werk sozusagen
                        persönlich miterlebt hat, es schätzt, und Dich, so sehr er sich zuweilen dagegen gewehrt
                        hat, jetzt schließlich, besonders seit wir uns so selten sehen, liebt (entschuldige
                        das Wort, das auch ich nicht mag, aber was ich für Dich empfinde, hat nun einmal im
                        Deutschen diesen Namen!), daß Dir der rücksichtslos aufrichtig sagt, was er in Dir
                        erkannt zu haben meint, so wirst Du mir auch verzeihen, wenn ich ausspreche, daß für
                        mich Dein ganzes Werk im Wesenlosen liegt, daß ich aus ihm nur immer wieder dieselbe
                        rührende, ja, wenn es scherzen will, erschütternde Klage höre, nicht nach einem verlorenen
                        Paradies, sondern darüber, gar kein Paradies zu verlieren gehabt zu haben, daß Deine
                        Gestalten nicht Entwurzelte sind, sondern wurzellos von vorneherein. Vor hundert Jahren
                        haben Romantiker den letzten Versuch eines lebendigen 
Österreichs gewagt. Er wurde mit Recht Restauration genannt: Herstellung von etwas, das es nicht
                        mehr gab, schon seit dem Barock nicht mehr. Und alle Dichtung in 
Österreich, wie sie sich auch immer geberden mochte, blieb fortan romantisch: in welcher Zeit
                        immer sie spielen mag und auch wenn sie Gegenwart fingiert, sie lebt vom Gewesenen.
                        Du warst der Erste, Du bist der Einzige geblieben, der wirklich nach der Gegenwart
                        zu greifen versucht hat. Es gelang Dir. Und wenn Dir davon nichts als Schein in Deiner
                        Hand blieb, lag nicht an Deinem Griff die Schuld, sondern an dieser Gegenwart, die
                        keine war, sondern nur eine Fiktion. Und noch dazu eine von ganz besonderer Art. Man
                        kann nämlich eine Vergangenheit fingieren, diese kehrt dadurch nicht wieder, aber
                        es entsteht ein Nachbild davon, das immerhin eine gewisse Realität ansprechen mag,
                        wenn auch eine gefälschte. So mag man auch kraft der Phantasie sich eine Zukunft fingieren
                        können und wenn nur die Phantasie stark genug ist, eben durch den phantastischen Drang
                        auf dieses lockende Bild hin sich selber belebt fühlen (ich, zum Beispiel, habe davon
                        die Kosten meines ganzen inneren Daseins bestritten; bisher gings). Aber wenn es an
                        Gegenwart fehlt, sich eben aus ihr, die fehlt, fingieren zu wollen, was fehlt, das
                        scheint ein seltsamer Einfall, zu dem viel Selbstvertrauen gehört. Er ist übrigens
                        nicht von Dir. Du bist nur der Vollender und hast Dich Deiner Anfänger nicht zu schämen. 
Laube war der erste. Wissend, daß zum Theater, wenn man es hohen Sinnes nimmt, Dichter
                        und Schauspieler nicht ausreichen, so lange sich ihnen nicht ein Publikum gesellt,
                        das, ihre Wirkungen auffangend nicht blos, sondern auch erwiedernd, mit zum Spiel
                        gehört, da sich an ihm erst das Wunder der Allverwandlung beglaubigt, war er unangenehm
                        überrascht, sich eingestehen zu müssen, daß in 
Wien zurzeit, als er das 
Burgtheater übernahm, die Voraussetzung eines wirklichen Publikums fehlte: eine Gesellschaft.
                        Es gab eigentlich die alte 
Wiener Gesellschaft nicht mehr und es gab noch kaum Spuren einer neuen. Es gehört zu den
                        stärksten Leistungen 
Laubes, daß er sich eine schuf, oder doch jedenfalls so viel von ihr, als nun einmal zum
                        richtigen Theaterspielen unentbehrlich ist. 
Wien hatte kein wirkliches Bürgertum, stark genug, als die höfische zerging, eine Gesellschaft
                        nach den westlichen Mustern zu bilden. 
Laube holte sich nun aus der fließenden Schicht von Doktoren, Beamten und was sonst noch
                        etwa sich zu den »Gebildeten« hielt, einen Ersatz dafür. ln seinem 
Burgtheater drehte sich das natürliche Verhältnis des Schauspiels zur Gesellschaft um: hier ward
                        nicht mehr von der Bühne die Gesellschaft abgespiegelt, sondern Du wirst Dich erinnern,
                        daß noch weit über 
Laube hinaus, noch bis in unsere Jugend hinein, alles was jener Zeit sich 
Wiener Gesellschaft hieß, selber blos ein Spiegelbild des 
Burgtheaters war; Du selbst hast noch von 
Sonnenthal und 
Hartmann gelernt, wie der Mann von Welt in einen Salon tritt, den Schmerz, sich seiner tiefen
                        inneren Einsamkeit auf einen Augenblick entreißen zu müssen, in ein lässiges Lächeln
                        hüllend. Aber wenn Dein erster Ahn das 
Burgtheater Laubes war, der zweite war die 
Ringstraße, dieses Unicum in der Baugeschichte: denn hier wurde der äußere Schauplatz für eine
                        Gesellschaft errichtet, die noch gar nicht da war, die dann, um ihn zu füllen, sozusagen
                        über Nacht geschwind erst improvisiert werden mußte. Du hast Dir sicherlich als Gymnasiast
                        den 
Makartfestzug angesehen: das war die große öffentliche Generalprobe des neuen 
Wien, da ritt es nun in Fleisch und Blut einher, woher mag es nur eigentlich das frische
                        rote Blut gesogen haben?
 
                     Und genau zwölf Jahre später aber gingen nun wir zwei zuweilen in Mondnächten über
                        diesen in unserer Kindheit auf Befehl von oben aus Nichts improvisierten 
Ring und unsere Herzen schlugen vor seliger Empfindung seiner Schönheit! Erinnerst Dich
                        noch, wie wir damals, immer unseren heimlichen Ernst in Selbstironie verkleidend,
                        einst den 
Ring kindisch unter uns verteilten, das eine Stückl sollte dem 
Richard Beer-Hofmann, das andere dem 
Hugo, der damals, bis er die Matura hinter sich hätte, noch 
Loris hieß, das dritte Dir gehören und jeder feierlich geloben, auf keinen Fall ein Stückl
                        der anderen zu bedichten, erinnerst Dich? Als mich vor ein paar Jahren mein Schicksal,
                        das sich zuweilen in solchen Späßen gefällt, plötzlich ins 
Burgtheater verschlug, fiel mir in meinem Kammerl dort mit dem Blick aufs 
Rathaus eines Tages das verklungene Glück jener Jugendnächte wieder ein und nun ging mir
                        erst auf, welches Wunder uns damals eigentlich geschehen war: dieser 
Ring, aus Nichts entstanden, auf einen äußeren Anlaß hin, ohne jeden inneren, aus Luft
                        in die Luft gebaut, nicht blos ungeschichtlich, sondern auch ganz unlebendig, weder
                        Ausdruck einer Vergangenheit noch einer Gegenwart, nichts als ein improvisierter Maskenscherz,
                        hat mit seiner Wesenlosigkeit über unsere schönste Jugendzeit die Macht einer beseligenden
                        Wirklichkeit gehabt! Ja wie denn? Kann denn das sein? Kann ein Nichts schwanger werden?
                        Aber eben dies war ja das Paradox der ganzen Epoche 
Franz Josefs: ein schöpferisches Nichts zu sein! 
Österreich, das wirkliche, war weg und diese Unwirklichkeit trug die schönsten Früchte: sie
                        trug uns.
 
                     Schau Dir nur einmal Deinen 
Anatol, meinen Freund, an! Bist das Du? Nein, er fälscht Dich. Er kopiert 
Hartmann, gibt sich ein Air alten 
Burgtheaters, schielt aber auch nach der 
Comédie française, hat schrecklich viel 
Franzosen gelesen, aber beim 
Leidinger, und will nun auf einmal noch Dir ähnlich sehen. Sei nicht bös: er ist Papier. Aber was geschah? Dieser 
Anatol, der eben noch Papier war, lief dann auf einmal höchst lebendig in allen Gassen herum:
                        nach ein paar Jahren war jeder bessere junge Herr zum 
Anatol, aus Druckerschwärze war auf einmal rotes Blut geworden. Soll man nun sagen: Du hast
                        ein profetisches Gemüt, Du hast mit dem 
Anatol eine Vision der Zukunft gehabt? Oder soll man sagen: Du hast seiner Gestalt einen
                        so starken Atem eingegeben, daß sich das Leben selber von ihr zwingen ließ, sie zu
                        kopieren, Dich zu kopieren? Ich denke: der 
Anatol ist fast etwas Symbolisches für uns alle, dadurch, daß in ihm aus lauter Unwirklichkeiten
                        auf einmal Wirklichkeit geworden ist. Er gab uns damit ein Beispiel der einzigen Art
                        von Existenz, die für uns noch möglich war: einer Existenz nicht aus sich heraus,
                        sondern auf etwas los. 
Österreich war schon seit hundert Jahren vorbei, es ist mit 
Karl VI. begraben worden; das 
Metternichs war nur noch der letzte Versuch einer grandiosen Erinnerung. Nichts blieb zurück,
                        aus dem man noch hätte leben können. So sieht sich seitdem jeder 
Österreicher unablässig angstvoll nach etwas um, auf das hin er leben könnte. Keiner hat Wurzeln,
                        jeder greift ins Leere, er möchte sich an etwas hängen können, und wärs auch nur,
                        um sich wenigstens aufzuhängen. Du hast ihnen manchen Strick zugeworfen! Aber vom
                        
Anatol zum 
Schleier der Beatrice, von der 
Liebelei zum 
weiten Land, vom 
Reigen zum 
jungen Medardus, welch ein Weg! Und daß es immer der 
einsame Weg war, den Du nahmst, und daß er Dir immer wieder ein 
Weg ins Freie wurde, daß Du Dich auf keinem Deiner Erfolge jemals beruhigt niedergelassen, das
                        hat mir immer von neuem wieder Bewunderung abgerungen! Talent hat bald einer, das
                        ist leicht, Du aber hast gewußt, daß Talent nur so viel wert ist, als man es sich
                        schwer werden läßt. Talent ist immer eine Schuld. Ich, der Deiner Arbeit seit zweiunddreißig
                        Jahren zusieht, a little more than kin and less than kind, wie unser Vetter 
Hamlet sagt, kann bestätigen, daß Du sie redlich bezahlt hast.
 
                     In meiner grünsten Jugend sprach ich einst öffentlich den Wunsch aus, Jedermann sollte
                        an seinem dreißigsten Geburtstag erschlagen werden, nachher sei man doch nichts mehr
                        nutz. Indessen war dann auf einmal mein vierzigster über mir. Du kanntest meine Verzweiflung
                        und zum Trost schriebst Du mir damals auf ein Bild: »
Erinner Dich, wie oft Du schon alt gewesen bist, und freu Dich, wie oft Du noch wieder
                        jung sein wirst!« 
Arthur, heute kann ich Dich bestimmt versichern: so ganz richtig jung werden wir zwei gewiß
                        erst mit siebzig! Aber könnten wir uns nicht vielleicht doch schon vorher einmal Wiedersehen?
                        Dies wünscht sich und Dir von Herzen Dein, wie Du siehst, unverbesserlicher 
                        
Hermann Bahr.