[Julius Stern]: Aus der Theaterwelt. [Hermann Bahr als Fünfziger], 20. 4. 1913

Aus der Theaterwelt.
(Hermann Bahr als Fünfziger. – Warum er auf das deutsche Volk böse ist. – Bahr über sein Stück »Das Konzert«. – Seine Tagebücher. – Ein Ober-St. Veiter Gespräch mit Alfred v. Berger)
Hermann Bahr wird in diesem Jahre seinen fünfzigsten Geburtstag feiern. Die reichsdeutsche Presse hat bereits begonnen, ihn zu feiern, obgleich eigentlich nach dem Kalender noch Zeit dazu wäre. Erst kürzlich erschauten wir in einer großen Berliner Zeitung ein ganzseitiges Bahr-Porträt in prächtiger Ausführung. Unser Linzer Landsmann sah da aus wie ein moderner Jupiter. Stirne, Mähne, der ganze Schädel – alles groß und mächtig; nur die Augen schauten nicht mit jener Ruhe, aus der ambrosische Weisheit strahlt. Sie blitzten Klugheit, sie sprühten Geist, den Geist neuer Zeit. Und das ist wahrlich auch etwas. Hermann Bahr hat vor allem darnach gestrebt, seiner Zeit etwas zu sein. Ob er nun Führer war, ob sie ihn führte – man hat nie gemerkt, daß er sich ihr unterordne – stets stand er obenan. In der bildenden Kunst, im Theater, immer führte er das Wort für eine Sache, die zu erstreiten war, und immer tat er es mit Geist, mit einer graziösen Kunst, die den Oesterreicher von der charmantesten Seite hervortreten ließ. Natürlich konnte er auch anders kommen, stärker und wuchtiger, wenn es sich um Dinge handelte, ihm so recht am Herzen lagen. So zum Beispiel bei der Frage des »Parsifal«-Schutzes. Sie ist eigentlich gegen ihn und seine Gesinnungsgenossen entschieden worden, trotz der imponierenden Agitation, die da entfaltet worden ist, trotz der geradezu glänzenden Vorträge, die Hermann Bahr auf einer Reise durch die großen deutschen Städte Abend für Abend hielt und die gerade in den besten, schlagkräftigsten Stellen gewöhnlich improvisiert waren. Denn unter den vielen Talenten, die diesem merkwürdigen Mann in die Wiege gelegt wurden, spielt seine Rednergabe keine geringe Rolle. Welche Anmut, welch feine Pointierungskunst! Welch unmerklich spielende Kraft in der Steigerung vom Plauderton bis zur Ekstase der Entrüstung, die da mit Gewalt einer Windsbraut aufsteigt, um sich allgemach zu mildern, und statt gegen Felsen anzustürmen und Rieseneichen, deren Wurzeln Jahrhunderte lang das Erdreich umklammern, mit einem Stückchen Papier zu spielen, es in die Höhe zu jagen, im Wirbel auf und ab zu treiben und im Sonnenlicht glänzen zu lassen, ein Spiel, dem nicht nur Kinder gerne zusehen. Aber alle Mühe hat nichts genützt, speziell in der Frage des »Parsifal«-Schutzes.
Und deshalb ist Bahr gerade in seinem fünfzigsten Jahre auf das deutsche Volk »böse«, vielleicht in dem Maße, wie er es seinerzeit auf Wien war, seine zweite Vaterstadt. Am Ende ist er es noch immer, denn seine schöne Villa in Ober-St. Veit steht verwaist da und der Hausherr wohnt in Salzburg, wo es gewiß wunderschön ist, ein bischen herrlicher als am Fuße der Wiener Einsiedelei – wo es aber doch an den vielen Anregungen fehlt, die das Stürmen und Drängen in früherer Zeit um keinen Preis der Welt vernichtet hätte. Allerdings – bescheiden in seinen Bedürfnissen ist Bahr seit jeher gewesen. Und er ist es geblieben, auch als ihm seine schriftstellerischen Arbeiten reichen materiellen Erfolg brachten. Die Villa hat er sich eigentlich mehr aus Freude an einem architektonischen Versuch und – für seine Bücher bauen lassen. Aber er selbst blieb darin der einfache Mann, dem die liebste Mahlzeit ein Schinken ist, ein Glas Bier mit folgender Virginier à 11 Heller und – ein gutes Buch.
Es ist ein Weg unermüdlicher Arbeit, reicher Erfolge, aber auch bitterer Enttäuschungen, den der dramatische Dichter Bahr in den Jahrzehnten seit 1886 zurückgelegt hat. Wie viele wären an den Mißerfolgen zugrunde gegangen, die dieser Schriftsteller von sich abgeschüttelt hat, wie den Schnee nach einem ein bißchen frostigen Winterspaziergang. Wer denkt nicht an die ausgewachsenen Wiener Theaterskandale, die den Jugendstücken Bahrs beschieden waren. Und doch hat er sich schließlich durchgesetzt. Wenn auch nicht mit literarisch-künstlerischen Werken, in die er Ueberzeugungen gelegt hatte oder Keime für eine »künftige Richtung« oder sonst eine »bessere« Absicht; wohl aber mit Komödien, die er – es ist ja schließlich keine Schande – für das Publikum geschrieben hatte. »Das Konzert« ist über ganz Deutschland gegangen und an fremdsprachigen Bühnen oft und oft gegeben worden; es hat seinem Autor ein bedeutendes Vermögen eingetragen. Was aber den Autor nicht hinderte – mitten »im Geschäft«, während das Stück im »besten Zuge« war – öffentlich zu erklären, es sei bedauerlich, daß gerade der erste »wirkliche Schmarren«, den er geschrieben, dem Publikum gefalle. . . 
Hermann Bahr hat wohl manche feine Sache geschrieben, die auch zu späteren Zeiten mit anmutiger Keckheit sprechen wird, wie sie zu uns gesprochen. Und auch die deutsche Bühne wird vielleicht auf manches Stück zurückgreifen, das seinerzeit als Produkt einer Modelaune gegolten hat. Eine der kostbarsten Arbeiten aber, die der Schriftsteller der Nachwelt hinterlassen wird – denn es ist kaum anzunehmen, daß diese Schriften zu seinen Lebzeiten der Oeffentlichkeit zugeführt werden – sind seine Tagebücher. Bahr führt seit Jahren ein Diarium. Es erzählt nicht nur von den Begebenheiten, die ihn beschäftigten, sondern es gibt auch die Gespräche wieder, die er mit bedeutenden Männern der Kunst und Wissenschaft geführt hat. Und wo gibt es einen führenden Mann jüngerer Generation aus dem Reiche der Künste, der nicht während der Wiener Jahre Hermann Bahrs mit ihm in Beziehungen gestanden wäre? Kainz, Reinhardt, Emanuel Reicher, Dr. Brahm, Schnitzler, Hofmannsthal, Schönherr, Burckhardt, Eleonore Duse, Novelli, Zacconi und andere Größen der Bühne, ferner Klimt, Otto Wagner, Olbrich, Hoffmann, Moser, Roller – wer zählt die Träger glänzender Namen, die gerne mit Bahr plauderten, die in ihm den Förderer ihrer künstlerischen Ideen erblickten, die ihn anregten und sich von ihm anregen ließen. Und welcher Genuß, mit Bahr zu plaudern! Es ist noch subtiler, als ihn »sprechen« zu hören, das heißt vortragen. Wer weiß, welches das bessere Teil in den Tagebüchern des Schriftstellers sein wird: das, was er selbst über die Sachen und Personen gesagt hat, oder das, was die anderen, die Partner, ihm erwidert haben! Es ist gewiß eine dankbare Aufgabe, sein eigener Eckermann zu sein. Und man kann überzeugt sein, daß sie Bahr mit Geschmack gelöst hat. Und nicht ohne Kritik, die sich gegen ihn selbst richtet. Denn als Ironiker seiner selbst ist Bahr stets groß gewesen. Seine ersten Plauderpointen endeten gewöhnlich so. Und er selbst hatte die ehrlichste Freude, wenn ihm etwas Boshaftes gegen – Hermann Bahr eingefallen war. Am liebsten hätte er diese giftige Pointe einem seiner literarischen Gegner zur Kenntnis gebracht, damit sich auch andere ihrer freuen. Denn Kritik hat Bahr – zum Unterschied von vielen anderen hervorragenden dramatischen Autoren, die jahrelang eine schlecht gelaunte Kritik über eines ihrer Stücke nicht vergessen können und die »ungerechten« Worte bis an ihr Lebensende auswendig wissen – Kritik hat der Kritiker und Bühnenschriftsteller Bahr immer vertragen. Diese seine Tagebücher werden einmal wertvolle Dokumente unserer Zeit sein. Sie füllen – Bahr hat sie oft Freunden gezeigt – einige Schränke des großen Bibliothekszimmers in der Villa zu Ober-St. Veit. Allerdings – wer Hermann Bahrs Handschrift kennt, wird ob des riesenhaften Volumens seiner Diarien nicht allzu sehr erschrecken. Er schreibt wohl die denkbar kleinste Schrift, die Buchstaben sind so winzig wie die Lettern der sogenannten Diamantschrift – aber zwischen einer Zeile und der nächsten, die aus Bahrs Feder fließt, bleibt gewöhnlich ein freier Papierraum von drei bis vier Zentimetern, so daß Bahr auf die größten Schreibbogen immer nur ein paar Zeilen bringt. Das Manuskript eines Buches von Hermann Bahr, es müßte sohin ein paar Kilo Papier ausmachen. In den letzten Jahren hat er sich allerdings das Schreiben abgewöhnt und sichs aufs Diktieren eingerichtet! Den Dialog seiner letzten Stücke – so schlagfertig ist er im Sprechen und so viel Bühnenroutine hat er sich schon angeeignet – hat Hermann Bahr fast durchwegs in die Schreibmaschine diktiert, und was einmal in Form gegossen ist, daran pflegte der Autor nur selten etwas zu ändern.
Daß ein Mann in den Memoiren Bahrs eine besondere Rolle spielen wird: der dahingegangene Direktor des Burgtheaters Alfred Freiherr v. Berger – ist wohl gewiß. Bahr und Berger waren abwechselnd gut, kühl oder »böse«, je nachdem das künstlerische Wetter wechselte. Sie hatten manche Eigenschaft, in der sie sich berührten. Eines kann man wohl mit Sicherheit behaupten: Wenn Baron Berger und Hermann Bahr draußen in St. Veit – sie wohnten ja nicht weit von einander – mit einander sprachen, dann hielten die zwei geistreichsten Causeure Wiens Zwiesprache. Freilich, in Dingen der Weltanschauung waren sie die reinsten Antipoden! In einer Ueberzeugung aber trafen sie sich die längste Zeit und diese Ueberzeugung ging dahin, daß Paul Schlenther nicht der richtige Direktor des Burgtheaters sei. Berger wirkte damals in Hamburg, er stand im Zenith seiner Erfolge und hatte keinen aktuellen Anlaß an Wien zu denken. Aber so oft er hieher kam, hatte er das Bedürfnis, sich über das Burgtheater und dessen sicherem Verfall unter Schlenther auszusprechen. Natürlich nur in intimem Kreise; es war ihm dabei nicht etwa um eine Agitation, sondern nur um ein lautes Denken zu tun. Es war ihm leichter, wenn er sich ausgesprochen hatte.
So goß denn Baron Berger wieder einmal in einem Gespräch mit Bahr all die Schmerzen aus, die ihn ob der Direktionsführung Paul Schlenthers bedrückten. Das Gespräch wurde in der Veranda der Bahrschen Villa geführt. Baron Berger ging seiner Gewohnheit gemäß auf und ab, während Bahr in einem Lehnstuhl saß und interessiert, aber ruhig zuhörte. Berger wurde immer lebhafter in der Aufzählung der künstlerischen und literarischen Sünden des Direktors Schlenther. Niemals hätte man einen Mann nach Wien berufen sollen, der dem Wiener Boden so fremd ist und nicht die Fähigkeit hat, sich zu akklimatisierten etc., der in der Wahl der Novitäten die denkbar ungeschickteste Hand zeige. Und schneller auf und abgehend, wurde Baron Berger immer erregter, bis er lebhaft gestikulierend ausrief:
|»Und jetzt führt Schlenther gar den ›Apostel‹ auf, dieses schlechte, talentlose Stück! Das aber wird sein letzter Streich sein. Damit hat er sich unmöglich gemacht!«
Und indem er diese Worte in förmlicher Ekstase sprach, war Baron Berger wieder zu jenem Lehnstuhl gekommen, in dem sein Partner ganz ruhig saß: Hermann Bahr, wie die Leser wissen werden, der Dichter des »Apostel«! Alfred Berger hatte in seiner »Rage« vergessen, mit wem er sprach! Er hatte wahrhaftig nur laut gedacht!
Indem aber Berger seinem Partner ins Gesicht sah und merkte, es sei eben der Hermann Bahr des »Apostel«, begann ihn ein derartiges Lachen zu schütteln, daß er kaum eines Wortes fähig war. Und auch Bahr wurde von einer geradezu kindlichen Heiterkeit erfaßt. Und beide Männer sahen einander in die Augen und lachten ob der komischen Situation, als hätte sich diese in ihrer Gegenwart unter anderen, dritten Personen gefügt! Sie lachten über das Vorkommnis mit jener rein objektiven Heiterkeit, die nur Künstler empfinden können. Oder Oesterreicher! Kurzum – es wurde die reizendste Szene daraus. Sie verabschiedeten sich lachend und wohl noch oft, wenn sie einander später trafen, mußten sie die Erinnerung an jenes Gespräch in der St. Veiter Veranda gewaltsam unterdrücken, um halbwegs ernst bleiben zu können. . .