Julius Stern: Wiener Theaterwoche, 22. 11. 1925

Wiener Theaterwoche.
Zur Aufführung des Dramas »Der einsame Weg« im Volkstheater. – Als Bassermann in Berlin den Sala spielte. – Schnitzlers »Kakadu« kommt wieder ins Burgtheater. – Die Geheimgeschichte der Annahme des revolutionären Stückes.
Das Ereignis der vergangenen Theaterwoche war wohl der Herr von Sala Albert Bassermanns, der im Deutschen Volkstheater über einer bis auf wenige Einzelleistungen mittelmäßigen und wohl auch mangelhaft geprobten Aufführung des Dramas »Der einsame Weg« hoch emporragte. Man suchte im Saal Artur Schnitzler, aber er fehlte. Welch feine Witterung unseres Wiener Dichters! Hatte er doch ganz andere Aufführungen seines Schauspiels erlebt, glänzende, unvergeßliche. Zu ihnen gehört vor allem die Berliner Uraufführung, vor mehr als zwei Jahrzehnten unter Brahms Spielleitung. Bassermann spielte auch damals den Sala. Wer stand ihm zur Seite? Rittner als Fichtner, die Else Lehmann als Irene Herms, die Triesch als Johanna, die Pauly als Frau Wegrath. Gewiß eine unvergeßliche Aufführung – denn die Berliner lachten in die ernstesten Stellen hinein. So zum Beispiel in die letzte Szene Salas und seiner Johanna. Man ahnt es: Dieses Mädchen, das sich ihm hingegeben in der sicheren Erwartung der nächste, der sie umarmt, sei der Tod – man weiß, die Unglückliche nimmt nun Abschied für immer. In irgendeiner leisen Regung von Mitleid oder Reue macht ihr nun Herr von Sala einen kühlen Heiratsantrag, Johanna brauche sich ja nicht für immer an ihn gebunden zu fühlen, denn: »Alle Deine Träume« fügt er hinzu, »kann ich Dir nicht erfüllen –« Da fällt ein höhnisches Lachen aus dem Publikum ein, ein berlinerisches. . .  Die Komödie ist damit für Berlin erledigt. Sollte man glauben. Aber die zweite Aufführung ist ausverkauft. Schnitzler und Brahm sind angenehm überrascht. Der Direktor sucht nach einer Erklärung, denn er will immer lernen. Plötzlich hat er’s:
»Die Inhaltsangabe war es, die einige Kritiker brachten – sagt er zu seinen Schauspielern – die Leute fühlen sich durch den Stoff angezogen.«
Das ist auch wieder Berlin, das sachliche.
Das Burgtheater hat sich bekanntlich einige Jahre Zeit gelassen, das Drama vom »Einsamen Weg« zu bringen. Eines Tages fahren Dr. Schnitzler und Dr. Brahm auf den Semmering, dem Freunde Josef Kainz einen Krankenbesuch zu machen. Er spricht nicht von sich, nicht von seiner Krankheit, sondern nur vom Herrn von Sala. Er muß ihn spielen! Baron Berger, der damalige Direktor, nimmt’s gern zur Kenntnis! Niemand ahnte noch, daß der Künstler daran war, nicht als Herr von Sala, sondern als Josef Kainz den einsamen Weg zu gehen, den letzten, zum Grabe. . .  Als es dann 1914 (Direktionszeit Thimig) zur Erstaufführung der Dichtung im Burgtheater kommt, da erscheint Harry Walden als Sala. Das war wohl der charmanteste Egoist, den die Wiener Damenwelt je gesehen! Die ganze Vorstellung war fein abgestimmt, die Zuschauer genossen das zarte, träumerische Stück wie hinter einem Vorhang feinsten Flors. Das war gut so! Die Besetzung durchaus vornehm: Devrient spielte den Fichtner, Paulsen den Professor Wegrath, der gegenwärtige Direktor Herterich den Arzt Reumann, die Wohlgemuth reizend als Johanna und die Bleibtreu gab die so eigentlich doch heitere, wienerische Bohemienne Irene Herms! Es war ein Debüt der Tragödien nach der Vergangenheit, die dem lustigen Volksstück gehörte.
Vor kurzem war es noch Herterichs Absicht, den »Einsamen Weg« wieder dem Spielplan des Burgtheaters einzuverleiben. Jetzt, nach Bassermanns Gastspiel, wird er sich’s wohl überlegt haben. Dafür wird er, so heißt es, Schnitzlers rote Groteske »Der grüne Kakadu« neu inszenieren. Es ist ein Meisterwerk des Dichters, unübertroffen schon allein in der blitzenden Technik, Schein und Wirklichkeit, Spiel und Geschehen derart miteinander zu verquicken, daß man schließlich nicht weiß, was Scherz ist und was Ernst, was Witz und was Tod! Denn sie schreiten alle im gleichen Gewand einher.
Daß dieses kühne Stück mitten im ruhigsten Schlafe der Monarchie – 1899 – in den kaiserlichen Palast auf dem Franzensring hat einschlüpfen, daß es ganze acht Aufführungen hat erleben können, ehe man’s verbot – man hat’s damals nicht begriffen. Spielt dieser klassische Sketch doch am Abend des 14. Juli 1789 zu Paris, am Abend der Bastilleerstürmung. Ruft man doch am Schluß die Revolution aus! Doch nein – es gibt der Schrecken noch mehr:
In der unterirdischen Schenke Prospères treffen einander allnächtlich Verbrecher, Komödianten und viele Damen und Herren des höchsten Adels von Paris zu gemeinsamer Unterhaltung sich gegenseitig mit »Schwein« und »Kanaille« anzureden, das besitzt für die degenerierte Aristokratie einen schauerlichen Reiz. Eines Nachts muß der berühmte Komödiant Henry, verheiratet mit seiner schönen Kollegin Leocadie, durch einen Stegreifvortrag zur Unterhaltung der wirklich höchst gemischten Gesellschaft beitragen. Er stellt sich hin und deklamiert eine schauerliche Geschichte. Inhalt: Wie er den Herzog Emile von Cadignan erdolcht hat. Wie gesagt, es ist Phantasie, Erfindung, was er erzählt. Als aber der Herzog wirklich im Keller erscheint und ihm tatsächlich als der Liebhaber Leocadies bezeichnet wird, stürzt Henry rasend auf den Herzog los und erdolcht ihn. Eine Marquise ist ganz entzückt, weil man doch nicht jeden Tag einen wirklichen Herzog könne ermorden sehen. In diesem Augenblick kommt von der Straße herab die Nachricht von der Erstürmung der Bastille. Unter den Rufen der Menge: »Es lebe die Freiheit!« fällt der Vorhang.
Parterre und Logen waren bei der Erstaufführung einfach starr. Galt doch das Burgtheater damals so eigentlich als Domäne des Hofes und des Adels. Und nun sahen sich beide gehöhnt, nicht nur von der Bühne aus, sondern auch von der Galerie – weil sie wahnsinnig applaudierte. Zu jener Zeit durfte man so eigentlich nicht öffentlich berichten, wie es zur Annahme des Stückes kommen konnte. Es wußten’s auch nur die wenigsten. Heute aber kann man’s erzählen:
Die kaiserliche Zensur der Hofbühnen urteilte selbstverständlich absolut – als höchste, als inappellable Instanz. Doch ihr Absolutismus war gemindert durch die künstlerische Laune einer liebenswürdigen Künstlerin, die damals dem Burgtheater angehörte. Es war Katharina Schratt. Vor ihrem Einfluß bei Hofe beugte sich der jeweilige Sektionschef des Auswärtigen Amtes, der als Zensor waltete. Frau Schratt nun hatte Schnitzler eine prächtige Rolle zu verdanken, mit der sie ein Jahr vorher einen großen Erfolg erzielt hatte. Es war die Toni Weber in Schnitzlers Drama »Das Vermächtnis«.
Auch die Aufführung dieses Stückes hat seinerzeit große Verwunderung erregt. Ein paar Jahre vorher (1892) hatte Fuldas Schauspiel »Die Sklavin« nach zwei Aufführungen auf höchsten Befehl verschwinden müssen, weil es mit dem Eheproblem spielte. Die Sklavin war nämlich eine Ehesklavin. Und nun, 1898, ließ man dieses »Vermächtnis« aufführen, das mit aller Wärme um Mitleid für jene Frauen bat, die Mütter geworden, ohne zum Besitz des goldenen Ringes zu gelangen. Ein Stück, das alle Frauen ergriff:
Ein junger Mann aus guter Familie stürzt unglücklich vom Pferde und muß sterben. In letzter Stunde vertraut er der Mutter ein Herzensgeheimnis an: Toni Weber, ein braves Mädchen, sei seine Geliebte. Sie habe ihm einen Knaben geboren, jetzt vier Jahre. Die Eltern mögen Mutter und Kind ins Haus nehmen. . .  Es geschieht. Man behandelt Toni anfangs warm, dann immer kühler und, als das Kind stirbt, kalt. Die Arme geht schließlich aus Verzweiflung in den Tod. Franziska aber, die liebe, gutherzige Schwester des dahingegangenen Geliebten, tritt für sie ein und hält am Schlusse sogar eine Ansprache, die sanft um Duldung bat für die Opfer der . . .  freien Liebe. Selbstverständlich: dieses Wort wurde nicht ausgesprochen, nur angedeutet. Die Hohenfels sprach dieses Plädoyer so glänzend, daß die kirchenfrömmsten Damen weinten. Es gab stärksten Applaus! Denn es galt Mitleid zu haben mit jener Toni, die Frau Schratt spielte.
Seither stand Schnitzler hoch in der Gunst der Künstlerin, die ihrerseits wieder hoch in der Gunst der höchsten Hofkreise stand. Also war der Herr Sektionschef-Zensor von vornherein über dieses verbrecherische Stück »Kakadu« nicht empört. Auch hatte Direktor Schlenther die Zensurprüfung klug eingefädelt. Er bat Schnitzler, das Stück in Gegenwart des Hofrates Wlassack und des Zensors vorzulesen. Nun denn – so schlecht wie damals soll der Dichter – das erzählte man sich – noch nie gelesen haben! So völlig talentlos. Er brachte nämlich gerade die krassesten Effekte so sanft, daß sie wie Gemütlichkeiten sich ausnahmen. Keine Kanone klang stärker als der Schuß einer Kinderpistole.
Was die Zensur schließlich verlangte? Die Menge solle nur viermal »Es lebe die Freiheit!« rufen, statt achtmal. Die obgenannte Marquise sollte von dem Herzogmord nicht entzückt sein. Man gab’s zu. Die Hauptforderung des Zensors aber, man möge jenen dummen Polizeikommissär streichen, der noch immer an einen Komödiantenspaß glaubt, als der Herzog bereits erstochen ist – dieses Attentat konnte abgewehrt werden, um den drolligen Patron wäre es wirklich schade gewesen.
Welche Dame des Hofes die schließliche Unterdrückung des Stückes durchsetzte – man hat’s nie bestimmt erfahren. Wohl aber erfuhr man die eigentliche Ursache der hohen Empörung. Nicht die Revolution war’s, nicht der Herzogsmord, nicht der Schatten Maria Antoinettes, der hinter allen solchen Stücken auftaucht. Nein – ein brillantbesetztes Damenstrumpfband war’s, das ein nobler Spelunkengast der Dame schenken will, die ihm am freundlichsten zulächelt. An dieser Konkurrenz will sich nun auch unsere lustige Frau Marquise beteiligen.
Eine wirkliche Marquise darf aber nicht so lustig sein.
Das Stück mußte fallen.
Julius Stern.