Artur Schnitzler über den Krieg. Brief an einen Schulfreund in New York, 17. 11. 1914

Artur Schnitzler über den Krieg.
Brief an einen Schulfreund in New-York.
Artur Schnitzler hat an einen in New York lebenden Schulfreund nachstehendes Schreiben gerichtet: »Aus Deinem lieben Brief ersehe ich, daß Du Dir Sorgen machst um meine und meiner Familie Sicherheit, ja es scheint als zagtest und fürchtetest Du für Dein altes Vaterland, für ganz Oesterreich-Ungarn. Darüber kann ich Dich nun entschieden beruhigen. Es geht alles seinen gewohnten Gang und wir sehen der Zukunft mit der vollsten Ruhe und Zuversicht entgegen. Freilich, die Not unter den Arbeitslosen ist groß, aber es sind bereits Wohltätigkeitsorganisationen von so großem Maßstab in Angriff genommen worden, daß auch da bald Linderung gebracht werden dürfte. Daß man bei euch drüben den unglaublichsten Gerüchten Glauben schenkte, ist nicht zu verwundern; denn es ist wohl noch niemals ein Lügengewebe von so gigantischem Umfang in die Welt gesetzt worden, wie bei Ausbruch dieses Krieges, und zwar nicht bloß von seiten unserer Feinde, was ja zu erklären wäre, sondern auch von seiten der sogenannten Neutralen. Das Gefühl des Rechtes hat wohl selten in der Geschichte so schöne Blüten getrieben wie gegenwärtig in Deutschland und Oesterreich-Ungarn. Es ist überflüssig, Dir Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz zu schicken, da sie ja beim Empfang dieses schon von anderen Nachrichten überholt sein dürften.
Als es los ging, befand ich mich mit den Meinen im Engadin. Die ganze Welt schien verrückt geworden zu sein. Verschwinden des Hartgeldes, Schließung von Banken, Einstellung des Eisenbahnverkehrs, wilde Gerüchte über Durchmärsche feindlicher Truppen usw. waren an der Tagesordnung. Nach vielen – selbstverständlichen – Mißhelligkeiten und Verzögerungen kamen wir nach Wien zurück. Es ist selbstverständlich, daß jeder einzelne in irgendwelcher Art etwas für sein Vaterland zu tun bereit ist, aber all das verschwindet in dem ungehemten Wirbel der über Europa fegt, selbst die Taten von Helden, die wir auch an unseren Gegnern bewundern müssen. Es wird wohl erst unseren Nachfahren überlassen bleiben, nachdem der politische Schleier, der uns umgab, zerrissen ist, ein klares Bild zu gewinnen, wenn nicht mehr, wie jetzt, das Stöhnen der Schlachtfelder an unsere Ohren klingt, und wenn der größte Richter, die Zeit, die Geschichte dieser Periode schreibt.
Mit vielen Grüßen an Dich und die Deinen Dein Artur.«