Artur Schnitzler über den Krieg.
Brief an einen Schulfreund in New-York.
Artur Schnitzler hat an einen in
New York lebenden
Schulfreund nachstehendes
Schreiben gerichtet: »Aus
Deinem lieben Brief ersehe ich, daß Du Dir Sorgen machst um meine und meiner Familie
Sicherheit, ja es scheint als zagtest und fürchtetest Du für Dein altes Vaterland,
für ganz
Oesterreich-Ungarn. Darüber kann ich Dich
nun entschieden beruhigen. Es geht alles seinen gewohnten Gang und wir sehen der
Zukunft mit der vollsten Ruhe und Zuversicht entgegen. Freilich, die Not unter den
Arbeitslosen ist groß, aber es sind bereits Wohltätigkeitsorganisationen von so
großem Maßstab in Angriff genommen worden, daß auch da bald Linderung gebracht werden
dürfte. Daß man bei euch drüben den unglaublichsten Gerüchten Glauben schenkte, ist
nicht zu verwundern; denn es ist wohl noch niemals ein Lügengewebe von so
gigantischem Umfang in die Welt gesetzt worden, wie bei Ausbruch dieses Krieges, und
zwar nicht bloß von seiten unserer Feinde, was ja zu erklären wäre, sondern auch von
seiten der sogenannten Neutralen. Das Gefühl des Rechtes hat wohl selten in der
Geschichte so schöne Blüten getrieben wie gegenwärtig in
Deutschland und
Oesterreich-Ungarn. Es ist
überflüssig, Dir Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz zu schicken, da sie ja beim Empfang
dieses schon von anderen Nachrichten überholt sein dürften.
Als es los ging, befand ich mich mit den Meinen im
Engadin. Die ganze Welt schien verrückt geworden zu sein. Verschwinden des Hartgeldes, Schließung von
Banken, Einstellung des Eisenbahnverkehrs, wilde Gerüchte über Durchmärsche
feindlicher Truppen usw. waren an der Tagesordnung. Nach vielen –
selbstverständlichen – Mißhelligkeiten und Verzögerungen kamen wir nach
Wien zurück. Es ist selbstverständlich, daß jeder
einzelne in irgendwelcher Art etwas für sein Vaterland zu tun bereit ist, aber all
das verschwindet in dem ungehemten Wirbel der über
Europa fegt, selbst die Taten von Helden, die wir auch an unseren Gegnern
bewundern müssen. Es wird wohl erst unseren Nachfahren überlassen bleiben, nachdem
der politische Schleier, der uns umgab, zerrissen ist, ein klares Bild zu gewinnen,
wenn nicht mehr, wie jetzt, das Stöhnen der Schlachtfelder an unsere Ohren klingt,
und wenn der größte Richter, die Zeit, die Geschichte dieser Periode schreibt.
Mit vielen Grüßen an Dich und die Deinen Dein Artur.«