Enquete zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, 13. 3. 1908

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Dritter Abend, 12. März 1908.
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Vorsitzender: Der Schriftsteller Arthur Schnitzler, der persönlich verhindert ist zu erscheinen, hat einen Brief eingesendet, den ich zu verlesen bitte.
Dr. Frey (liest):
Fragen (die Prof. Finger in seinem Brief vom 10. Febr. 1908 mir vorlegte):
Erstens: Inwiefern Werke der Literatur und Kunst sexuell zu irritieren vermögen.
Zweitens: Inwiefern eine solche Wirkung berechtigt ist.
Drittens: Frage der Pornographie.
1. Ob ein Jüngling von der Tizianischen Venus fortgeht und sich eine Stunde darauf bei einer Prostituierten oder einem andern weiblichen Wesen infiziert – oder, ob er mit seiner Geliebten oder seiner Frau – unter der Nachwirkung desselben Reizes – einen neuen Shakespeare zeugt – oder seinen eigenen Mörder – das ist schließlich nur eine Glücksfrage. Und zweifellos kann jede dieser Möglichkeiten eintreten, auch wenn es nicht die Tizianische Venus war, der jener Jüngling seine Erregung verdankt, sondern eine völlig kunstfremde Aktphotographie, oder irgend eine obszöne Darstellung. Sicher aber ist es, daß prozentual die sexuell irritierenden Bildwerke und Druckschriften, sowohl künstlerischer als unkünstlerischer Natur den vielfachen Verlockungen des täglichen Lebens und dem steten physiologischen Wirken der Geschlechtlichkeit gegenüber gar nicht in Anschlag zu bringen sind.
2. Die Frage, inwiefern die sexuelle Wirkung von Kunstwerken berechtigt sei, scheint mir so müßig als es die Frage wäre, ob sexuelle Erregung durch den Anblick einer schönen lebendigen Gestalt des gleichen oder andern Geschlechtes berechtigt ist. Die Kunst ist hinsichtlich der Wirkungen, die sie erzielt, so unbekümmert wie die Natur. Und ich finde, wenn einmal ein großes Kunstwerk geschaffen würde von so ungeheuerer sexueller Reizkraft, daß eine Flutwelle von Sinnlichkeit sich über die gesamte Menschheit ergösse, so wäre das ebensowenig Anlaß die Ausstellung, Weiterverbreitung, Vervielfältigung dieses Kunstwerks zu verbieten, als die Behörden bisher den Versuch gemacht haben, die körperliche Schönheit zu untersagen.
3. Meine Bedenken gegen die Pornographie sind ausschließlich ästhetischer Natur. Das heißt: meine Abneigung gegen pornographische Produkte beruht nicht darauf, daß manchen die Eigenschaft innewohnt sexuelle Erregungen auszulösen, was sie bekanntlich mit manchen wirklichen Kunstwerken gemeinsam haben, sondern darauf, daß pornographische Produkte immer etwas verlogenes oder talentverlassenes, manchmal beides zugleich vorstellen.
Ich glaube nicht, daß die Grenze zwischen Pornographie und Kunstwerk schwer festzustellen ist. Der Kenner wird diese Grenze geradeso gut festzustellen imstande sein, wie jede andere zwischen Kunst und Nichtkunst. Das mißliche ist nur, daß dieser Grenzfrage gegenüber nicht nur diejenigen Leute versagen, denen von Geburt aus die Fähigkeit mangelt Kunstwerke zu beureilen, also die große Mehrzahl der gesamten Menschheit, sondern auch manche, denen wohl diese Fähigkeit gegeben wäre, die aber durch falsche Erziehung, krankhaft gesteigerte Erregbarkeit, oder aus Gründen berufs- und gewerbsmäßiger Heuchelei geneigt sind, jedes Kunstwerk, vor allem auf seinen sexuellen Irritationskoeffizienten hin anzusehen. Es scheint mir überhaupt kein Anlaß vorzuliegen, die Frage der Geschlechtskrankheiten von der Tatsache der geschlechtlichen Erregung aus in Angriff zu nehmen, gegen die ja doch – glücklicherweise – jede staatliche und jede kirchliche Maßnahme vollkommen machtlos bleiben wird; die Frage der Geschlechtskrankheiten ist nur von den Gesichtspunkten der Aufklärung, der allgemeinen Bildung und der Aufrichtigkeit anzugehen; und der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten und ihre Verbeitung sei ein Kampf gegen Unbildung, falsche Schamhaftigkeit und Heuchelei, arte aber nicht aus in einen Kampf gegen die Sinnenfreude als Leben-verschönende und Leben-schöpferische Kraft.
Wien, 10. März 1908. Arthur Schnitzler.