Paul Wilhelm: Bei Artur Schnitzler, 19. 4. 1908

Von
Paul Wilhelm
Seine Kunst hat der Wiener Literatur ihr spezifisches Gepräge gegeben.
Das süße Wiener Mädel, das bei Grillparzer noch im klassischen Gewände einherschritt und den wohlklingenden Namen Hero trug, hat er in ein schlichtes, sittsam geschlossenes Seidenbluschen gesteckt und in ihre Sprache die heimatlichen Klänge der Vorstadt gemischt. Aber er hat ihren tiefsten Zauber, die kindliche Heiterkeit, die von den Schatten tragischen Geschickes leise umdämmert wird, beizubehalten vermocht. Darin lag die Dichterkraft seiner Jugend, die ihn uns lieb und Wert machte. Er wurde zum Dichter des süßen Mädels, wie er in seinen Anfängen der espritvolle Anatol-Poet gewesen. Man wies ihm seinen Platz an in der Literatur, und – da gedankenloses Einschachteln nun einmal in der Wiener Art liegt, – so übersah man lange, daß der Dichter bei dem schönen und reinen inneren Erlebnis, das die »Liebelei« seinem Schaffen bedeutete, durchaus nicht stehen geblieben war. Er sah tiefer in die Probleme des Lebens und in die menschliche Seele. Und er erzählte von ihren Schicksalen mit einer klaren, tiefen, eindringlichen Kraft, die sich zuweilen ins Dunkle, Geheimnisvolle verbohrte. Seine Weltanschauung und sein Stoffkreis erweiterten sich, rückten hart an die Grenze, wo die einsamen Reiche der Großen beginnen. Aber er ist ein österreichischer Dichter, und das bedeutet so viel, als im Vaterlande nicht nach vollem Wert eingeschätzt, auch dann noch in einen ästhetischen Rahmen gepreßt zu werden, wenn Entwicklung und Begabung denselben längst gesprengt haben. Sonst wüßte man seit langem, daß Schnitzler weit mehr ist, als der Dichter des Wiener Sentiments, daß Stimmung, Kolorit und die natürliche Anmut seiner Melodik durchaus nicht mehr das Wesentlichste, Bedeutsamste seines künstlerischen Schaffens ausmachen.
Aber er stand nie im Streit der Meinungen und ist immer seinen Weg gegangen. Ruhig, unbeirrt, ganz in sich gefestet, eine feine und dennoch in sich bewußte Persönlichkeit, die es eben nicht verschmäht, neben Bedeutung und Temperament auch Anmut und Geschmack zu besitzen. Das läßt ihn für den oberflächlich Beurteilenden seiner, müder, dekadenter, ja artistischer erscheinen, als er tatsächlich ist. Es ist vielmehr ein tiefdenkerischer, zuweilen grüblerischer Zug in ihm, der das Spielerische, das jeder großen Formbegabung anhaftet, zu starkem und oft scharfgeschliffenem Ausdruck zwingt.
Auch als Mensch ist er nicht von den kleinen Eitelkeiten des literarischen Artistentums befangen, dem kokette Eigenspiegelung als der wertvollste Inhalt künstlerischen Schaffens erscheint. Er hat vielmehr seine Poetenseele in ein bescheidenes Alltagskleid gesteckt – er ist ein ganz liebenswürdiger, anspruchsloser Mensch, der vor den lauten Stimmen der Oeffentlichkeit gern seine Fensterläden schließt.
So ist auch sein Heim. Draußen in Währing, in der Spöttelgasse – die Front dem Sternwartepark zugekehrt, von der Straße abgewendet, von einer merkwürdigen Stille und Weltabgeschlossenheit umfriedet. Dort suchte ich ihn jüngst wieder auf an einem hellen, sonnigen Vorfrühlingstag, einem jener Tage, von denen ich immer glaube, daß ihre wehe Süße nur in der Wiener Luft liegt, in dem Hauch, der so weich und mild herüberweht von den Höhen des Wienerwaldes.
Mit herzlicher Begrüßung empfing mich der Dichter in seinem Arbeitszimmer. Ein eleganter, nicht zu großer Raum, alles gleichsam aneinander gerückt, durchaus den Eindruck vornehmer Behaglichkeit erweckend. Er enthält neben dem breiten Schreibtisch und der prächtigen Bibliothek des Dichters feine graphische Kunstwerke, von denen mir eine Radierung »Shakespeares House« besonders auffällt, ferner eine Büste Beer-Hofmanns , ein Paar Plastiken, und an der rechten Wand das Stehpult, an dem Schnitzler zu arbeiten pflegt.
Wir verweilen aber nichr lange. Schnitzler schlägt mir vor, den herrlichen Frühlingstag zu einem gemeinsamen Spaziergange zu benutzen. Ich erkläre mich gern einverstanden. Wir brechen auf. In wenigen Minuten sind wir mit der Elektrischen bei der Endstation in Pötzleinsdorf. Nun gehts langsam in gemütlichem Geplauder durch den Pötzleinsdorfer Wald über Neuwaldegg in den Dornbacher Park – ein prächtiger Weg durchs erste Grün der Wälder und Wiesen.
Wir sind bald tief im Gespräch. Schnitzlers Konversation ist von eigenem Reiz. Seine Gedankenkraft wächst im Gespräch. Anfangs karger, vorsichtiger, im Ausdruck mehr das einzelne Wort prägend, wird sein Ideengang bald lebhafter, reicher, farbiger. Der Dialog gibt ihm willkommene Stichworte. Er schafft, schöpft, bildet gleichsam im Konversieren, und man gewinnt einen Einblick in die feine Präzision, mit der der Mechanismus seines Denkprozesses arbeitet.
Ich frage ihn im Gespräch nach seiner Meinung über die verschiedenen Strömungen und Richtungen in der modernen Literatur. »Ich glaube,« meint Schnitzler, »daß wirklich vernünftige Menschen auf Schulen oder Richtungen gar kein Gewicht legen werden. Es wird zu allen Zeiten nur auf die Persönlichkeit ankommen. Alles andere sind formelle Unterscheidungen, Geschmacksdifferenzierungen, die sich eigentlich auf das rein Technische beziehen. Das Wesentliche, worauf es ankommt, hat sich nicht geändert, nur die Ausdrucksformen sind zeitweilig andere.« Ich weise auf gewisse Gesetze hin, die die neuere Literatur geprägt – und erwähne dabei beispielsweise die Verbannung das Monologs, die mir im naturalistischen Drama durchaus berechtigt, im Stilstück aber als verfehlt erscheine. Schnitzler entgegnet: »Es gibt oder sollte auch hier keine anderen Gesetze geben, als die künstlerischer Notwendigkeiten. Unsere Zeit hat eben ihre Begriffe, die sich die Schaffenden selbst bestimmen. Es bedarf nur einer großen Persönlichkeit, diese sofort wieder umzustoßen.« Ich nenne Shakespeare, von dessen Kunst aus man tatsächlich für und gegen jede Sache Beweise anführen könnte. Schnitzler lächelt und meint: »Ich will gar nicht so hoch greifen. Wir wollen darüber übereinkommen, daß wir Begriffe wie Shakespeare, Goethe und der liebe Gott nicht zu Vergleichen heranziehen wollen. Das Genie hat das unbedingte Recht, seine Persönlichkeit nach eigensten Gesetzen auszuleben.« Ich verweise auf die neuen Ideen, die die moderne Literatur erfüllen, auf all die vielen, tiefen Gedankenwerte und Umwertungen, die sich uns in sozialer und sittlicher Hinsicht neu erschlossen. Schnitzler erwidert: »Es gibt eigentlich auch da nichts wirklich Neues. Wir sind nur von neuem auf längst Vorhandenes gekommen. Die Elemente des Menschentums waren immer gegeben! Es gibt eigentlich keine neuen Ideen, es gibt nur neue Gedankenintensitäten. Alle großen Ideen sind so alt, wie die Menschheit, und es hat immer nur des großen Individuums bedurft, diese Ideen mit Nachdruck und Mut persönlich oder durch Vermittlung einer selbstgeschaffenen Gestalt auszusprechen. Jede große Wahrheit ist eine Banalität, solange man sie nicht selbst entdeckt hat.«
Ich erwähne des hohen Wertes, den unsere Zeit gerade der Originalität beimesse, und bemerke, daß hier oft des Guten zu viel getan werde, daß das Neuartige nur zu leicht überschätzt und über das Bedeutsame gestellt werde. »Gewiß,« entgegnet Schnitzler, »aber dies ist eben nur in der Meinung der Zeitgenossen der Fall, die wir so stark überschätzen, weil wir davon unmittelbar betroffen sind. Es ist überhaupt ein Zug der Zeit, nach Beeinflussungen zu suchen, Vorbilder aufzuspüren und daraus einen künstlerischen Vorwurf zu machen, den man früher nie erhoben hätte. Heute wird sehr oft Eigenart mit Einseitigkeit verwechselt. Und oft ist es die Eigenart selbst, die allmählich, wenn sie nicht gleichsam durch fremde Blutmischung erneut, durch geistigen Stoffwechsel belebt wird, zur Einseitigkeit führt.« Wir kommen auf künstlerische Anregungen und im Zusammenhange damit auf des Dichters eigenes Schaffen zu sprechen. Er spricht dankbar von Anregungen, die er empfangen hat, und von dem Wert, den er auf das Urteil einzelner Menschen lege, wenn er auch im allgemeinen seinem eigenen Gefühl über Wert oder Unwert einer seiner Arbeiten vertrauen dürfe. Ich frage nach seinem gegenwärtigen Schaffen. Er hat vor kurzem einen neuen Roman »Der Weg ins Freie« vollendet und ist eben mit neuen dramatischen Arbeiten beschäftigt. Aber er erzählt nicht gern von ihnen, solange sie nicht vollendet sind. Ich spreche von zweien seiner letzten Dramen, dem »Einsamen Weg« und dem »Ruf des Lebens«, die ich beide liebe und die mir künstlerisch von subtilstem Wert erscheinen. Da wir eben im Gespräch darüber sind, kommen wir auf eine breite Wiese am Eingang des Dornbacher Parks – ein wunderschönes Stückchen Landschaft, von Waldrand und Hügelland rings umschlossen. Schnitzler bleibt stehen und sagt lächelnd: »Hier steht in meiner Phantasie das Haus des Herrn von Sala im ›Einsamen Weg‹, da drüben am Waldesrand habe ich es mir immer gedacht. Sehen Sie,« meint er, »dort drüben, gerade dort müßte es stehen.« Wir kommen auf die Darstellung zu sprechen, die das Werk in Berlin gefunden, und sind nun doch bei dem in Wien unvermeidlichen Thema: Schauspielkunst angelangt. Ich spreche von den| Darstellern der älteren und der neueren Schule. Auch hier läßt Schnitzler nur technische Unterschiedlichkeiten gelten. Er ist der Ansicht, daß die moderne Darstellungsart wohl vieles menschlich näherbringe, aber auch geeignet sei, über manche innere Unzulänglichkeit der Darsteller hinwegzutäuschen. Er sagt: »Es ist zweifellos, daß große Schauspieler sehr häufig imstande sind, auch wenn sie nichr sehr klug sind, bedeutende Intellekte darzustellen, daß sie aber für den tiefer Blickenden versagen, sobald sie inneren Adel darzustellen haben, ohne ihn zu besitzen. Dem scheint allerdings zu widersprechen, daß Künstlerinnen von sogenanntem schlechten Ruf sehr wohl vermögen sogenannte reine Wesen darzustellen. Bei dieser Gelegenheit zeigt es sich eben nur, daß wir sehr unrecht tun, unsere Begriffe von Reinheit vom Geschlechtlichen abzuleiten.«
Wir sprechen im Anschluß hieran von den moralischen Begriffen der modernen Weltauffassung. Schnitzler meint: »Wir wollen das Wort modern ausschalten. Man sollte überhaupt immer Worte, die allzu vieldeutig sind, möglichst aus der Sprache verbannen. Sonst kommt man nicht weiter, oder macht es den ›Geistreichen‹ zu leicht. Zu diesen Worten gehören beispielsweise auch Religion und Philosophie. Für den einen ist Religion nichts als individuelle Stellungnahme zu den ewigen unlösbaren Fragen! In diesem Sinne ist es natürlich, daß jeder Mensch Religion hat, so natürlich, wie daß jeder Mensch atmet. Für andere ist Religion nur ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Gottheit, zur Legende, zur Offenbarung. Durch diese Zwiespältigkeit kommt in den Diskussionen über Religion soviel Gerede heraus – ja manchmal noch Schlimmeres: Mißverstehen, Unaufrichtigkeit und Tücke.«
Wir sind beim Philosophieren und sprechen vom Gegensatz der altruistischen Weltanschauung zur modernen Herrenmoral. Schnitzler meint, der Altruismus sei oft nichts anderes, als der Egoismus des Wehleidigen. Eine höhere Form des Altruismus beruhe wohl im Wesentlichen auf nachempfindender Phantasie, die fremdes Erlebnis in eigenes transponiert!
Wir kommen auf die österreichische Literatur und ihre Stellung im Auslande zu sprechen und ich erwähne, daß man in Deutschland der österreichischen Literatur vornehmlich ihren weichen, müden, stillgestimmten Grundton vorwerfe, für den eben nur bei uns das richtige Empfinden vorhanden sei. »Es wird eben so häufig, entgegnet Schnitzler, auch hier Brutalität mit Kraft verwechselt und Feinheit mit Schwäche, während gerade im Künstlerischen so oft Brutalität ein Zeichen von Kraftlosigkeit und Feinheit ein Zeichen von Stärke ist.«
Ich bemerke, daß wohl auch die heimische Kritik zuweilen dazu beitrüge, falsche Begriffe zu verbreiten und dem Ausland gegenüber zu Schlagworten zu machen. Der Dichter meint: Es gibt eben Kritiker, denen es gelingt, das Gute in einer gewissen Entfernung zu schätzen – denen aber in der Nähe allerlei Persönliches den Blick trübt –, man könnte sie – »weitsichtige Kritiker« nennen!
Wir sprechen auch von Musik, zu der Schnitzler – wie er mir gesteht – vielleicht ein noch innigeres Verhältnis hat als zur Literatur. Von neueren Musikern, die ihm ein tiefes künstlerisches Erlebnis bedeuten, nennt er besonders Anton Bruckner und Gustav Mahler. Auch von Pfitzner und Reger sowie von den Liedern von Streicher und Hugo Wolf spricht er mit besonderem Nachdruck. Er weist dabei auf die Parteiungen auch im musikalischen Leben hin und fügt hinzu: »Es scheint in der selben Seele selten für zwei Begeisterungen Raum zu sein. Für einen Haß mehr findet sich aber immer noch ein Plätzchen!«
So wandern wir plaudernd weiter durch den Dornbacher Park. Der herrliche Frühlingstag löst auch Betrachtungen über die Natur aus. Schnitzler betont den großen Einfluß, den landschaftliche Schönheiten auf seine Stimmungen haben. Namentlich von Reisen habe er tiefe Eindrücke mitgenommen. In der Natur liebt er am meisten den Laubwald. Das ist sein Begriff von Sommer, von schöner, ruhiger Reife. . . 
Wir treten aus dem Wald hinaus. Der Straßenlärm umfängt uns. Wir besteigen die nächste Elektrische und fahren zur Stadt zurück. Unser Gespräch dreht sich nur mehr um gleichgültige Dinge, denn die Stimmen des Alltags überdröhnen die tieferen und feineren Gedanken. Aber viele von ihnen tönen innen fort, haben die Kraft edler Melodik, die dem Gedächtnis nicht wieder verklingen will. . . .