Rundfrage über das Eherecht, [Anfang 1905?, unveröffentlicht?]

Rundfrage über das Eherecht.
Mit Kompromissen lässt sich eine Lösung der wichtigsten Fragen nicht anstreben. Zum mindesten darf man nicht mit Kompromissen beginnen. Im Verlauf der Durchführung sind sie ja nicht zu vermeiden.
Eine Reform des Eherechts ohne eine Reform der Ehe ist vollkommen nutzlos.
Alle Schäden und Schwierigkeiten des Eherechtes ergeben sich aus den falschen Voraussetzungen, aus denen der Begriff der Ehe aufgebaut ist.
Es erscheint wünschenswert den Boden umzupflügen, nicht auf unsicherer Erde ein neues Gebäude aufzurichten, auch nicht darum, ein altes mit neuen Erkern und Türmen zu versehen.
Die Ehe in ihrer jetzigen Form ist kein eigentlicher Vertrag und doch dürfte sie für den Staat überhaupt nichts anderes zu bedeuten haben.
Alles was sie ausserdem noch ist, dürfte nichts anderes sein als Privatabmachung zwischen den zwei Menschen, die die Ehe schliessen. Somit ist jede obligate Mitwirkung einer kirchlichen Behörde an der Eheschliessung, wenn sie nicht von den Gatten selbst gewünscht wird, auf das Entschiedenste abzulehnen. Das Zusammenleben zweier Menschen, die durch einen rechtsgültigen Vertrag ihre gegenseitigen ökonomischen Beziehungen regeln, hat dem Staat als Ehe zu gelten. Ferner hat jede Verbindung zweier bis dahin lediger Menschen, der ein Kind entspross, als Ehe zu gelten. In einem solchen Fall ist |die ökonomische Beziehung und Verpflichtung der Eltern gegenüber dem Kinde sofort zu regeln und jeder Unterschied zwischen unehelich und ehelichen Kindern hat vor dem Gesetz durchaus zu fallen.
In dem Vertrag der eheschliessenden Menschen ist festzustellen, was nach Lösung des Vertrages mit dem Kinde zu geschehen hat.
Der Staat hat sich ausschliesslich um Regelung der Vermögens- und der hygienischen Fragen zu kümmern, während alles Ethische, Religiöse und Gefühlsmässige Privatsache zu bleiben hat.
Denn dass auch Ethos und Religion zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht wird, führt wie tausendjährige Erfahrung zeigt, nicht zu einer Erhöhung der Sittlichkeit oder zu einer Vertiefung der religiösen Anschauungen, sondern ausschliesslich zu Machtdünkel mit all seinen Uebergriffen bei den Behörden und zu Heuchelei im privaten Leben. Ueberdies hat die Einmischung des Staates in ethische und religiöse Fragen etwas durchaus Verlogenes, da es dem Staat niemals auf Sitte und Weltanschauung im eigentlichen Sinne ankommt, sondern für ihn immer nur Form und Macht in Frage stehen.