[Seht mir den endlosen Zug], 27. 5. 1906

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Zu seinem fünfzigjährigen Schauspieler-Jubiläum
Ein Festtag bricht für das kunstbegeisterte Wien heran: Das Sonnenthal-Jubiläum. Der große Meister jener Schauspielkunst, deren Glanz und Ruhm die erste Bühne unserer Stadt zur ersten Bühne der Deutschen gemacht hat, feiert den Tag, da er vor fünfzig Jahren zum ersten Male am Burgtheater aufgetreten ist. Ueber seine Bedeutung für das Theater, für die Gesellschaft, für die Erziehung seines Publicums ist kaum mehr Etwas zu sagen, was nicht schon oft, in den verschiedensten Formen, in allen Tönen des Lobes und Preises gesagt worden wäre. Zu seinem Ehrentage haben wir eine Reihe Autoren, in deren Stücken Sonnenthal gespielt hat, um Aeußerungen über den gefeierten Künstler gebeten. Sie alle, moderne und ältere, Oesterreicher und Deutsche, an die sich der Italiener Bracco schließt, sind einig im Gefühle des Dankes für den großen Schauspieler, der ihren Absichten so lebendigen Ausdruck gab. Wir lassen hier die Kundgebungen der Autoren folgen.
[…]
    Seht mir den endlosen Zug von vielfach bedeutenden Schatten!
       Manchen, den längst ich vergaß; manchen, der nie mir entschwand.
    Niemals so bunte Gesellschaft vereint auf dem Wege betraf ich:
       König wandelt und Held, Bürger und Sträfling vorbei,
    Auch den Verführer gewahr’ ich, den Narren, den Künstler, den Weisen:
       Purpur und Panzer erglänzt hell unter Frack und Talar.
    Schweben die einen dahin im Schimmer unsterblicher Hoheit,
       Schleichen die Andern bedrückt, wie aus den Grüften gelockt.
    Doch wer schwankt aus der Reih’ und grüßt mich besonders vertraulich?
       Gütig verzeih’nder Cellist, Vater Christinens – bist Du’s?
    Und ein Zweiter! Ich kenn’ dich, o weiser, betrog’ner Professor,
       Dem so verspätet als mild eine Gefährtin erschien.
    Und auch Du bist zur Stell’, Komödiant aus verdächtiger Schänke,
       Dem aus pathetischem Trug ahnungsvoll Wahrheit erstund?
    Dank Euch Drein für den Gruß! Und nun gesellt Euch den Andern,
       Die sich in festlichem Gang’ nahn dem begnadeten Haus.
    Oeffnet sich aber das Thor, so neiget Euch tief vor dem Meister,
       Der in Euch Alle zuerst Athem des Lebens gehaucht.
Wien, Mai 1906.