Dichterische Arbeit und Alkohol, 15. 10. 1906

Dichterische Arbeit und Alkohol
Eine Rundfrage
Mit Einleitung und Nachwort von Dr. C. F. van Vleuten
1. Nehmen Sie regelmäßig vor der künstlerischen Arbeit Alkohol in irgend einer Form zu sich, und welche Wirkungen schreiben Sie dem zu?
2. Haben Sie, falls Sie nicht regelmäßig Alkohol vor der Arbeit nehmen, es aber gelegentlich doch einmal getan haben, dann eine Steigerung oder Hemmung Ihrer Arbeitsleistung beobachtet?
3. Sehr dankenswert wäre eine Mitteilung Ihres Standpunktes zur Alkoholfrage im allgemeinen, besonders aber Ihrer Beobachtungen über die Wechselwirkung zwischen Alkohol und Dichtung.
[…]

 

Zu 1 und 2. Meine persönlichen Erfahrungen über das Verhältnis des Alkohols zum künstlerischen Schaffen können kaum in Betracht kommen, da ich sehr wenig, im Laufe des Tages beinah niemals trinke.
Zu 3. Mein allgemeiner Standpunkt zur Alkoholfrage: Abstinenz. Nicht etwa, weil ich überzeugt wäre, daß die Aufnahme geringer Alkoholmengen notwendiger Weise eine Schädigung des Organismus mit sich bringen muß, – sondern weil den meisten Menschen die Fähigkeit mangelt, sich über die physiologischen Grenzen ihrer Alkoholtoleranz (die Grenzen, jenseits derer die Gefahren für die eigne Person, die Familie, die Nachkommenschaft, die Mitwelt beginnen) ein sicheres Urteil zu bilden.
Zweifellos verdanken mehrere künstlerische Produkte über Alkoholismus ihrem Schöpfer die besondere Eigenart, und man möchte sich, wie die Dinge nun einmal stehen, gewisse dieser Worte nicht aus der Literatur wegdenken; ebenso zweifellos aber ist, daß jeder der hier in Betracht kommenden Künstler ohne Alkohol seine Gaben höher entwickelt hätte, da der Alkohol ein Talent wohl zu verändern, aber nie zu steigern vermag.
Was jene andere Wechselwirkung zwischen Alkohol und Dichtung anbelangt, wie sie z. B. im Trinklied zum Ausdruck kommt, so sind mir die meisten dieser Erzeugnisse, wie andere literarische Fälschungen des Weltbilds, durchaus widerwärtig, und ich fühle mich versucht, hochgestimmten Kneipgesängen gegenüber ein bekanntes französisches Wort zu variieren, indem ich sage: Es genügt, wenn man betrunken ist; man muß nicht stolz darauf sein.
Wien Dr. Arthur Schnitzler