Leo Feld: Komödie der Irrungen, 20. 4. 1924

Komödie der Irrungen
Von
Leo Feld.
Man erweist mir seit einiger Zeit die Ehre, mich mit Artur Schnitzler zu verwechseln. Auf der Straße, im Theater, auf der Elektrischen – es passiert mir fortwährend. Man spricht mich mit seinem Namen an, man grüßt, blickt, tuschelt, kurz man benimmt sich gegen mich, als ob ich der berühmte Dichter der »Liebelei« wäre.
Das ist eine Auszeichnung, vielleicht sogar eine Schmeichelei, aber sicherlich kein Vergnügen. Wirklich nicht.
Es ist nicht angenehm, wenn man den Leuten immer wieder versichern muß, daß man nur mit sich selbst identisch ist. Dieses »nur« ist besonders unsympathisch. Einem Minister macht es vielleicht Spaß, wenn man ihn für seinen Hofrat hält. Aber der Hofrat fährt unweigerlich zusammen, wenn ein schmeichlerisches »Exzellenz« seine subalternen Ohren umflüstert.
Dabei ist es weder Artur Schnitzler noch mir, noch irgend jemandem, der uns genau kennt, jemals klar geworden, warum uns die Leute verwechseln. Schnitzler hat wundervolle blaue Augen, schönes, ach, noch so blondes Haar, ein ausgesprochen französisch konturiertes Gesicht – es ist rätselhaft, daß sich die Leute da auf eine Aehnlichkeit kaprizieren. Ich kann es mir nur mit dem begreiflichen Wunsche erklären, daß sie mit einem Schnitzler nicht genug haben wollen.
Immerhin, bis vor kurzem konnte man sich solche Unfälle gefallen lassen. Sie waren nicht gar so aufregend. Es war allerdings nicht sehr angenehm für den Dichter, wenn er plötzlich von der Volksoper angerufen wurde, was er von der Direktion wünsche und er sich absolut nicht entsinnen konnte, jemals etwas von ihr gewünscht zu haben. Er konnte freilich nicht wissen, daß ich in den Vormittagsstunden desselben Tages den Direktor Markowsky vergebens gesucht hatte, weil ich ihn für einen Freund interessieren wollte. Noch verdrießlicher mag es ihm gewesen sein, als er eines Tages aus Schärding, einem lieben, verrunzelten Städchen am Inn, einen vorwurfsvollen Brief erhielt, es sei nicht schön von ihm, daß er einmal in einen so weltfernen Winkel verschlagen, für seine alten Freunde dort nicht eine Viertelstunde übrig habe. Was wußte ich, als ich den einsamen Platz der Stadt durchquerte, daß mich hinter den geschlossenen Fensterläden grollende Blicke verfolgten –!
Das waren noch harmlose Mißverständnisse. Die kann jeder halbwegs geübte Schwankautor erfinden. Bedenklicher wurde es, als der Dichter selbst anfing, mich mit sich zu verwechseln. Wenn er das Parkett eines Theaters betrat und mir mit einem höchst erstaunten Lächeln die Hand gab: »Oh, ich bin schon da? Das hab' ich gar nicht gewußt.« Oder, wenn ich ihm auf der Elektrischen meinen Platz respektvoll abtreten wollte und er mit wohlwollender Logik ablehnte: »Ob Sie oder ich sitzen, das ist doch ganz egal.«
Es gibt eine reizende Novelle aus dem Quattrocento, die einen verwegenen Künstlerstreich schildert. Ein paar übermütige junge Leute wollen einem braven Holzschnitzer einreden, er sei ein anderer; er sei nicht er selbst. Sie tun das mit einem so systematischen Raffinement, daß der arme Teufel ganz verwirrt wird. Er wehrt sich und wehrt sich –
Ich wehre mich auch. Ich lasse mir nicht einreden, daß ich nicht mehr ich bin. Das sind Grundtatsachen des Lebens, von denen sich ein ordentlicher Mensch nicht loslösen will. Es ist ja sehr unklug, gewiß, es ist entschieden viel vorteilhafter, Artur Schnitzler zu sein – aber in solchen Dingen ist man nun einmal unverständig konservativ. Obwohl es einem manchmal wirklich schwer gemacht wird, noch an seine eigene Existenz zu glauben.
Vor einigen Wochen erhielt ich von Artur Schnitzler einen Brief. Seinem Blatt lag ein zierliches Kuvert bei, das die Visitenkarte einer Dame umschloß. Das Kuvert trug die genaue Adresse des Dichters: Herrn Dr. Artur Schnitzler, Wien, etc., etc.; und auf der Karte stand unter dem Namen der Dame mit sehr deutlichen und unableugbaren Buchstaben: . . .  bittet Herrn Dr. Leo Feld um ein Autogramm.
Als ich das las, begann mein Hirn sich etwas zu drehen. Eine Bitte an Artur Schnitzler, die an mich um ein Autogramm gerichtet war –? Die Welt ist doch noch schwerer zu erklären, als die Philosophen meinen.
Und bei diesem Billett lag ein ebenso ratloses Blatt des Dichters:

 

Lieber Doktor Feld!
Das – geht denn doch schon zu weit. Bin ich ein Pseudonym von Ihnen oder Sie von mir?
Herzlichst Ihr Artur Schnitzler.

 

Ich gestehe, daß ich vor diesem Problem ganz hilflos war. Ungefähr wie der Held der Renaissancenovelle, der die Schlinge immer näher um seinen Hals fühlt.
Und dann mit dem Aufgebot eines fabelhaften Scharfsinns und eines grandiosen Erinnerungsvermögens kombinierte ich:
Ich hatte auf einer Redoute einer Dame, die mich als Artur Schnitzler ansprach, gewissenhaft meinen Namen genannt. Selbstverständlich sogleich und sehr bußfertig. Sie hatte diese Selbstbescheidung lächelnd entgegengenommen und sich auch mit dieser zweiten Besetzung zufrieden gegeben. Anscheinend. Aber nun schickte sie dem Dichter diese Karte, die ihm sagen sollte: Ich bin ja doch nicht so dumm, wie Du meinst, und den Schwindel mit dem Herrn Dr. L. F. glaube ich Dir nicht, mein Lieber. . . 
Was soll man machen, wenn die Leute so witzig sind? Oder vielmehr, nein: meine Existenz scheint sich in einen Witz zu sublimieren. Denn wenn es wahr ist, wie es Raoul Auernheimer einmal so hübsch formulierte, daß der Witz eine Wahrheit ist, die man gerade in diesem Augenblick nicht erwartete – – du lieber Gott, ich fange an, eine höchst unerwartete Wahrheit zu werden! Eine wirklich witzige Wahrheit. Denn ich bin unwahrscheinlich und wirklich zugleich.
Die Sache beginnt sehr, sehr peinlich zu werden. Es gibt Situationen, in denen man den Kopf verlieren kann. Nach einer Premiere trat ich neulich mit einem befreundeten Schauspieler aus dem Bühnentürl des Deutschen Volkstheaters. Dort wartete, wie das bei Premieren so üblich ist, ein stattliches Häuflein junger Enthusiasten. Als sie meiner ansichtig wurden, schrien sie sofort unisono: »Hoch Schnitzler!« Das war mir doch zuviel. Ovationen einer begeisterten Menge zu empfangen, das grenzt an Betrug. Und in meiner Erregung brüllte ich ziemlich unbesonnen: »Ich bin ja nicht der Schnitzler, ihr Trottel!« Jetzt erwartete ich, gelyncht zu werden. Stattdessen sagte einer der Vordersten der offenbar über seine Jahre gebildet war, seelenruhig: »Dös macht aa nix. Hoch Föld!«
Uebrigens der Unfug hat auch seine Vorteile. Oder vielmehr: er hätte sie. Denn bei einer halbwegs merkantilen Veranlagung könnte ich ein glänzender Schnitzler-Schieber werden. Ich finde, daß ich mir ein zwar arbeitsloses aber ganz korrektes Einkommen leichtsinnig entgehen lasse. Artur Schnitzler sollte mir eine sehr erhebliche Rente aussetzen; denn sein persönliches Ansehen, sein Ruf und seine Schätzung in der Stadt liegen in meinen Händen. Es ist gar nicht auszudenken, wie ich ihn kompromittieren könnte! Zum Beispiel – und auch viel harmloser. Denn wenn ich mir ein Auto nehme, dann sagen die Leute: »Natürlich, der Schnitzler! Bei den Auflagen seiner Bücher!« Und wenn ich meinen alten Hut aufsetze, dann versichern sie: »Die Stücke vom Schnitzler ziehen offenbar auch nicht mehr. Wenn man so einen Hut trägt –!«
Aber, wie gesagt, mir fehlt jede großzügige Begabung. Ich bleibe ein kleiner Unternehmer in Schnitzler-Verwechslung und dieser mesquine Betrieb rentiert sich absolut nicht. Offen gestanden, ich zahle drauf dabei. Ich trage schwer am Kopf Artur Schnitzlers. Es ist eben kein Vergnügen, ein Artur Schnitzler im übertragenen Wirkungskreis zu sein. Und ich kann mir denken, daß man auf diesem Wege ein verärgerter und gehässiger Mensch wird. Nur hat es mein Schicksal da doch gut mit mir gemeint. Vom Neid erlöst nur eins: die Liebe. Und mit einem verehrten und lieben Meister verwechselt zu werden, hat auch manchmal ein Schönes: man fühlt seine Nähe.