Gestern hat das
Burgtheater »
Agnes Jordan« von
Georg Hirschfeld
aufgeführt. Der Erfolg war beträchtlich und widerspruchslos, nach dem zweiten
Aufzug sehr stark. So schien also das
Wiener Publikum
dem Urtheil der
Berliner nicht beizustimmen, denen
das gleiche Drama vor zwei Jahren nur wenig gefiel. Freilich spielten
dort und
damals Motive mit,
welche für
hier und
jetzt nicht
in Betracht kamen. Die »
Agnes Jordan« war das
zweite Stück des jungen Dichters, der mit seinem Erstlingswerk »
Die Mütter« eine große Wirkung erzielt
hatte und mit einem Schlag nahezu berühmt geworden war. Gegen das zweite Stück eines
solchen Autors ist das Publikum von vornherein ein wenig gereizt und die Kritik nicht
minder. Es kam noch das Geschwätz der Foyer-Leute hinzu, dem mancherlei Persönliches
über alle Maßen wichtig schien. So war allerlei bereit, um das Urtheil zu
verwirren.
Ich weiß nicht, ob die laue
Berliner Aufnahme der
einzige Grund war, daß man hier auf das Stück so lange warten mußte. Sicher ist
jedenfalls, daß die Intendanz oder der Obersthofmeister – mit einem Worte: die der
Direktion vorgesetzten Behörden – gegen die ursprüngliche Fassung des Schauspiels
bescheidene Einwendungen erhoben. Es spielt in jüdischen Kreisen, und man darf
vielleicht sagen, daß wenig Anderes dem Dichter so gut gelungen ist, wie gerade das
Verbreiten der charakteristischen Atmosphäre um die Personen seines Stückes. Man
konnte also gewisse Persönlichkeiten fortstreichen; die jüdische Seele des Stücks
wird naturgemäß wenig berührt. Man wird im Uebrigen fragen,
warum die »vorgesetzten Behörden« das Jüdische aus dem Stück entfernt haben
wollten; sittliche oder religiöse Bedenken konnten nicht maßgebend sein, überdies
ist
das Stück so frei von philosemitischer als antisemitischer Tendenz. Aber die
Empfindlichkeit in beiden Lagern, die sehr begreifliche, wenn auch übertriebene bei
den Juden und die wenig berechtigte, aber in ihren Aeußerungen um so unverschämtere
bei den Antisemiten, ist durch die bekannten Verhältnisse in
Wien so gestiegen, daß auch die objektivste Darstellung der
jüdischen Gesellschaft auf dem Theater – wie heißt nur der behördliche Ausdruck? –
als »mißliebig« empfunden werden könnte. Nur
Shylock und
Schmock dürfen vorläufig im
Burgtheater ihr
Judenthum aufrichtig bekennen; und der lächerliche Reporter in
Lindau’s »
Erfolg« darf es ahnen lassen; im Uebrigen gibt es keine
konfessionellen Unterschiede – auf der Bühne des
Burgtheaters, und so ist es nahezu die einzige Stätte, wo die
Staatsgrundgesetze in
Oesterreich beachtet
werden; wenigstens während der Vorstellungen.
Um auf das Drama selbst zu kommen, so ist es bei aller schönen Intention im Entwurf
und bei vorzüglichen Einzelheiten im Ganzen nicht geglückt. Bei der Lektüre hat es bei weitem reiner auf mich gewirkt als von
der Bühne herab und ich fühlte mich gestern versucht, die Frage, ob es überhaupt
möglich wäre, ein Frauenschicksal vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Lebensjahre
in
wenigen Stunden innerhalb der geltenden dichterischen, theatralischen und
schauspielerischen Gesetze bühnenmäßig aufzurollen – verneinend zu beantworten. Und
doch, bei weiterem Nachdenken, vermochte ich mir nicht zu verhehlen, daß man dem
angestrebten Ziele mindestens näher kommen könnte, als es dem Dichter der »
Agnes Jordan« gelungen ist.
Hirschfeld nennt sein Stück ein Schauspiel in vier Akten (früher
waren es 5, jetzt ist der 3. und 4. in
einen
zusammengezogen). In Wahrheit hat es nur einen Akt, zwei Vorspiele und ein Nachspiel;
eben die ganze
dramatische Existenz der Heldin ist in dem
einen (jetzt) dritten Akt beschlossen. Hier entstehen Konflikte und werden gelöst;
hier gibt es einen Anfang und ein Ende, und es ist ein ergreifendes bürgerliches
Schauspiel in einem Akt. (In Wahrheit und rein technisch genommen sind es eben doch
drei sehr kurze
.) Vielleicht war das Problem überhaupt so zu lösen, daß der Dichter
noch eine Anzahl bürgerlicher Schauspiele aus dem Leben der Frau Jordan geschrieben
hätte; nur war es dann geboten, nicht nur Epochen zu wählen, in denen Konflikte am
leichtesten entstehen, sondern auch diese Konflikte zu finden. Wie das Stück jetzt
dasteht, hat man insbesondere dem zweiten und letzten Akte gegenüber die Empfindung
dichterischer Willkür ohne die letzte künstlerische Weisheit; und man fühlt: es gäbe
noch mindestens ein Dutzend Akte aus dem Leben der Frau Jordan, die gerade so
interessant oder interessanter wären, als die vom Dichter gewählten; und wenn wir
im
Einzelnen noch immer die
Möglichkeit der Geschehnisse
zugeben müssen, so fehlt ihnen doch die absolute
Nothwendigkeit.
Die Einzeldramen, welche ich mir an Stelle der geschaffenen Akte denke, könnten
freilich auch nur in einem losen Zusammenhang stehen, und die Gefahren des »Jahre
vergingen –« das im Roman so leichtfertig zu wirken pflegt, wären in keinem
Falle ganz zu vermeiden. Immerhin drängt sich mir die Frage auf: ob es ein Dichter
von
höchstem Range bei vollendeter Reife nicht verstanden
hätte, einzelne Akte so sehr mit einem
Duft von
Vergangenheit und Zukunft zu erfüllen, daß er gleichsam in die Zwischenakte
ausströmen und dem Zuhörer so die Illusion eines steten Zusammenlebens mit den
Menschen des Stücks erregen müßte? – Nur so kann ich mir das wirkliche
Drama der Frau
Agnes Jordan denken, das
zugleich ein amüsantes Theaterstück wäre und ein abgeschlossenes Kunstwerk.
Der Dialog, der meist von der angenehmsten wie frischesten Natürlichkeit ist, wird
zuweilen durch preciöse wie etwas pretentiöse Stellen unterbrochen; leider am
häufigsten, wenn Frau
Jordan zu
reden anfängt. Daß sie auch ihre Redeweise dem hochbegabten Lieblings-Sohne Ludwig
vererbt, ist eine überflüssige Feinheit des Dichters, die Figuren aber, die er in
dem
Schwengel Jordan wie in dem tief empfindenden Onkel Krebs geschaffen hat, müssen
bleiben; besonders in der Schilderung des letztern (der von
Sonnenthal schön gespielt und schlecht gesprochen wurde) hat
Hirschfeld wieder sein bei jungen Autoren
besonders seltenes Talent für die Gestaltung alternder und alter Menschen gezeigt.
Die Aufführung war im Ganzen sehr gut. Herr
Reimers als
Jordan im Anfang charakteristisch, später wenigstens wirksam; Frau
Hohenfels als Agnes die Vollendung selbst.
–rm–