–rm–: Wiener Burgtheater. (»Agnes Jordan« von Georg Hirschfeld), 25. 10. 1899

Wien, 21. October.
Gestern hat das Burgtheater »Agnes Jordan« von Georg Hirschfeld aufgeführt. Der Erfolg war beträchtlich und widerspruchslos, nach dem zweiten Aufzug sehr stark. So schien also das Wiener Publikum dem Urtheil der Berliner nicht beizustimmen, denen das gleiche Drama vor zwei Jahren nur wenig gefiel. Freilich spielten dort und damals Motive mit, welche für hier und jetzt nicht in Betracht kamen. Die »Agnes Jordan« war das zweite Stück des jungen Dichters, der mit seinem Erstlingswerk »Die Mütter« eine große Wirkung erzielt hatte und mit einem Schlag nahezu berühmt geworden war. Gegen das zweite Stück eines solchen Autors ist das Publikum von vornherein ein wenig gereizt und die Kritik nicht minder. Es kam noch das Geschwätz der Foyer-Leute hinzu, dem mancherlei Persönliches über alle Maßen wichtig schien. So war allerlei bereit, um das Urtheil zu verwirren.
Ich weiß nicht, ob die laue Berliner Aufnahme der einzige Grund war, daß man hier auf das Stück so lange warten mußte. Sicher ist jedenfalls, daß die Intendanz oder der Obersthofmeister – mit einem Worte: die der Direktion vorgesetzten Behörden – gegen die ursprüngliche Fassung des Schauspiels bescheidene Einwendungen erhoben. Es spielt in jüdischen Kreisen, und man darf vielleicht sagen, daß wenig Anderes dem Dichter so gut gelungen ist, wie gerade das Verbreiten der charakteristischen Atmosphäre um die Personen seines Stückes. Man konnte also gewisse Persönlichkeiten fortstreichen; die jüdische Seele des Stücks wird naturgemäß wenig berührt. Man wird im Uebrigen fragen, warum die »vorgesetzten Behörden« das Jüdische aus dem Stück entfernt haben wollten; sittliche oder religiöse Bedenken konnten nicht maßgebend sein, überdies ist das Stück so frei von philosemitischer als antisemitischer Tendenz. Aber die Empfindlichkeit in beiden Lagern, die sehr begreifliche, wenn auch übertriebene bei den Juden und die wenig berechtigte, aber in ihren Aeußerungen um so unverschämtere bei den Antisemiten, ist durch die bekannten Verhältnisse in Wien so gestiegen, daß auch die objektivste Darstellung der jüdischen Gesellschaft auf dem Theater – wie heißt nur der behördliche Ausdruck? – als »mißliebig« empfunden werden könnte. Nur Shylock und Schmock dürfen vorläufig im Burgtheater ihr Judenthum aufrichtig bekennen; und der lächerliche Reporter in Lindau’s »Erfolg« darf es ahnen lassen; im Uebrigen gibt es keine konfessionellen Unterschiede – auf der Bühne des Burgtheaters, und so ist es nahezu die einzige Stätte, wo die Staatsgrundgesetze in Oesterreich beachtet werden; wenigstens während der Vorstellungen.
Um auf das Drama selbst zu kommen, so ist es bei aller schönen Intention im Entwurf und bei vorzüglichen Einzelheiten im Ganzen nicht geglückt. Bei der Lektüre hat es bei weitem reiner auf mich gewirkt als von der Bühne herab und ich fühlte mich gestern versucht, die Frage, ob es überhaupt möglich wäre, ein Frauenschicksal vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Lebensjahre in wenigen Stunden innerhalb der geltenden dichterischen, theatralischen und schauspielerischen Gesetze bühnenmäßig aufzurollen – verneinend zu beantworten. Und doch, bei weiterem Nachdenken, vermochte ich mir nicht zu verhehlen, daß man dem angestrebten Ziele mindestens näher kommen könnte, als es dem Dichter der »Agnes Jordan« gelungen ist. Hirschfeld nennt sein Stück ein Schauspiel in vier Akten (früher waren es 5, jetzt ist der 3. und 4. in einen zusammengezogen). In Wahrheit hat es nur einen Akt, zwei Vorspiele und ein Nachspiel; eben die ganze dramatische Existenz der Heldin ist in dem einen (jetzt) dritten Akt beschlossen. Hier entstehen Konflikte und werden gelöst; hier gibt es einen Anfang und ein Ende, und es ist ein ergreifendes bürgerliches Schauspiel in einem Akt. (In Wahrheit und rein technisch genommen sind es eben doch drei sehr kurze.) Vielleicht war das Problem überhaupt so zu lösen, daß der Dichter noch eine Anzahl bürgerlicher Schauspiele aus dem Leben der Frau Jordan geschrieben hätte; nur war es dann geboten, nicht nur Epochen zu wählen, in denen Konflikte am leichtesten entstehen, sondern auch diese Konflikte zu finden. Wie das Stück jetzt dasteht, hat man insbesondere dem zweiten und letzten Akte gegenüber die Empfindung dichterischer Willkür ohne die letzte künstlerische Weisheit; und man fühlt: es gäbe noch mindestens ein Dutzend Akte aus dem Leben der Frau Jordan, die gerade so interessant oder interessanter wären, als die vom Dichter gewählten; und wenn wir im Einzelnen noch immer die Möglichkeit der Geschehnisse zugeben müssen, so fehlt ihnen doch die absolute Nothwendigkeit.
Die Einzeldramen, welche ich mir an Stelle der geschaffenen Akte denke, könnten freilich auch nur in einem losen Zusammenhang stehen, und die Gefahren des »Jahre vergingen –« das im Roman so leichtfertig zu wirken pflegt, wären in keinem Falle ganz zu vermeiden. Immerhin drängt sich mir die Frage auf: ob es ein Dichter von höchstem Range bei vollendeter Reife nicht verstanden hätte, einzelne Akte so sehr mit einem Duft von Vergangenheit und Zukunft zu erfüllen, daß er gleichsam in die Zwischenakte ausströmen und dem Zuhörer so die Illusion eines steten Zusammenlebens mit den Menschen des Stücks erregen müßte? – Nur so kann ich mir das wirkliche Drama der Frau Agnes Jordan denken, das zugleich ein amüsantes Theaterstück wäre und ein abgeschlossenes Kunstwerk.
Der Dialog, der meist von der angenehmsten wie frischesten Natürlichkeit ist, wird zuweilen durch preciöse wie etwas pretentiöse Stellen unterbrochen; leider am häufigsten, wenn Frau Jordan zu reden anfängt. Daß sie auch ihre Redeweise dem hochbegabten Lieblings-Sohne Ludwig vererbt, ist eine überflüssige Feinheit des Dichters, die Figuren aber, die er in dem Schwengel Jordan wie in dem tief empfindenden Onkel Krebs geschaffen hat, müssen bleiben; besonders in der Schilderung des letztern (der von Sonnenthal schön gespielt und schlecht gesprochen wurde) hat Hirschfeld wieder sein bei jungen Autoren besonders seltenes Talent für die Gestaltung alternder und alter Menschen gezeigt. Die Aufführung war im Ganzen sehr gut. Herr Reimers als Jordan im Anfang charakteristisch, später wenigstens wirksam; Frau Hohenfels als Agnes die Vollendung selbst.
–rm–