II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 473

14: Der Schleien der Beatrice
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grossen Menschen nichts anzufangen wusste, lässt sich ebenfalls
begreifen. Aber wir haben doch die mitternächtigen Weisen der
Kritik! Welch dankbare Aufgabe für sie, zu belehren oder zu
erziehen! Oder waren die Herren etwa wieder sverrohte? Ach
nein, schlimmer als das! Sie waren ebenso verständnislos wie
ihr Publicum, dessen unbewusste Rückständigkeit in Worte zu
fassen ja ihr Beruf ist. Von der verstehenden Menschlichkeit,
mit der die hilflose verlogen-wahre Beatrice vom Dichter ge¬
zeichnet ward, ahnten sie nichts. Sie sahen nur Launen, wo
eine unerschütterte poetische Bewusstheit waltete. Die tiefe
Künstlersehnsucht des Filippo, einem — sei es auch arm¬
seligen — Geschöpfe der Schöpfer zu sein, der furchtbare
Schmerz der Vereinsamung, der die Grössten so oft zum Wahn¬
sinn, zur Selbstvernichtung oder zur Menschenverachtung treibt,
scheint ihnen ein artistisches Raffinement. Der im Bewusstsein
seiner Kraft gütig-stolze Herzog ist für die Vorsprecher drama¬
turgischer Erkenntnisse ein geschwätziger Schwachkopf. Mit!
blöden Augen mäkeln sie an der Farbenpracht dieses bunten
Bildes, dessen leuchtende Farben uns an die grossen Meister
des wiedergeborenen Italien erinnern. Ja, sie weisen sogar auf
das Boulevarddrama Maeterlinck’s preisend, auf dieses un¬
echte, geschwitzige und seichte Stück, das von einem scenischen
Tric lebt! Die Monna Vannas, die im Schatten Sardou's
geschrieben wurde, ist fast von der gesammten Kritik als uner¬
reichtes Vorbild für den =Schleier der Beatrices ange¬
führt worden! Und schliesslich haben die klugen Richter
Schnitzler unwillig in die Lade gesteckt, die sie für ihn
seinerzeit angefertigt haben. Er hat sich in kluger Selbstzucht
weit über seine gefälligen Anfänge entwickelt, ist Bürger von
Genieland geworden — sie aber treiben ihn mit sanfter Mahnung
wieder zu der hübschen coméaie larmoyante, von der er kam, zur
„Liebeleis. Soisterallgemach überseinen Erfolg hinausgewachsen.
Dies ist das Publicum, dies die Schauspielkunst, dies die
Kritik unserer Tage. Man kann kein lehrreicheres Beispiel
finden — für die Verrohung unseres Theaters. Es hat sein
wahres Gesicht erschreckend gezeigt, da der =Schleier der
Beatrices fiel.

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Das Gewissen.
Von Hermann Hafner. (Liegnitz.)
Als die weisen Rechtsbonzen das Gewissen eingesperrt und hundert
wachsame Hüter bestellt hatten, die es bei Todesstrafe hinter Schloss und
W. M. Doroschewitsch, der feine und geistreiche russische
Poet, der sich mit seinen orientalischen Märchen auch in Deutschland eine
Gemeinde von Verstehern eroberte, hat in seiner Satire, „Das Ge¬
wissen- die Entstehung des -Rechtese mit Dichterweisheit gekündet. Wir
haben gesehen, wie des im Kampfe mit den edleren Regungen enstand,
eine Erfindung werkheiliger Heuchelei. Der hübschen Skizze, die hier kürz¬
lich (XLII, 136—146) wiedergegeben war, hat Hermann Hafner diese noth¬
wendige Ergänzung geschrieben.