4.9. Anatol - Zyklus
box 8/6
Leitmeritz. (Oeffentliche Eisenbahnerver¬
sammlung.) Sonntag, den 8. Oktober, nachm. halb
3 Uhr, findet im Elbschloßpavillon eine freie Eisenbahner¬
versammlung mit der Tagesordnung: „Die Forderungen
der österr. Eisenbahner aller Kategorien" statt. Eisen¬
bahner, besucht zahlreich diese wichtige Versammlung!
Leitmeritz. (Eine Maßregelung.) Wegen eines
in der letzten Samstagnummer im „Volksrecht" erschie¬
nenen Artikels aus der Lederfabrik wurde, wie uns mit¬
geteilt wird, der Arbeiter Wenzel Stefan aus Schütte¬
nit entlassen. Wenn es der Wahrheit entspricht, daß
Stefan aus diesem Grunde entlassen wurde, so kommt
dieser Arbeiter sehr unschuldig dazu, denn er hat den
Artikel weder geschrieben noch steht er ihm nahe, denn
Stefan ist nicht einmal unser Parteigenosse, sondern ein
patriotisch gesinnter, unaufgeklärter Mann. Die Verhält¬
nisse in der Lederfabrik unter der jetzigen Leitung sind
uns schon seit langem bekannt und werden wir uns ein¬
mal der Mühe unterziehen, eine Blumenlese unter der
Ueberschrift „Das neue Regie, oder „Wie man sich der
denkenden Arbeiter entledigt schreiben
Theater, Kunst und Wissenschaft.
Anatol. Ein Spiel in fünf Szenen von Artur
chnitzler. Eigentlich hat der Autor unter dem
ten dem Namen des Helden der einzelnen
Szenen, sieben Einter zusammengefaßt. Fünf davon
gelangten am Freitag auf unserer Bühne zur Wieder¬
gabe. Anatol, das ist der ohne eine beschönigende
Glasur hingestellte Lebemann, und die fünf Akte sind
fünf Erlebnisse in seinem Liebesleben, wahr und natür¬
lich gezeichnet. Anatol schreitet über alle hinweg und
doch: er verträgt es nicht, daß eine seiner Freun¬
dinnen über ihn hinwegschreitet; er soll derzeit der
Einzige in ihren Leben sein und es bleiben, solange es
ihm beliebt. Der eingebildete, skrupellose und dann in
der Erinnerung an diese und jene schöne Stunde senti¬
mentale Herrscher in der Damenwelt. Der Dialog ist
frisch, ansprechend und zeigt prächtige Formen.
Die einzelnen Akte haben kurz folgenden Inhalt:
1. Die Frage an das Schicksal. Anatol zwei¬
felt an der Treue seiner Geliebten. Sein Freund Max
rät ihm, ihr in der Hypnose das Bekenntnis zu entreißen,
ob Anatol der Einzige ist, dem sie ihre Gunst schenkt.
Prächtig wird nun dargestellt, wie Anatol Schritt für
Schritt zurückweicht; er könne doch nicht klar fragen,
gewiß, sie habe vor ihm auch geliebt. Schließlich, sie
könne doch auch in Versuchung geraten sein, seit sie ihn
liebe, in irgend einem betäubenden Zustand, das ent¬
schuldige. Er will nicht wissen, ob er allein begünstigt
wird, mit einem „Wach auf — und küsse mich!“ been¬
digt er die Hypnose, denn sie liebt ihn ja doch — jetzt
wenigstens — und das genügt. — 2. Weihnachts¬
einkäufe. Anatol trifft, da er „einem süßen Mädel
ein Weihnachtsgeschenk kaufen will, eine ihm bekannte
jung verheiratete Frau. Sie plaudern, suchen zusammen
ein passendes Geschenk und Anatol muß beichten, für
wen, wie es dort bei „dem süßen Mädel" sei und sie
erfährt es in begeisterten Worten, hört von einer Liebe
heißlodernd, lebensfroh, die Frau kennt selbst dergleichen
nicht. Ein Geschenk finden sie nicht, da gibt die Frau
Anatol ein Blumensträuchen, er möge es dem Mädchen
bringen mit den Worten: „Diese Blumen, mein . . .
süßes Mädel schickt Dir eine Frau, die vielleicht ebenso
lieben kann wie Du und die den Mut dazu nicht
hatte..." 3. Abschieds=Souper, Anatol will
heute das Letztemal mit Annie soupieren, er hat eine
neue Freundin gefunden. Also will er es der
Annie heute beibringen und hat sich zum Bei¬
stand seinen Freund mitgenommen. Während des
Souper erzählt aber Annie selbst, daß sie heute von
Anatol scheiden will, ein Anderer sage ihr mehr zu.
Anatol, der das Gleiche, die Trennung, erreichen wollte,
wird ärgerlich, daß ihm gekündigt wird, statt daß er
der Absagende ist, Grobheiten.... 4. Episode.
Sie war für Anatol ganz besonders eine Episode, zwei
Stunden lang, und er glaubte sich von ihr mehr denn
je geliebt, er meinte, sie werde diese Stunden nie aus
ihrem Sinn schaffen können. Nun steht er im Zimmer
seiner Freunde. Nach Jahren war sie, eine Zirkus¬
künstlerin, wieder in diese Stadt zurückgekehrt; nun tritt
sie in das Zimmer von Anatols Freund. Diesem galt
ihr Besuch, und als Anatol vortritt — kennt sie ihn
nicht mehr. „Man kann sich doch nicht an Alles er¬
innern. — Anatols Hochzeitsmorgen. Ana¬
box 8/6
Leitmeritz. (Oeffentliche Eisenbahnerver¬
sammlung.) Sonntag, den 8. Oktober, nachm. halb
3 Uhr, findet im Elbschloßpavillon eine freie Eisenbahner¬
versammlung mit der Tagesordnung: „Die Forderungen
der österr. Eisenbahner aller Kategorien" statt. Eisen¬
bahner, besucht zahlreich diese wichtige Versammlung!
Leitmeritz. (Eine Maßregelung.) Wegen eines
in der letzten Samstagnummer im „Volksrecht" erschie¬
nenen Artikels aus der Lederfabrik wurde, wie uns mit¬
geteilt wird, der Arbeiter Wenzel Stefan aus Schütte¬
nit entlassen. Wenn es der Wahrheit entspricht, daß
Stefan aus diesem Grunde entlassen wurde, so kommt
dieser Arbeiter sehr unschuldig dazu, denn er hat den
Artikel weder geschrieben noch steht er ihm nahe, denn
Stefan ist nicht einmal unser Parteigenosse, sondern ein
patriotisch gesinnter, unaufgeklärter Mann. Die Verhält¬
nisse in der Lederfabrik unter der jetzigen Leitung sind
uns schon seit langem bekannt und werden wir uns ein¬
mal der Mühe unterziehen, eine Blumenlese unter der
Ueberschrift „Das neue Regie, oder „Wie man sich der
denkenden Arbeiter entledigt schreiben
Theater, Kunst und Wissenschaft.
Anatol. Ein Spiel in fünf Szenen von Artur
chnitzler. Eigentlich hat der Autor unter dem
ten dem Namen des Helden der einzelnen
Szenen, sieben Einter zusammengefaßt. Fünf davon
gelangten am Freitag auf unserer Bühne zur Wieder¬
gabe. Anatol, das ist der ohne eine beschönigende
Glasur hingestellte Lebemann, und die fünf Akte sind
fünf Erlebnisse in seinem Liebesleben, wahr und natür¬
lich gezeichnet. Anatol schreitet über alle hinweg und
doch: er verträgt es nicht, daß eine seiner Freun¬
dinnen über ihn hinwegschreitet; er soll derzeit der
Einzige in ihren Leben sein und es bleiben, solange es
ihm beliebt. Der eingebildete, skrupellose und dann in
der Erinnerung an diese und jene schöne Stunde senti¬
mentale Herrscher in der Damenwelt. Der Dialog ist
frisch, ansprechend und zeigt prächtige Formen.
Die einzelnen Akte haben kurz folgenden Inhalt:
1. Die Frage an das Schicksal. Anatol zwei¬
felt an der Treue seiner Geliebten. Sein Freund Max
rät ihm, ihr in der Hypnose das Bekenntnis zu entreißen,
ob Anatol der Einzige ist, dem sie ihre Gunst schenkt.
Prächtig wird nun dargestellt, wie Anatol Schritt für
Schritt zurückweicht; er könne doch nicht klar fragen,
gewiß, sie habe vor ihm auch geliebt. Schließlich, sie
könne doch auch in Versuchung geraten sein, seit sie ihn
liebe, in irgend einem betäubenden Zustand, das ent¬
schuldige. Er will nicht wissen, ob er allein begünstigt
wird, mit einem „Wach auf — und küsse mich!“ been¬
digt er die Hypnose, denn sie liebt ihn ja doch — jetzt
wenigstens — und das genügt. — 2. Weihnachts¬
einkäufe. Anatol trifft, da er „einem süßen Mädel
ein Weihnachtsgeschenk kaufen will, eine ihm bekannte
jung verheiratete Frau. Sie plaudern, suchen zusammen
ein passendes Geschenk und Anatol muß beichten, für
wen, wie es dort bei „dem süßen Mädel" sei und sie
erfährt es in begeisterten Worten, hört von einer Liebe
heißlodernd, lebensfroh, die Frau kennt selbst dergleichen
nicht. Ein Geschenk finden sie nicht, da gibt die Frau
Anatol ein Blumensträuchen, er möge es dem Mädchen
bringen mit den Worten: „Diese Blumen, mein . . .
süßes Mädel schickt Dir eine Frau, die vielleicht ebenso
lieben kann wie Du und die den Mut dazu nicht
hatte..." 3. Abschieds=Souper, Anatol will
heute das Letztemal mit Annie soupieren, er hat eine
neue Freundin gefunden. Also will er es der
Annie heute beibringen und hat sich zum Bei¬
stand seinen Freund mitgenommen. Während des
Souper erzählt aber Annie selbst, daß sie heute von
Anatol scheiden will, ein Anderer sage ihr mehr zu.
Anatol, der das Gleiche, die Trennung, erreichen wollte,
wird ärgerlich, daß ihm gekündigt wird, statt daß er
der Absagende ist, Grobheiten.... 4. Episode.
Sie war für Anatol ganz besonders eine Episode, zwei
Stunden lang, und er glaubte sich von ihr mehr denn
je geliebt, er meinte, sie werde diese Stunden nie aus
ihrem Sinn schaffen können. Nun steht er im Zimmer
seiner Freunde. Nach Jahren war sie, eine Zirkus¬
künstlerin, wieder in diese Stadt zurückgekehrt; nun tritt
sie in das Zimmer von Anatols Freund. Diesem galt
ihr Besuch, und als Anatol vortritt — kennt sie ihn
nicht mehr. „Man kann sich doch nicht an Alles er¬
innern. — Anatols Hochzeitsmorgen. Ana¬