4.9. Anatol-
Zyklu-
Francisco, Stockholm, St. Per¬
hnitt aus:
Die
on
nie
Schaubühne und Kunst.
Aussiger Stadttheater.
Aus der Theaterkanzlei.) Heute findet
die Abschieds=Vorstellung statt. Zur Aufführung ge¬
langt Gerhart Hauptmanns Versunkene Glocke
mit Hofschauspieler Alfred Gereich in der Rolle des
Meister Heinrich als Gast. Frau Eich Schwabacher¬
Walter hat wieder in liebenswürdigster Weise die Rolle
des Rautendelein übernommen, mit welcher sie an¬
läßlich der stattgefundenen Wohltätigkeits=Vorstellung
einen vollen künstlerischen Erfolg errang. Den wohl¬
tätigen Zwecken wurde von der Leitung die gesamte
Brutto=Einnahme im Betrage von Kronen 1548.
abgeführt.
„Anatol, Lustspiel von Arthur
Aufführung zu Gunsten der Damen: Berger, Freya
Hiller, Kriß, Möser, Maylor und der Herren: von
Plessen und Serbouset am Samstag, den 28. April.
Also für sechs Damen und zwei Herren ein
Ehrenabend mit Lustspielen aus drei geistreichen
Stücklein von Arthur Schnitzler. Das liebenswürdigste
Lustspielchen daraus: Die Frage an das Schicksal,
das kein geistreiche Franzose geistreicher machen kann,
blieb leider weg. Aber auch die beiden anderen Ab¬
schieds=Souper und Anatols Hochzeitsmorgen sind un¬
terhaltend, wenn sie auch nicht tiefer befriedigen kön¬
nen. Im Abschieds=Souper will Anatol, daß
sein Freund Max zugegen sei, wenn er seiner Freun¬
din Anni erklärt, daß es zwischen ihnen aus sein
müsse. Die Freundin kommt ihm zuvor und teilt
ihm beim Abendessen mit, daß sie nach früheren
Vereinbarung ihm heute erkläre, sie liebe einen an¬
deren. Darüber ist Anatol aufgeregt und gesteht ihr
nun erst seine Untreue, worauf sie ihn empört ver¬
läßt. Am Hochzeitsmorgen beichter Anatol sei¬
nem Freunde Max, der kurz vor der Trauung wegen
der Farbe des Blumenstraußes für seine Dame fra¬
box 9/2
Schaubühne, Berlin
adelante
Schnitzler=Abend
reimal Anatol — Ein Schler=Abend hätte sich abwechslungsreicher
zusammenstelten lassen. Anatol wird dreimal von derselben Seite
gezeigt. Wenn er weiter keine Seite hat? Eben drum reichts aus, ihn
ein Mal von dieser Seite zu zeigen. Er ist ein homme à femmes, der
vielen Frauen unwiderstehlich ist, und dem alle Frauen unwiderstehlich
sind. Was schon im Frieden nicht mehr das ganze Leben der Frau aus¬
gemacht hat, macht noch das ganze Leben dieses Männchens aus¬
Schnitzler selbst ist längst über diesen Typus hinausgewachsen. Die Ehe¬
leute im „Zwischenspiel etwa (das doch zu seinen Nebenwerken gehört)
sind Erotiker bis über die Ohren: zugleich sind sie geniale Musiker, die
Frau nicht minder als der Mann. Anatol aber verrät mit keiner
Silbe, ob er eine menschenähnliche Existenz führt, geteilt zwischen die ver¬
schiedensten Interessen, eine Existenz, in der die Liebe ihren Platz hat
und nicht alles beherrscht. Er kennt nur Einen Gesprächsgegenstand: die
Liebe. Himmel und Erde bewegen sich für ihn nur um Einen Po¬
die Liebe. Er ist sich nur des Einen Triebs bewußt. Ein Dichter vo
Schnitzlers Geist und Kulturgefühl läßt die Geschöpfe seiner Phantasie
die Objekte seiner Beobachtung dauernd das Tier mit den zwei Rücken¬
spielen oder sich zu dieser Beschäftigung rüsten oder sich von ihr erholen
oder sich im besten Fall vergeblich nach ihr sehnen. Dreimal Anatol¬
da wird nicht einmal angedeutet, daß noch die idyllischste Friedenszeit
andre Ideen, Nöte, Strömungen und Ziele gehabt hat. Das ist eine
Welt, das heißt eine Welt! An sich ist dieses Weltchen zweifellos mit
Meisterschaft gezeichnet. Der Zyklus hat einen Akt (den das Theater der
Königgrätzer Straße nicht spielt, worin von der Aufrichtigkeit ermüdeter
Lügner gesprochen wird; und wenn Anatol sie auch nicht hat, sondern
durchaus nicht ermüdet, zu lügen, so ist es doch diese Stimmung von
ironischer Wehmut und melancholischer Heiterkeit, die der Reihe die
psychologische Wahrheit und die künstlerische Einheit gibt. Wir spazieren
behaglich um die Liebe im allgemeinen, unterscheiden allerlei Sonder¬
arten von Liebe, erfahren unüberrascht, daß weder Männer noch Frauen
monogam sind, und wünschten für eine dramatische Steigerung nur, daß
Anatol, dem jede Frau, mehr oder weniger schnell, langweilig wird,
genügend Ressourcen in sich hätte, um in jedem Fall uns nicht noch
schneller langweilig zu werden. Diese Gefahr hat Schnitzler, tief, allzu
tief in sein Weltchen, sein Lustwelchen eingesponnen, ganz und gar über¬
schen: daß sein Anatol, im Geiste schwach, im Herzen arm, auch als
purer Liebhaber, als Viveur im oberflächlichsten Sinne kein genügend
reizvolles launenhaftes, schillerndes Exemplar seiner Gattung ist. Nach
zwanzig Minuten kennt man ihn auswendig. Dann beginnt er, uns zu
verdrießen. Schließlich droht er unerträglich zu werden. Die Rettung
ist, daß er in einen handfesten Schwank wie das Abschiedssouper gestellt
wird. Aber zur reinen Freude wird dieser Schnitzler=Abend doch erst
wenn sich Anatol abgeschminkt hat. Wenn der andächtige, sogar lächelnd
noch andächtige Schilderer eines Lustwäldchens von spezifischer Färbung
sich lachend darüber erhebt. Wenn er dem Dunstkreis seines Metiers
so weit entschlüpft, daß er diesen selber satirisch beschwören kann. „Lite¬
ratur: das ist ein so meisterhaftes Stück Kleinarbeit, daß es nach fünf¬
zehn Jahren keinerlei Altersspuren zeigt. Was es jung erhält? Ein Wie
der niemals vom Dichter gemacht wird, sondern organisch aus der Turf¬
Atmosphäre eines sanft blödelnden Barons oder aus der Caféhaus¬
Atmosphäre eines versnobten Bohèmepaares herausspringt und ein¬
quellende Dichtigkeit hat. Essenz, von der sich Generationen deutscher
Lustspielautoren ihr Süppchen kochen werden. Ein Standwerk unseres
Einaktervorrats, auf das man immer wieder zurückgreifen wird. Von
Anatol durch die artistische Entwicklung und die menschliche Erfahrung
eines Lebens getrennt; was das Theater dadurch bekräftigte, daß es die
Pause, statt in die Mitte des Abends, vor den vierten Teil setzte. Auch
seine Schauspielkunst war durch einen Abgrund in zwei Lager getrennt.
Hie Eugen Burg, für Anatol nicht mehr fünfundzwanzigjährig genug,
aber ein zwingender Clemens ohne den leisesten Strich Uebertreibung;
Alexander Ekert, für Max nicht mehr schlank genug, aber ein Gilbert
von saftigsten Humoren; die Triesch, keine Adelheid von Walldorf, aber
eine Lustspielcharakteristikerin von blühendem memischen Reichtum. Hie
Fräulein Orska. Was sie gab, sollte Wien sein; und war, wie wenn die
Taxentzenstraße in Brünn und Brünn irgendwo in Galizien läge.
Zyklu-
Francisco, Stockholm, St. Per¬
hnitt aus:
Die
on
nie
Schaubühne und Kunst.
Aussiger Stadttheater.
Aus der Theaterkanzlei.) Heute findet
die Abschieds=Vorstellung statt. Zur Aufführung ge¬
langt Gerhart Hauptmanns Versunkene Glocke
mit Hofschauspieler Alfred Gereich in der Rolle des
Meister Heinrich als Gast. Frau Eich Schwabacher¬
Walter hat wieder in liebenswürdigster Weise die Rolle
des Rautendelein übernommen, mit welcher sie an¬
läßlich der stattgefundenen Wohltätigkeits=Vorstellung
einen vollen künstlerischen Erfolg errang. Den wohl¬
tätigen Zwecken wurde von der Leitung die gesamte
Brutto=Einnahme im Betrage von Kronen 1548.
abgeführt.
„Anatol, Lustspiel von Arthur
Aufführung zu Gunsten der Damen: Berger, Freya
Hiller, Kriß, Möser, Maylor und der Herren: von
Plessen und Serbouset am Samstag, den 28. April.
Also für sechs Damen und zwei Herren ein
Ehrenabend mit Lustspielen aus drei geistreichen
Stücklein von Arthur Schnitzler. Das liebenswürdigste
Lustspielchen daraus: Die Frage an das Schicksal,
das kein geistreiche Franzose geistreicher machen kann,
blieb leider weg. Aber auch die beiden anderen Ab¬
schieds=Souper und Anatols Hochzeitsmorgen sind un¬
terhaltend, wenn sie auch nicht tiefer befriedigen kön¬
nen. Im Abschieds=Souper will Anatol, daß
sein Freund Max zugegen sei, wenn er seiner Freun¬
din Anni erklärt, daß es zwischen ihnen aus sein
müsse. Die Freundin kommt ihm zuvor und teilt
ihm beim Abendessen mit, daß sie nach früheren
Vereinbarung ihm heute erkläre, sie liebe einen an¬
deren. Darüber ist Anatol aufgeregt und gesteht ihr
nun erst seine Untreue, worauf sie ihn empört ver¬
läßt. Am Hochzeitsmorgen beichter Anatol sei¬
nem Freunde Max, der kurz vor der Trauung wegen
der Farbe des Blumenstraußes für seine Dame fra¬
box 9/2
Schaubühne, Berlin
adelante
Schnitzler=Abend
reimal Anatol — Ein Schler=Abend hätte sich abwechslungsreicher
zusammenstelten lassen. Anatol wird dreimal von derselben Seite
gezeigt. Wenn er weiter keine Seite hat? Eben drum reichts aus, ihn
ein Mal von dieser Seite zu zeigen. Er ist ein homme à femmes, der
vielen Frauen unwiderstehlich ist, und dem alle Frauen unwiderstehlich
sind. Was schon im Frieden nicht mehr das ganze Leben der Frau aus¬
gemacht hat, macht noch das ganze Leben dieses Männchens aus¬
Schnitzler selbst ist längst über diesen Typus hinausgewachsen. Die Ehe¬
leute im „Zwischenspiel etwa (das doch zu seinen Nebenwerken gehört)
sind Erotiker bis über die Ohren: zugleich sind sie geniale Musiker, die
Frau nicht minder als der Mann. Anatol aber verrät mit keiner
Silbe, ob er eine menschenähnliche Existenz führt, geteilt zwischen die ver¬
schiedensten Interessen, eine Existenz, in der die Liebe ihren Platz hat
und nicht alles beherrscht. Er kennt nur Einen Gesprächsgegenstand: die
Liebe. Himmel und Erde bewegen sich für ihn nur um Einen Po¬
die Liebe. Er ist sich nur des Einen Triebs bewußt. Ein Dichter vo
Schnitzlers Geist und Kulturgefühl läßt die Geschöpfe seiner Phantasie
die Objekte seiner Beobachtung dauernd das Tier mit den zwei Rücken¬
spielen oder sich zu dieser Beschäftigung rüsten oder sich von ihr erholen
oder sich im besten Fall vergeblich nach ihr sehnen. Dreimal Anatol¬
da wird nicht einmal angedeutet, daß noch die idyllischste Friedenszeit
andre Ideen, Nöte, Strömungen und Ziele gehabt hat. Das ist eine
Welt, das heißt eine Welt! An sich ist dieses Weltchen zweifellos mit
Meisterschaft gezeichnet. Der Zyklus hat einen Akt (den das Theater der
Königgrätzer Straße nicht spielt, worin von der Aufrichtigkeit ermüdeter
Lügner gesprochen wird; und wenn Anatol sie auch nicht hat, sondern
durchaus nicht ermüdet, zu lügen, so ist es doch diese Stimmung von
ironischer Wehmut und melancholischer Heiterkeit, die der Reihe die
psychologische Wahrheit und die künstlerische Einheit gibt. Wir spazieren
behaglich um die Liebe im allgemeinen, unterscheiden allerlei Sonder¬
arten von Liebe, erfahren unüberrascht, daß weder Männer noch Frauen
monogam sind, und wünschten für eine dramatische Steigerung nur, daß
Anatol, dem jede Frau, mehr oder weniger schnell, langweilig wird,
genügend Ressourcen in sich hätte, um in jedem Fall uns nicht noch
schneller langweilig zu werden. Diese Gefahr hat Schnitzler, tief, allzu
tief in sein Weltchen, sein Lustwelchen eingesponnen, ganz und gar über¬
schen: daß sein Anatol, im Geiste schwach, im Herzen arm, auch als
purer Liebhaber, als Viveur im oberflächlichsten Sinne kein genügend
reizvolles launenhaftes, schillerndes Exemplar seiner Gattung ist. Nach
zwanzig Minuten kennt man ihn auswendig. Dann beginnt er, uns zu
verdrießen. Schließlich droht er unerträglich zu werden. Die Rettung
ist, daß er in einen handfesten Schwank wie das Abschiedssouper gestellt
wird. Aber zur reinen Freude wird dieser Schnitzler=Abend doch erst
wenn sich Anatol abgeschminkt hat. Wenn der andächtige, sogar lächelnd
noch andächtige Schilderer eines Lustwäldchens von spezifischer Färbung
sich lachend darüber erhebt. Wenn er dem Dunstkreis seines Metiers
so weit entschlüpft, daß er diesen selber satirisch beschwören kann. „Lite¬
ratur: das ist ein so meisterhaftes Stück Kleinarbeit, daß es nach fünf¬
zehn Jahren keinerlei Altersspuren zeigt. Was es jung erhält? Ein Wie
der niemals vom Dichter gemacht wird, sondern organisch aus der Turf¬
Atmosphäre eines sanft blödelnden Barons oder aus der Caféhaus¬
Atmosphäre eines versnobten Bohèmepaares herausspringt und ein¬
quellende Dichtigkeit hat. Essenz, von der sich Generationen deutscher
Lustspielautoren ihr Süppchen kochen werden. Ein Standwerk unseres
Einaktervorrats, auf das man immer wieder zurückgreifen wird. Von
Anatol durch die artistische Entwicklung und die menschliche Erfahrung
eines Lebens getrennt; was das Theater dadurch bekräftigte, daß es die
Pause, statt in die Mitte des Abends, vor den vierten Teil setzte. Auch
seine Schauspielkunst war durch einen Abgrund in zwei Lager getrennt.
Hie Eugen Burg, für Anatol nicht mehr fünfundzwanzigjährig genug,
aber ein zwingender Clemens ohne den leisesten Strich Uebertreibung;
Alexander Ekert, für Max nicht mehr schlank genug, aber ein Gilbert
von saftigsten Humoren; die Triesch, keine Adelheid von Walldorf, aber
eine Lustspielcharakteristikerin von blühendem memischen Reichtum. Hie
Fräulein Orska. Was sie gab, sollte Wien sein; und war, wie wenn die
Taxentzenstraße in Brünn und Brünn irgendwo in Galizien läge.