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4.9. Anatol - Zyklus
Nr. 43.
648
Die Nation.
funkelnden Wortkunst zu verkünden weiß; frühgereift und
steht, mit der sie sich beschäftigt. Die ganze Homerfrage
bietet reichlich Gelegenheit diese Wahrnehmung zu machen.
zart und traurig.
Selbst der ausgezeichnetste Textkritiker kann kein richtiges
Der gefühlsironische und doch sinnlich sentimentale
Urtheil haben über Fragen der künstlerischen Komposition,
Arthur Schnitzler, der die Komödie unserer Seele,
wenn er nicht selbst künstlerisch denken kann. Der spezifische
Gelehrte freilich betrachtet solch künstlerisches Denken mit
Unseres Fühlens heut und gestern,
kritisch-argwöhnischen Blicken. Besonders merkwürdig er¬
Böser Dinge hübsche Formel,
Glatte Worte, bunte Bilder
scheint es, wenn ein Mann von so hervorragendem Kunst¬
Halbes, heimliches Empfinden
verständniß wie Brunn sich immer als Gelehrter vor dem
Vorwurf subjektiven Empfindens wahren zu müssen glaubt,
mit so wundersamem echtem Duft in sein Buch „Anatol
als ob nicht gerade diese wunderbar entwickelte Subjektivität
verschlossen. Sie alle sind so kluge Künstler, daß sie nur
die epochemachenden Entdeckungen erst ermöglicht hätte, die
produziren wollen, was sie können. Sie schreiben feine
ihn zu dem einzigen wirklichen Nachfolger Winckelmanns ge¬
kleine Bücher, in denen sie nur sich selbst hingeben; und der
macht haben. Das aber ist das Große an Lessing, daß der
ganzen Anlage und der Komposition nach gehört auch nicht
Kritiker zugleich auch schöpferisch thätig war. Der schaffens¬
mehr hinein. Bei einem größer angelegten Roman, der
kräftige Goethe dachte eben nur, insofern er produzirte; und
mit einer weiteren Bühne rechnet, kommt diese Art nicht
wenn er sich auch von Gelehrten den Dichter Homer aus¬
aus; das hat Hollitscher erfahren. Ob er aber für die
reden ließ, er schuf einheitlich sein herrliches Epos. Später,
kleinen Bücher den weichen vollen Anschlag besitzt, daran
als der erfahrene Künstler richtiger über die homerische
möchte ich nach den Gedichten in Prosa dieses Werkes auch
Frage urtheilte, versagte die Schöpferkraft, um die Gedanken
zweifeln.
in Leben umzusetzen. In der Erkenntniß alter Kunst ist
Dieser arme Büßer des Gefühls hat sich nur die
Goethe bis zuletzt groß gewesen, nur weil ihm hier die
Dornenkrone geholt, die gleiche Dornenkrone, die auf dem
Fülle eigner Erfahrung zu Gebote stand. Denn die Gesetze
farbensüchtigen Titelblatt Thomas Theodor Heyne's sein
künstlerischen Schaffens waren zu allen Zeiten dieselben, so
Held aus den ekstatisch spirituellen Händen der Prä¬
sehr auch Stoff und Form in den verschiedenen Jahr¬
raphaëlitin empfängt.
hunderten gewechselt haben. Jeder Künstler muß aus dem
ihm umgebenden Leben dasjenige herausgreifen, was ihm
Felix Poppenberg.
das Wichtigste erscheint, er muß also abstrahiren. Soll aber
solche Abstraktion nicht trocken=schematisch, sondern lebendig¬
natürlich wirken, so muß er sie mit seinem Temperament
befruchten. Künstlerisch Schaffen heißt also aus dem Leben
bestimmte Vorstellungen gewinnen, diese Vorstellungen selbst
aber wieder zum Leben führen. Wie aber der Künstler
sehen soll, darüber hat sich der junge Goethe in dem
Lehren — eine Kunst.
wunderbar frischen Aufsatze über Falkonet so ausgesprochen:
„Er mag die Werkstätte eines Schusters oder einen Stall,
Neuerungssuchtiger ist man wohl zu keiner Zeit auf
er mag das Gesicht seiner ebten, seine Stiefel oder die
dem Gebiete der Schule gewesen als heutzutage. Es kommt
Antike ansehen, überall sieht die heiligen Schwingungen
einem vor, als befände man sich in einem technischen Betrieb,
und leisen Töne, womit die Natur alle Gegenstände ver¬
wo die größten Anstrengungen gemacht werden, um durch
bindet!" Und einen solchen künstlerischen Sinn muß derjenige
ein neues Verfahren die Anlage möglichst konkurrenzfähig
besitzen, der an ein Kunstwerk, was es auch sei, herantritt,
zu erhalten; ja bisweilen hat man den Eindruck, als ob
sich und andern zum Verständniß
das schulmeisterliche Ideal in einem Reichspatent auf einen
Nur aus der unmittelbaren längeren Einwirkung der
Nürnberger Trichter bestände.
Schöpfung eines echten Künstlers auf uns gewinnen wir
Haben sich wirklich Bedürfnisse herausgestellt, Schulen
die Fähigkeit des Urtheils, mag nun diese Schöpfung in
mit einem neuen Lehrplan zu gründen, so versuche man es
unsern Tagen oder vor Tausenden von Jahren entstanden sein.
damit jedenfalls schränke man das unselige Berechtigungs¬
Und so verlangt eine empfängliche Jugend nicht gelehrte
unwesen mit allen Kräften ein und vergesse nie, daß es weit
Erörterungen, die aus hundert und einem Kommentator
weniger darauf ankommt, was, sondern fast allein, wie gelehrt
bienenemsig zusammengelesen sind, sondern den Umsatz
wird. Denn lehren ist wie erziehen eine Kunst und zwar
dichterischer, künstlerischer Gestalten ins unmittelbare Leben.
eine Kunst mit der innerlichsten Technik, die abgesehen vor
Die Schule ist ein vortrefflicher Prüfstein für das, was ein
den gewöhnlichsten Handgriffen jeder sich selbst seiner Natur
ewiges Leben hat, und nur solches verdient unter den
entsprechend herausarbeiten muß. Ebenso wenig aber, wie
Lebendigen behandelt zu werden. Es ist keine Frage, daß
es einem Künstler oder Handwerker einfallen wird, unab¬
dieser künstlerische Gesichtspunkt auf der Schule trotz allen
lässig schreibend oder redend über seine Aufgabe sich zu ver
schönen Redensarten zu kurz kommt. Dem Pedanten liegt
breiten, so wenig sollte das auch einem Lehrer einfallen.
er ebenso fern wie dem Philister — dem deutschen Bildungs¬
Nur nach einer langen Reihe von Erfahrungen entweder
philister, wovon unsere Nation noch immer einen uner¬
auf dem Höhepunkt seines Schaffens oder am Ende eines
schöpflichen Vorrath hat. Der Streber ist auch auf diesem
reichen Lebens läßt es sich erklären, wenn der Künstler
Gebiete sehr akklimatisationsfähig. Am täuschendsten wird
die Summe zieht, wenn er sich und andern klar wird über
es wirken, wenn er selbst eine künstlerische Begabung,
die Wege, die er in der Jugendfrische vielfach unbewußt
nämlich die des Schauspielers besitzt. Das jugendliche Ge¬
eingeschlagen. Damit wird er freilich nur denen nützen
müth wird er dann die ganze Leiter der Gefühle herauf¬
welche ihrer Natur nach ähnliche Wege wandeln; alle andern
führen können. Er kann sittlich religiös, heiter aufgeklärt,
verstehen ihn nicht oder noch schlimmer als das, nur
witzig und rührend, salopp und grob, fein und welt¬
äußerlich. Und eine solche Veräußerlichung wird überall da
männisch, ja genialisch geistreich sein, kurz er kann alles
eintreten, wo individuell errungene Ansichten methodisch
spielen mit jenen mimischen Talenten.
Langeweile
verallgemeinert werden. Man berücksichtigt dabei zu wenig
wenigstens, welche das Charakteristische der ersteren Gattung
die Persönlichkeit des Lehrers, ohne welche doch jede Prin¬
ist, kommt bei ihm nicht vor, und das ist immerhin ein
zipien- und Methodenlehre, und wäre sie die schönste und
Vorzug; wohl aber wird der Schüler, der sich in jugendlicher
edelste der Welt, ein eitel mechanischer Wortapparat ist
Unerfahrenheit hat täuschen lassen durch die blendende
und bleibt.
Schauspielerkunst, um so bitterer dann über den Werth
des Mannes urtheilen, wenn er erst seine eigenen Augen
Ueberhaupt begegnet man im deutschen Gelehrtenleben
hat brauchen lernen. Die einzig sittliche Wirkung des
häufig einer Erscheinung, die sehr zu denken gibt, daß
Unterrichts wird somit verfehlt sein.
nämlich die Person in keinem rechten Verhältniß zur Sache
4.9. Anatol - Zyklus
Nr. 43.
648
Die Nation.
funkelnden Wortkunst zu verkünden weiß; frühgereift und
steht, mit der sie sich beschäftigt. Die ganze Homerfrage
bietet reichlich Gelegenheit diese Wahrnehmung zu machen.
zart und traurig.
Selbst der ausgezeichnetste Textkritiker kann kein richtiges
Der gefühlsironische und doch sinnlich sentimentale
Urtheil haben über Fragen der künstlerischen Komposition,
Arthur Schnitzler, der die Komödie unserer Seele,
wenn er nicht selbst künstlerisch denken kann. Der spezifische
Gelehrte freilich betrachtet solch künstlerisches Denken mit
Unseres Fühlens heut und gestern,
kritisch-argwöhnischen Blicken. Besonders merkwürdig er¬
Böser Dinge hübsche Formel,
Glatte Worte, bunte Bilder
scheint es, wenn ein Mann von so hervorragendem Kunst¬
Halbes, heimliches Empfinden
verständniß wie Brunn sich immer als Gelehrter vor dem
Vorwurf subjektiven Empfindens wahren zu müssen glaubt,
mit so wundersamem echtem Duft in sein Buch „Anatol
als ob nicht gerade diese wunderbar entwickelte Subjektivität
verschlossen. Sie alle sind so kluge Künstler, daß sie nur
die epochemachenden Entdeckungen erst ermöglicht hätte, die
produziren wollen, was sie können. Sie schreiben feine
ihn zu dem einzigen wirklichen Nachfolger Winckelmanns ge¬
kleine Bücher, in denen sie nur sich selbst hingeben; und der
macht haben. Das aber ist das Große an Lessing, daß der
ganzen Anlage und der Komposition nach gehört auch nicht
Kritiker zugleich auch schöpferisch thätig war. Der schaffens¬
mehr hinein. Bei einem größer angelegten Roman, der
kräftige Goethe dachte eben nur, insofern er produzirte; und
mit einer weiteren Bühne rechnet, kommt diese Art nicht
wenn er sich auch von Gelehrten den Dichter Homer aus¬
aus; das hat Hollitscher erfahren. Ob er aber für die
reden ließ, er schuf einheitlich sein herrliches Epos. Später,
kleinen Bücher den weichen vollen Anschlag besitzt, daran
als der erfahrene Künstler richtiger über die homerische
möchte ich nach den Gedichten in Prosa dieses Werkes auch
Frage urtheilte, versagte die Schöpferkraft, um die Gedanken
zweifeln.
in Leben umzusetzen. In der Erkenntniß alter Kunst ist
Dieser arme Büßer des Gefühls hat sich nur die
Goethe bis zuletzt groß gewesen, nur weil ihm hier die
Dornenkrone geholt, die gleiche Dornenkrone, die auf dem
Fülle eigner Erfahrung zu Gebote stand. Denn die Gesetze
farbensüchtigen Titelblatt Thomas Theodor Heyne's sein
künstlerischen Schaffens waren zu allen Zeiten dieselben, so
Held aus den ekstatisch spirituellen Händen der Prä¬
sehr auch Stoff und Form in den verschiedenen Jahr¬
raphaëlitin empfängt.
hunderten gewechselt haben. Jeder Künstler muß aus dem
ihm umgebenden Leben dasjenige herausgreifen, was ihm
Felix Poppenberg.
das Wichtigste erscheint, er muß also abstrahiren. Soll aber
solche Abstraktion nicht trocken=schematisch, sondern lebendig¬
natürlich wirken, so muß er sie mit seinem Temperament
befruchten. Künstlerisch Schaffen heißt also aus dem Leben
bestimmte Vorstellungen gewinnen, diese Vorstellungen selbst
aber wieder zum Leben führen. Wie aber der Künstler
sehen soll, darüber hat sich der junge Goethe in dem
Lehren — eine Kunst.
wunderbar frischen Aufsatze über Falkonet so ausgesprochen:
„Er mag die Werkstätte eines Schusters oder einen Stall,
Neuerungssuchtiger ist man wohl zu keiner Zeit auf
er mag das Gesicht seiner ebten, seine Stiefel oder die
dem Gebiete der Schule gewesen als heutzutage. Es kommt
Antike ansehen, überall sieht die heiligen Schwingungen
einem vor, als befände man sich in einem technischen Betrieb,
und leisen Töne, womit die Natur alle Gegenstände ver¬
wo die größten Anstrengungen gemacht werden, um durch
bindet!" Und einen solchen künstlerischen Sinn muß derjenige
ein neues Verfahren die Anlage möglichst konkurrenzfähig
besitzen, der an ein Kunstwerk, was es auch sei, herantritt,
zu erhalten; ja bisweilen hat man den Eindruck, als ob
sich und andern zum Verständniß
das schulmeisterliche Ideal in einem Reichspatent auf einen
Nur aus der unmittelbaren längeren Einwirkung der
Nürnberger Trichter bestände.
Schöpfung eines echten Künstlers auf uns gewinnen wir
Haben sich wirklich Bedürfnisse herausgestellt, Schulen
die Fähigkeit des Urtheils, mag nun diese Schöpfung in
mit einem neuen Lehrplan zu gründen, so versuche man es
unsern Tagen oder vor Tausenden von Jahren entstanden sein.
damit jedenfalls schränke man das unselige Berechtigungs¬
Und so verlangt eine empfängliche Jugend nicht gelehrte
unwesen mit allen Kräften ein und vergesse nie, daß es weit
Erörterungen, die aus hundert und einem Kommentator
weniger darauf ankommt, was, sondern fast allein, wie gelehrt
bienenemsig zusammengelesen sind, sondern den Umsatz
wird. Denn lehren ist wie erziehen eine Kunst und zwar
dichterischer, künstlerischer Gestalten ins unmittelbare Leben.
eine Kunst mit der innerlichsten Technik, die abgesehen vor
Die Schule ist ein vortrefflicher Prüfstein für das, was ein
den gewöhnlichsten Handgriffen jeder sich selbst seiner Natur
ewiges Leben hat, und nur solches verdient unter den
entsprechend herausarbeiten muß. Ebenso wenig aber, wie
Lebendigen behandelt zu werden. Es ist keine Frage, daß
es einem Künstler oder Handwerker einfallen wird, unab¬
dieser künstlerische Gesichtspunkt auf der Schule trotz allen
lässig schreibend oder redend über seine Aufgabe sich zu ver
schönen Redensarten zu kurz kommt. Dem Pedanten liegt
breiten, so wenig sollte das auch einem Lehrer einfallen.
er ebenso fern wie dem Philister — dem deutschen Bildungs¬
Nur nach einer langen Reihe von Erfahrungen entweder
philister, wovon unsere Nation noch immer einen uner¬
auf dem Höhepunkt seines Schaffens oder am Ende eines
schöpflichen Vorrath hat. Der Streber ist auch auf diesem
reichen Lebens läßt es sich erklären, wenn der Künstler
Gebiete sehr akklimatisationsfähig. Am täuschendsten wird
die Summe zieht, wenn er sich und andern klar wird über
es wirken, wenn er selbst eine künstlerische Begabung,
die Wege, die er in der Jugendfrische vielfach unbewußt
nämlich die des Schauspielers besitzt. Das jugendliche Ge¬
eingeschlagen. Damit wird er freilich nur denen nützen
müth wird er dann die ganze Leiter der Gefühle herauf¬
welche ihrer Natur nach ähnliche Wege wandeln; alle andern
führen können. Er kann sittlich religiös, heiter aufgeklärt,
verstehen ihn nicht oder noch schlimmer als das, nur
witzig und rührend, salopp und grob, fein und welt¬
äußerlich. Und eine solche Veräußerlichung wird überall da
männisch, ja genialisch geistreich sein, kurz er kann alles
eintreten, wo individuell errungene Ansichten methodisch
spielen mit jenen mimischen Talenten.
Langeweile
verallgemeinert werden. Man berücksichtigt dabei zu wenig
wenigstens, welche das Charakteristische der ersteren Gattung
die Persönlichkeit des Lehrers, ohne welche doch jede Prin¬
ist, kommt bei ihm nicht vor, und das ist immerhin ein
zipien- und Methodenlehre, und wäre sie die schönste und
Vorzug; wohl aber wird der Schüler, der sich in jugendlicher
edelste der Welt, ein eitel mechanischer Wortapparat ist
Unerfahrenheit hat täuschen lassen durch die blendende
und bleibt.
Schauspielerkunst, um so bitterer dann über den Werth
des Mannes urtheilen, wenn er erst seine eigenen Augen
Ueberhaupt begegnet man im deutschen Gelehrtenleben
hat brauchen lernen. Die einzig sittliche Wirkung des
häufig einer Erscheinung, die sehr zu denken gibt, daß
Unterrichts wird somit verfehlt sein.
nämlich die Person in keinem rechten Verhältniß zur Sache