Hermann Menkes: Bei Artur Schnitzler, 22. 11. 1910

Von
Hermann Menkes.
Eine Unterhaltung mit Artur Schnitzler gewinnt einen besonderen Reiz dadurch, daß alle im Gespräch berührten Dinge ihm zu Problemen werden, die er in ganz eigener Weise zu beleuchten und zu vertiefen versteht. Ein langes, freundliches Verhältnis zwischen dem Dichter und mir ermöglichte mir oft das Glück solch anregender Stunden. Mancher Einblick in die Geheimnisse seiner Werkstätte, in die Entstehung seiner Werke wurde mir gewährt. Wie ein an sich unbedeutsames Ereignis, das Wiedersehen mit einem vergessenen Bekannten oder Jugendfreund, die Stimmung eines Augenblicks befruchtend auf seine Phantasie wirkt, erzählte er mir oft, und wie ein dichterischer Einfall ihm in den ersten Tagen zu einem so starken Erlebnis wird, daß es sich oft in das Wirkliche drängt. Es geschieht dabei, daß eine einzige Idee zu einer Wurzel mannigfacher dichterischer Probleme wird und daß so mehrere Dramen oder Novellen aus einem ursprünglich einzigen Stoff erwachsen. Ironische Bemerkungen mischen sich in die ernsten Auseinandersetzungen eines Gespräches und geben ihm Pikanterie und Abwechslung des Tones. Dinge, in die sein Wirken und sein tieferes Interesse nicht hineinreichen, lehnt er von der konversationellen Behandlung ab, obgleich Schnitzler so wenig von der Einseitigkeit des Metiermenschen an sich hat.
An einem Abend der letzten Tage saß ich ihm in dem Arbeitszimmer seines neuen Heims in der Sternwartestraße wieder gegenüber. Das Haus, das nun in seinen Besitz übergegangen ist, war ehemaliges Eigentum des Ehepaares Römpler-Bleibtreu. Von der mit wenigen Bildern und Statuetten geschmückten Arbeitsstube im ersten Stockwerk bietet sich ein Ausblick nach der jetzt herbstlichen, von Schleiern umwobenen Wiener Landschaft, zu den sanften Hügeln und Geländen, die Schnitzler so sehr liebt und die er namentlich in seinen Erzählungen in so zarter, lyrisch abgetönter Stimmung und Plastik wiedergegeben hat. Das ganze Gespräch wird zu einem »Weg ins Freie« aus herrschenden Vorurteilen und irrtümlichen Auffassungen.
Ich finde Schnitzler nach einer Rückkehr aus einer Probe zur Aufführung des »Jungen Medardus« und ich frage ihn, welche Bedeutung er der Mitwirkung eines Autors an der Regie seines Stückes beimißt.
Er erwidert, daß diese Mitwirkung des Dramatikers schon mit den szenischen Anmerkungen zu seinem Stücke beginnt und daß er ja wohl am besten Aufschlüsse darüber geben kann, wie er sich ins Wirkliche umgesetzt eine Inszenierung gedacht. Ueber das rein Technische noch hinaus ist sein Rat und seine Aufklärung über den ideellen Gehalt einer Stelle von größter Wichtigkeit. Schnitzler berichtet über ein interessantes Vorkommnis mit Bassermann gelegentlich der Berliner Proben zum »Einsamen Weg«. Bassermann fand, daß die ihm zugedachte Rolle ihm nicht liege, und er sträubte sich bei jeder Schwierigkeit, die sich ergab. Gelegentlich einer kleinen Dialogstelle, die er mit dem Dichter besprach, sprang Bassermann mit einem freudigen Heureka auf. Er hatte nun aus einem winzigen Teil den tieferen Sinn des Ganzen erfaßt und die Gestalt erschloß sich ihm ganz, die er dann in so meisterhafter Weise darstellte.
»Interessant«, meinte Schnitzler, »ist die innere Umwandlung des Autors während der Proben. Es geschieht da manchmal, daß man trotz der stärksten literarischen Ambitionen zum Publikum wird und genau wie dieses an das eigene Stück die rein theatralische Forderung stellt. Damit ändert sich die ganze Optik. Dinge, die ihm früher lebendig warm, erscheinen ihm nun nicht belebt genug und zu ihrer stärksten Wirkung nicht gebracht. Das ist keine Objektivierung, sondern die erste Probe auf die Gesetze der Bühne vom Standpunkt eines Zuschauers aus. Da kann der Autor noch eingreifen und schon aus diesem Grunde ist seine Mitwirkung von Belang. Wie der vollendende, vorbereitende Abschluß einer Aufführung vor sich geht, ist schwer zu sagen. Das verbessert oder verschlechtert sich wie in einer Wellenbewegung. Es geschieht, daß die Darstellung eine Vollendung erhält, ohne daß ihr irgendeine bewußte Arbeit vorangegangen. So auch ein Verfall ohne Vernachlässigung. Ob der Dichter nach Abschluß eines Werkes oder während der ersten Aufführung, der Umsetzung ins Wirkliche, eine Desillusion erlebt? Jeder Schaffende geht schon von vornherein mit der Resignation ans Werk, daß er hinter der Schönheit seines ersten Erlebnisses zurückbleiben und nie das hervorbringen wird, was ihm als Ideal vorschwebte. Die Aufführung eines Stückes enttäuscht ihn, wenn die Darsteller schwächer sind als seine Gestalten. Dies ist glücklicherweise nicht immer der Fall, zuweilen das Gegenteil. Freilich gibt es in einem Theater nie so viele gute Darsteller, als ein Stück es manchmal erfordert. Das sind die Enttäuschungen, die man empfindet.«
Ich befrage Schnitzler um die Entstehung des »Jungen Medardus«, der demnächst im Burgtheater aufgeführt wird.
»Historische Stücke sind eine frühe Liebe von mir gewesen, der ich treu blieb. Die historische Stimmung meines neuen Dramas verdichtete sich allmählich in mir zu der einer bestimmten Zeit. Es war keine bloße Flucht in die Vergangenheit, in die man sich manchmal begibt, wenn Geschehnisse und Gestalten etwas Außerordentliches, über das Alltägliche Hinausgehendes an sich haben. Man hat sich darüber gewundert, daß mein Stück so umfangreich gedieh, daß ich es einiger Aenderungen unterziehen mußte. Shakespeare und Schiller waren wohl gute Theaterpraktiker genug und dennoch kann man weder den »Hamlet« noch den »Karlos« ungekürzt spielen. Die Beispiele könnte man noch häufen. Jeder Stoff hat seine notwendigen Dimensionen in sich und ich glaube, daß ich nicht allzuweit über das Zulässige hinausging.«
Ich berühre im weiteren Verlaufe des Gesprächs die Vertonung der »Liebelei«, die unlängst in Frankfurt am Main als Oper aufgeführt wurde.
»Das war einer der ersten Versuche, ein Stück in seinem ursprünglichen Charakter als Operntext zu benutzen, ein Versuch, dem ich zuerst skeptisch gegenüberstand. Mein Stück wurde keinerlei Aenderung unterzogen. Der Komponist paßte sich in trefflicher Weise dem etwa vorhandenen Rhythmus der Sprache an oder gab ihr durch die Musik einen solchen. Er hatte allerdings mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden.«
Von persönlichen Dingen kamen wir auf allgemeine, und ich fragte Schnitzler ob er jenen recht gebe, die das Sinken des Niveaus in der literarischen Produktion unserer Zeit beklagen.
»Ich bin allerdings der Ansicht«, erwiderte er, »daß wir uns in einer Uebergangsepoche befinden. Die Kleists und Schillers laufen jetzt nicht so herum, aber ich glaube dennoch, daß man im Unrecht ist. Wir besitzen im Roman, in der Lyrik und im Drama eine Fülle von eigenartigen Begabungen, wie nicht oft in einer Zeit. Das ist keine Blüteperiode der Dichtung wie zur Zeit unserer Klassiker, aber das, was im letzten Abschnitt geschaffen wurde, ist wohl bedeutender und kultivierter als die Produktion der vorklassischen Epoche. Man hat gegen das Artistentum sich gewendet, ohne freilich bestimmte Persönlichkeiten zu bezeichnen, aber hat es je eine hohe Form ohne bedeutenden Inhalt gegeben? Man hat ferner die geringe Beziehung unserer Dichtung zum zeitgenössischen Leben und dessen Fragen getadelt. Der Sinn dieser Forderer geht nach dem Aktuellen. Aber gerade die zeitlosen Dichtungen waren es, denen die größte Dauer beschieden war: ›Tasso‹, ›Faust‹, ›Hamlet‹. Ich glaube, ein derartiges Werk kann uns mehr von dem Empfindungs- und Gedankengehalt seiner Entstehungszeit aussagen, als eines, das eine momentane gesellschaftliche oder politische Frage behandelt. Man meint, daß das Publikum sich vom literarischen Drama abwende, aber gerade in den letzten zehn Jahren haben wir Erfolge gesehen, die bei literarischen Stücken zu keiner Zeit größere waren. Manches Vergessene wurde und wird ausgegraben, vieles, was auf die Zeitgenossen nicht wirkte und gerade jetzt seine glückliche Auferstehung erlebt.«
»Man hat auch von literarischen Cliquen gesprochen. Wann sind die mit irgendeinem Unternehmen, einer Tat hervorgetreten? Ich glaube, das, was man als Cliquen bezeichnet, das sind Gemeinschaften von Schaffenden, die von einem gleichen Ideal, einer künstlerischen Anschauung zusammengeführt werden. Das ist ein ziemlich natürlicher Vorgang. Aber man könnte mit einem vielleicht seltsamen, aber doch nicht unwahren Paradoxon die Cliquen als eine Gruppe von Menschen bezeichnen, die sich im geheimen am stärksten hassen. Im übrigen leben die Schriftsteller gerade jetzt sehr isoliert, worüber Wedekind ja unlängst Klage geführt hat. Aber das ist eine Vereinsamung, die für die persönliche Entwicklung notwendig ist. Vielfache falsche Auffassungen entstehen aus der Kluft, von welcher Schaffende und Kritiker getrennt sind. Das ist nicht ein Gegensatz von Neid und verletzter Eitelkeit, sondern sie liegt in der Verschiedenartigkeit der Optik, des ganzen Verhältnisses zum Werke.«
So schloß dieses kurze, in einer Herbstabendstunde geführte Gespräch, in welchem Artur Schnitzler mir über sein Verhältnis zu künstlerischen Fragen Aufschluß gab.