An den Morgen, nicht abg[eschickt], Dezember 1910

Dezember 910
(An den Morgen)
nicht abgesandt.–
Sie sind so freundlich mich aufzufordern auf die verschiedenen Erläuterungen meines Werks eine eigene Darstellung meiner Auffassungen in Ihrem Blatte zu veröffentlichen. Leider vermag ich nicht dieser Aufforderung Folge leisten. Dass ein Autor nach einer Premiere die Verlockung spürt sich gegen kritische Aeusserungen aufzulehnen ist gewiss eine ebenso häufige als natürliche Regung. Meistens widersteht man dieser Versuchung und tut recht daran. Auch ich habe es bisher immer so gehalten. Nicht etwa weil ich den Vorwurf der Empfindlichkeit scheute. Der trifft nicht schwer. Die Kritiker selbst sind empfindlicher als die Autoren. Ich habe es hundertmal erlebt, dass Autoren gegenüber den ungerechtesten Angriffen stumm geblieben sind, aber ich erinnere mich keines Falls, in dem die Kritiker die Erwiderung eines Autors ohne Widerspruch hingenommen hätten. Entgegnet nun der Autor von Neuem, so wäre eine Diskussion im Gang, die sich ins Uferlose erstrecken |könnte, für das Publikum nur wenig Interesse böte und in der der Kritiker doch das letzte Wort hätte. Da es ja sein Beruf, ja fast seine Standesehre erfordert das letzte Wort zu behalten, während es wieder der Beruf des Autors ist neue Werke zu schreiben. An dieser vortrefflichen Einteilung sollte meines Erachtens nichts geändert werden.
Noch begreiflicher ist der Kitzel ungenaue oder falsche Darstellungen zu berichtigen. Doch auch hievon hält sich der Dichter besser zurück. Denn Unwahrheiten auch auf diesem Gebiete haben ein so kurzes Leben, dass kaum je ein unverdienter künstlerischer oder materieller Schaden zu befürchten ist. Und wenn man von den seltenen Fällen absieht, in denen der Dichter aus der Kritik etwas ihm Neues erführe oder gar für seine Kunst etwas profitierte, so geht die Wirkung der Kritik im allgemeinen nicht weiter als bis an die Nerven des Autors. Und auch diese Wirkung wird umso geringer sein je mehr der Autor von der Wahrheit des Speidel’schen Satzes durchdrungen ist: Dass |ein Feuilleton die Unsterblichkeit eines Tages bedeute. Und da die Unsterblichkeit eines Theaterstücks, selbst im Falle eines Misserfolgs, länger zu währen pflegt, so ist der Autor noch immer besser dran als der Rezensent, was ja manchmal ein bitteres Unrecht sein mag, da manche Rezensionen gewiss ein besseres Los verdienten als mit dem Tag vergessen zu werden. Sie in einem Buch zu sammeln hilft freilich nur dort, wo ihnen eine wirkliche Lebenskraft innewohnt. Es gibt kaum etwas Gespenstischeres als der Aufzug längst verstorbener Kritiken über noch lebendige Theaterstücke. Dies nur nebenbei.- Jedenfalls finde ich daß bei so eminenten Vorteilen des Autors gegenüber dem Kritiker jener wohl die eine Misslichkeit auf sich nehmen sollte, auch in solchen Fällen zu schweigen, wo er mit einem Wort einen Irrtum oder eine Unwahrheit aus der kleinen Welt fortschaffen kann, in der man sich für dergleichen interessiert. Seine einzige Antwort bleibe ein neues Werk. Klingen indess auch seine frühern weiter, umso besser für ihn und für das Publikum.–
A. S.