[Ludwig Basch]: Der Theatererlaß des Ministerpräsidenten, 15. 4. 1903

Der Theatererlaß des Ministerpräsidenten
Der Erlaß des Ministerpräsidenten Doctor v. Koerber über die Handhabung der Theatercensur, den wir in unserem Ostersonntagsblatte veröffentlicht haben, hat in allen Kreisen, in denen man sich für das Theater und seine Freiheit interessirt – und wo wäre dies mehr der Fall, als in Wien? – großes und berechtigtes Aufsehen hervorgerufen. Ueber die Tendenz des Erlasses herrscht nur eine Stimme: Man erkennt allgemein an, daß der Erlaß des Ministerpräsidenten ausschließlich von Wohlwollen für die freie Entwicklung der Bühnendichtung und der Bühnen dictirt ist und daß er die durchaus anerkennenswerthe Absicht hat, den Polizeigeist, der von früheren Zeiten her das kritische Walten der Censurbehörden nur allzusehr beeinflußt hat, in die gebührenden Schranken zu verweisen. Wenn man das Theater einen Tempel der Kunst nennen kann, so hat der Ministerpräsident nun eine Tempelaustreibung im Sinne, bei welcher engherziges Bureaukratenthum und alter Zopf aus den Räumen, die der Kunst gewidmet sind, verwiesen werden sollen. Nicht der Schrankenlosigkeit soll Thor und Thür geöffnet werden, aber die Censur soll größere Beschränkung erfahren und die Bühne soll mehr Freiheit erhalten. Dies ist das Hauptprincip des Erlasses, der es gestatten wird, daß sich im Rahmen des Theaters nun auch die socialen Erscheinungen des Lebens von heute, so wie sie das Auge des Dichters sieht, wiederspiegeln können. Gerade die moderne dramatische Dichtung hat am meisten Veranlassung, sich dieses Erlasses zu freuen. Denn er erleichtert ihr den Zutritt zur Bühne, der ihr bisher oft durch allerlei von überängstlicher oder übereifriger, unliterarischer oder unkritischer Censur vorgeschobene Querbalken verlegt war.
Es erschien uns richtig, das Urtheil von Fachleuten über den Erlaß des Ministerpräsidenten einzuholen. Wir befragten einen Theaterdirector, einen Dichter und einen angesehenen Juristen um ihre Meinungen über den Erlaß. Sie Alle, die gewiß als competente Richter über die Bestimmungen des Erlasses anerkannt werden müssen, begrüßen den Erlaß im Allgemeinen sympathisch, aber sie erheben Einwendungen gegen manche Einzelnheiten. Wir geben im Nachstehenden das, was wir vernommen, wieder:
[…]
Der urbane, vornehme Ton des Erlasses berührte mich sehr sympathisch. Wenn ich auch nicht der Kundgebung des Herrn Ministerpräsidenten rückhaltlosen Beifall zu spenden vermag, so bedeutet sie doch einen wesentlichen Fortschritt.
Nach dem Erlaß wird ein Censurbeirath aus drei Männern gebildet. Wer werden diese Persönlichkeiten sein? Werden sie die entsprechende Objectivität in ihr Amt mitbringen? Ein Verwaltungs- und ein richterlicher Beamter werden sich mit einem literarischen Fachmann im Beirathe zusammenfinden. Ich möchte nicht schwarz sehen, allein ich fürchte, daß die amtlichen Censoren den Fachmann oft – nicht immer – überstimmen werden. Der Landeschef ist an diese Gutachten nicht gebunden, er kann die Aufführung eines Stückes freigeben oder verbieten. Ich will von jedem Landeschef das Beste denken, aber selbst der mächtigste Statthalter ist außer Stande, den gewissen »Wind« abzuwehren, der sich gegen die sogenannten gefährlichen Stücke erhebt. Dieser »Wind« hat schon häufig Stücke weggeblasen, die man für sehr zulässig erkannte.
Im höheren, im culturgeschichtlichen Sinne ist die Censur entschieden zu verwerfen. Eine Censur, liberal aufgefaßt und liberal geübt, muß geübt werden, sonst kommt die Censur der Theaterdirectoren und die ist noch ärger. Am Richtigsten wäre es, die Autoren für ihre Werke verantwortlich zu machen. Doch das ist eine ideale Forderung in unseren Zeiten – ein schöner Traum.
Unter den Parteiungen in welchen wir leben, ist eine Aufhebung der Censur nicht zu erwarten. Es ist leider bei uns das Princip der Sachlichkeit ausgestorben, es herrscht übermächtig das Princip der Parteipolitik. Jede Partei denkt nur daran, die Freiheit anderer zu knebeln. Deshalb ist an ideale Zustände nicht zu denken. Die Aufhebung der Censur wird dann möglich sein, wenn die Entwicklung der Menschheit bis zu einem Punkte gediehen ist, der die Menschen befähigt, auf der Bühne blos die künstlerischen Dinge zu sehen. Es fällt mir gewiß nicht ein das Recht auf Tendenz verkümmern zu wollen. Meisterwerke der Weltliteratur sind Tendenzdichtungen; nur soll das Publicum so reif sein, daß es nicht für oder gegen die Tendenz sich erklärt, sondern blos darüber urtheilt, ob es dem Dichter gelungen ist, über eine bestimmte Tendenz sich auszusprechen, die man vorher als zulässig erkannt hatte.
In dem Erlasse des Ministerpräsidenten berührt die offene Sprache angenehm. Er gibt den Censoren einen Wink, sich den Wandel der Zeiten vor Augen zu halten und es bedeutet nicht wenig, wenn in einem amtlichen Erlasse offen zugestanden wird, daß die Versuche einer gewaltsamen Hemmung sich erfolg- und werthlos erwiesen haben.