Th. Thomas [= Rudolph Lothar]: Ein deutsches Nationaltheater, 24. 1. 1904

Ein deutsches Nationaltheater.
Die Schaffung eines deutschen Nationaltheaters, eines Zentralpunktes für das geistige Leben der Nation, wie es in der höchsten dichterischen Form im Drama zum Ausdruck kommt, ist ein immer wiederkehrender Lieblingsgedanke der Dichter, der Schauspieler und der Dramaturgen. Im Jahre 1849 schrieb Eduard Devrient, angeregt durch einen Auftrag des preußischen Kultusministeriums, eine Broschüre: »Das Nationaltheater des neuen Deutschland «. Er verlangte darin, daß das Theater als nationale Anstalt direkt dem Kultusministerium unterstellt werde und eine der Landesregierung verantwortliche Direktion erhalte. Diese Direktion sollte, meint Devrient, aus den Vertretern derjenigen Künste bestehen, welche den wesentlichen Kern der Dramatik ausmachen: Dichtkunst, Musik und Schauspielkunst. Also aus einem Theaterdichter, einem Kapellmeister und einem darstellenden Künstler. Aber er wollte, daß »naturgemäß« der darstellende Künstler an die Spitze trete. Denn die künstlerische Praxis müsse das letzte Wort behalten. Devrient dachte an eine Verminderung der Spieltage, denn die Alltäglichkeit des Schauspieles ernüchtere Publikum und Künstler, und an eine Ermäßigung der Eintrittspreise, um aus dem Nationaltheater ein wirkliches Volkstheater zu machen. Als Zentren des geistigen Lebens bezeichnete er Wien und Berlin, und sein Vorschlag gipfelte in dem kurzen Programm: Das Nationaltheater müsse ein Staatstheater sein.
Einmal hieß das Burgtheater in Wien Nationaltheater und war es auch. Es war so unbestritten das erste deutsche Theater wie die Comédie Française die erste und oberste französische Bühne ist. Und als das Burgtheater seinen alten Namen und seine Hegemonie verlor, da strebten deutsche Fürsten danach, an kleinen Höfen Musterbühnen zu schaffen, da taten sich Schauspieler zusammen, da verkündeten Direktoren ihr Programm, und alle wollten die deutsche Musterbühne, das Deutsche Theater ins Leben rufen. Und wenn es auch nicht gelang, die Bühne zu schaffen, deren Spielplan und Ensemble in mustergiltiger Weise den Geist der Schauspielkunst und den Geist der Dichtkunst zu repräsentieren hätte, so versuchte man mindestens in einigen Vorstellungen durch Zusammenrufen und Zusammenwirken der hevorragendsten deutschen Künstler Musteraufführungen einzelner Dramen zu veranstalten. So entstanden die Mustergastspiele in München und in jüngster Zeit in Prag und Berlin sowie die Festspiele in Düsseldorf. Die deutsche Kritik hat in diesen Mustergastspielen, soviel Eifer, Mühe und Sorgfalt auch dabei verwendet wurde, fast nie einen Gewinn für die deutsche Kunst zu entdecken vermocht. Das hindert aber nicht, daß immer wieder Schwärmer, Reformer und Organisatoren auftauchen, die den Tempel des nationalen Theaters aufrichten wollen, die sich mit dem idealen Plane tragen, ein Mekka der deutschen Schauspielkunst zu gründen. Nun soll in Weimar solch ein Theater erstehen. Fräulein Dumont ist diesmal die Schwärmerin, Reformatorin und Organisatorin, und Van der Velde soll das Festspielhaus bauen. In den drei Sommermonaten sollen die bedeutendsten Schauspieler und Schauspielerinnen Deutschlands Werke von Aeschylos, Sophokles, Shakespeare, Goethe, Hebbel, Kleist, Ibsen, Hauptmann und Hofmannsthal in mustergiltiger Weise aufführen. So wurde in den Zeitungen berichtet.
Ich spreche mit Josef Kainz über das Projekt.
»Das ist ein alter Gedanke,« sagt Kainz, »schon der Großherzog Karl Alexander wollte immer solch ein Nationaltheater in Eisenach gründen. Gleich, morgen schon sollte es in Angriff genommen werden. Aber die Ausführung wurde von Tag zu Tag verschoben, und schließlich kam nichts zustande. Ich habe wiederholt mit dem Großherzog den Plan durch und durchgesprochen. Den Grundstock hätte das Ensemble des ständigen Theaters gebildet, das nötigenfalls durch das Meininger Ensemble hätte verstärkt werden können. Nur für die wichtigsten Rollen hätte man sich Gäste von auswärts verschrieben. Aber für ein Stück nie mehr als drei. Also so zum Beispiel hätte man sich für den ›Faust‹ den besten deutschen Faust eingeladen und ihm die Wahl gelassen, welchen Mephisto und welches Gretchen er sich wünsche. Ich kann mir sehr wohl denken, daß diese Idee auf dem geheiligten Boden von Weimar durchführbar sei. Da müßte eben das Weimarer Ensemble die Grundlage bilden. An ein Ensemble von ad hoc aus allen Ecken und Enden zusammengeladenen Schauspielern glaube ich nicht. Ein Ensemble muß wachsen und sich entwickeln, und man kann es nicht aus der Erde stampfen, es nicht rasch für einige Monate ›zusammenstellen‹. Der Schauspieler ist ein individueller Künstler. Das Persönliche ist das Beste an ihm. Er muß sein Licht leuchten lassen und es gibt nur eines, was ihn in den Rahmen eines Ensembles zwingt, dem Ganzen unterordnet, das ist die Autorität eines starken Leiters, der mit Hunger und Liebe die Disziplin aufrecht erhält. Um also wirklich ein deutsches Nationaltheater zu schaffen, müßte vor allem der Leiter da sein, die große überragende Persönlichkeit, der sich willig alles beugen würde. Bei einem solchen Nationaltheater müßten aber meiner Ansicht nach die nichtdeutschen Autoren von vorneherein ausgeschlossen sein. Also weder Sophokles, noch Aeschylos, noch Ibsen. Ueberhaupt Ibsen in Weimar! Das ist für mein Empfinden ein Anachronismus, ein Widerspruch, der meinem künstlerischen Gefühl weh tut. Vielleicht ist in diesem Falle mein Gefühl zu fein, aber in der Kunst kann man nie fein genug empfinden. Wie sehr ich Ibsen verehre und bewundere, gehört auf ein anderes Blatt. Aber Ibsen in Weimar, nein, das geht nicht! Auch glaube ich, hätte eine solche Musterbühne eine tiefere Aufgabe zu erfüllen, als bloß die wohlbekannten und vielgespielten Werke darzustellen. Nicht die Schauspielkunst, die Literatur sollte sie vor allem fördern. Sie müßte auch Experimente machen, das heißt, sie müßte versuchen, unbekannte, wenig bekannte oder zu wenig gewürdigte Werke populär zu machen, dem Verständnis und der Liebe der Massen näher zu bringen. Zu diesen Werken zähle ich auch den ›Tasso‹ und die ›Iphigenie‹, die trotz aller Versuche noch immer nicht recht Fuß im Spielplan der deutschen Bühnen gefaßt haben, zähle ich viele Stücke von Hebbel und Grillparzer. Aus einem für einige Monate bestimmten Versuche könnte sich nach und nach eine ständige Institution entwickeln, etwa eine Art germanisches Burgtheater. Die Schauspielkunst kann sich nur in kleinen Zentren entwickeln. Gewiß nicht in der Reichshauptstadt Berlin, wo Geschäft und Politik das Interesse absorbieren und das Publikum ermüdet und abgehetzt ins Theater kommt. In einer kleinen Stadt – und welche Stadt wäre durch ihre Vergangenheit besser geeignet als Weimar? – könnte also sehr wohl eine klasssische Bühne sich auftun. Ein wirkliches deutsches Nationaltheater. Gewiß kann ich mir ideale Aufführungen in schauspielerischer und szenischer Hinsicht denken. Aber nur um Gotteswillen keine sogenannten Mustergastspiele. Wo soll denn eine so buntscheckige Gesellschaft die nötige Zeit für die Proben hernehmen, um sich einzuspielen? Man komme mir nicht mit Bayreuth als Vorbild. Musik ist was ganz anderes. Stimmen lassen sich in Einklang bringen. Und dann wirkt in Bayreuth die Tradition des Meisters. Was aber soll in Weimar die granitne Basis des Spiels sein? Uebrigens sind die Mitteilungen, die über den Plan bisher in die Oeffentlichkeit gelangt sind, noch zu unbestimmt, um sich eine Meinung zu bilden. Warten wir’s ab.«
»Warten wir’s ab,« sagt mir ein alter Freund, ein Wiener Dramatiker, besser gesagt, der Wiener Dramatiker. »Warten wir’s ab, bis die ganze Geschichte sich klärt. Vorderhand ist ja noch nichts Offizielles verlautbart. Jedenfalls ist ein gutes Theater mit guten Kräften, das gute Stücke spielen will, ein Gewinn und also wünschenswert. Ich habe übrigens seit langem schon daran gedacht, ob es nicht möglich wäre, ein historisches Theater zu gründen. Eine Bühne, deren Aufgabe es sein müßte, die Werke der Vergangenheit, die noch lebendig sind, in idealster Weise darzustellen. Natürlich kämen da nicht nur Sophokles und Aeschylos, sondern auch Nestroy und Raimund in Betracht. Aber dieses ideale Theater müßte vollkommen von Geschäftsinteressen losgelöst sein. Es müßte so reich mit Millionen ausgestattet sein, daß der Kassier gar nichts dreinzureden hätte. Nur ein so vom Publikum ganz unabhängiges Theater könnte wahrhaft ideal sein. Aber das ist ein Traum, eine Utopie. Inwieweit sich der Plan eines Weimarer Nationaltheaters dem Traume einer Musterbühne nähern wird, werden wir ja sehen, wenn einmal die ganze Sache aus der Phantasie in die Wirklichkeit niedersteigt.«
Ein deutsches Nationaltheater! Eine Muster- und Meisterbühne! Der Tempel der Unsterblichen! Ein dramatisches Walhall! Gewiß ein schöner Gedanke, verlockend und einladend zum Träumen und Schwärmen. Wer aber der deutschen Kunst wahrhaft dienen will, der wird sich mit allen Zweifeln rüsten und in seiner Erfahrung die sehr prekären Resultate ähnlicher Bestrebungen überschlagen. Wenn dann eine glorreiche Tat alle Zweifel zum Schweigen bringt, dann wird die Freude, daß das Wunderbare gelang, nur um so größer sein.  Th. Thomas.