Ein deutsches Nationaltheater.
Die Schaffung eines deutschen Nationaltheaters, eines Zentralpunktes für das geistige
Leben der Nation, wie es in der höchsten dichterischen Form im Drama zum Ausdruck
kommt, ist ein immer wiederkehrender Lieblingsgedanke der Dichter, der Schauspieler
und der Dramaturgen. Im Jahre
1849 schrieb
Eduard Devrient, angeregt durch einen Auftrag des
preußischen Kultusministeriums, eine Broschüre:
»
Das Nationaltheater des neuen Deutschland
«. Er verlangte darin, daß das Theater als nationale Anstalt direkt dem
Kultusministerium unterstellt werde und eine der Landesregierung verantwortliche
Direktion erhalte. Diese Direktion sollte, meint
Devrient, aus den Vertretern derjenigen Künste bestehen, welche den
wesentlichen Kern der Dramatik ausmachen: Dichtkunst, Musik und Schauspielkunst. Also
aus einem Theaterdichter, einem Kapellmeister und einem darstellenden Künstler. Aber
er wollte, daß »naturgemäß« der darstellende Künstler an die Spitze trete. Denn die
künstlerische Praxis müsse das letzte Wort behalten.
Devrient dachte an eine Verminderung der Spieltage, denn die Alltäglichkeit
des Schauspieles ernüchtere Publikum und Künstler, und an eine Ermäßigung der
Eintrittspreise, um aus dem Nationaltheater ein wirkliches Volkstheater zu machen.
Als Zentren des geistigen Lebens bezeichnete er
Wien
und
Berlin, und sein Vorschlag gipfelte in dem
kurzen Programm: Das Nationaltheater müsse ein Staatstheater sein.
Einmal hieß das
Burgtheater in
Wien Nationaltheater und war es auch. Es war so unbestritten das
erste deutsche Theater wie die
Comédie Française die
erste und oberste
französische Bühne ist. Und als
das
Burgtheater seinen alten Namen und seine
Hegemonie verlor, da strebten deutsche Fürsten danach, an kleinen Höfen Musterbühnen
zu schaffen, da taten sich Schauspieler zusammen, da verkündeten Direktoren ihr
Programm, und alle wollten die deutsche Musterbühne,
das
Deutsche Theater ins Leben rufen. Und wenn es auch nicht gelang, die Bühne zu
schaffen, deren Spielplan und Ensemble in mustergiltiger Weise den Geist der
Schauspielkunst und den Geist der Dichtkunst zu repräsentieren hätte, so versuchte
man mindestens in einigen Vorstellungen durch Zusammenrufen und Zusammenwirken der
hevorragendsten deutschen Künstler Musteraufführungen einzelner Dramen zu
veranstalten. So entstanden die Mustergastspiele in
München und in jüngster Zeit in
Prag und
Berlin sowie die Festspiele in
Düsseldorf. Die deutsche Kritik hat in diesen Mustergastspielen,
soviel Eifer, Mühe und Sorgfalt auch dabei verwendet wurde, fast nie einen Gewinn
für
die deutsche Kunst zu entdecken vermocht. Das hindert aber nicht, daß immer wieder
Schwärmer, Reformer und Organisatoren auftauchen, die den Tempel des nationalen
Theaters aufrichten wollen, die sich mit dem idealen Plane tragen, ein
Mekka der deutschen Schauspielkunst zu gründen. Nun
soll in
Weimar solch ein Theater erstehen. Fräulein
Dumont ist diesmal die Schwärmerin,
Reformatorin und Organisatorin, und
Van der Velde
soll das Festspielhaus bauen. In den drei Sommermonaten sollen die bedeutendsten
Schauspieler und Schauspielerinnen Deutschlands Werke von
Aeschylos,
Sophokles,
Shakespeare,
Goethe,
Hebbel,
Kleist,
Ibsen,
Hauptmann und
Hofmannsthal in mustergiltiger Weise aufführen. So wurde in den Zeitungen
berichtet.
Ich spreche mit
Josef Kainz über das Projekt.
»Das ist ein alter Gedanke,« sagt
Kainz, »schon
der Großherzog
Karl Alexander wollte immer solch
ein Nationaltheater in
Eisenach gründen. Gleich,
morgen schon sollte es in Angriff genommen werden. Aber die Ausführung wurde von Tag
zu Tag verschoben, und schließlich kam nichts zustande. Ich habe wiederholt mit dem
Großherzog den Plan durch und durchgesprochen. Den Grundstock hätte das Ensemble des
ständigen Theaters gebildet, das nötigenfalls durch das
Meininger Ensemble hätte verstärkt werden können. Nur für die wichtigsten
Rollen hätte man sich Gäste von auswärts verschrieben. Aber für ein Stück nie mehr
als drei. Also so zum Beispiel hätte man sich für den ›
Faust‹ den besten deutschen Faust eingeladen und ihm die Wahl gelassen,
welchen Mephisto und welches Gretchen er sich wünsche. Ich kann mir sehr wohl denken,
daß diese Idee auf dem geheiligten Boden von
Weimar
durchführbar sei. Da müßte eben das
Weimarer
Ensemble die Grundlage bilden. An ein Ensemble von
ad
hoc aus allen Ecken und Enden zusammengeladenen Schauspielern glaube ich
nicht. Ein Ensemble muß wachsen und sich entwickeln, und man kann es nicht aus der
Erde stampfen, es nicht rasch für einige Monate ›zusammenstellen‹. Der Schauspieler
ist ein individueller Künstler. Das Persönliche ist das Beste an ihm. Er muß sein
Licht leuchten lassen und es gibt nur eines, was ihn in den Rahmen eines Ensembles
zwingt, dem Ganzen unterordnet, das ist die Autorität eines starken Leiters, der mit
Hunger und Liebe die Disziplin aufrecht erhält. Um also wirklich ein deutsches
Nationaltheater zu schaffen, müßte vor allem der Leiter da sein, die große
überragende Persönlichkeit, der sich willig alles beugen würde. Bei einem solchen
Nationaltheater müßten aber meiner Ansicht nach die nichtdeutschen Autoren von
vorneherein ausgeschlossen sein. Also weder
Sophokles, noch
Aeschylos, noch
Ibsen. Ueberhaupt
Ibsen in
Weimar!
Das ist für mein Empfinden ein Anachronismus, ein Widerspruch, der meinem
künstlerischen Gefühl weh tut. Vielleicht ist in diesem Falle mein Gefühl zu fein,
aber in der Kunst kann man nie fein genug empfinden. Wie sehr ich
Ibsen verehre und bewundere, gehört auf ein anderes Blatt. Aber
Ibsen in
Weimar, nein, das geht nicht! Auch glaube ich, hätte eine solche Musterbühne
eine tiefere Aufgabe zu erfüllen, als bloß die wohlbekannten und vielgespielten Werke
darzustellen. Nicht die Schauspielkunst, die Literatur sollte sie vor allem fördern.
Sie müßte auch Experimente machen, das heißt, sie müßte versuchen, unbekannte, wenig
bekannte oder zu wenig gewürdigte Werke populär zu machen, dem Verständnis und der
Liebe der Massen näher zu bringen. Zu diesen Werken zähle ich auch den ›
Tasso‹ und die ›
Iphigenie‹, die trotz aller Versuche noch immer nicht recht Fuß im Spielplan
der deutschen Bühnen gefaßt haben, zähle ich
viele Stücke von
Hebbel und
Grillparzer. Aus einem für einige Monate bestimmten Versuche
könnte sich nach und nach eine ständige Institution entwickeln, etwa eine Art
germanisches
Burgtheater. Die Schauspielkunst kann
sich nur in kleinen Zentren entwickeln. Gewiß nicht in der Reichshauptstadt
Berlin, wo Geschäft und Politik das Interesse
absorbieren und das Publikum ermüdet und abgehetzt ins Theater kommt. In einer
kleinen Stadt – und welche Stadt wäre durch ihre Vergangenheit besser geeignet als
Weimar? – könnte also sehr wohl eine klasssische
Bühne sich auftun. Ein wirkliches deutsches Nationaltheater. Gewiß kann ich mir
ideale Aufführungen in schauspielerischer und szenischer Hinsicht denken. Aber nur
um
Gotteswillen keine sogenannten Mustergastspiele. Wo soll denn eine so buntscheckige
Gesellschaft die nötige Zeit für die Proben hernehmen, um sich einzuspielen? Man
komme mir nicht mit
Bayreuth als Vorbild. Musik ist
was ganz anderes. Stimmen lassen sich in Einklang bringen. Und dann wirkt in
Bayreuth die Tradition des
Meisters. Was aber soll in
Weimar die granitne Basis des Spiels sein? Uebrigens sind die Mitteilungen,
die über den Plan bisher in die Oeffentlichkeit gelangt sind, noch zu unbestimmt,
um
sich eine Meinung zu bilden. Warten wir’s ab.«
»Warten wir’s ab,« sagt mir ein alter
Freund, ein
Wiener
Dramatiker, besser gesagt,
der Wiener
Dramatiker. »Warten wir’s ab, bis die ganze Geschichte sich
klärt. Vorderhand ist ja noch nichts Offizielles verlautbart. Jedenfalls ist ein
gutes Theater mit guten Kräften, das gute Stücke spielen will, ein Gewinn und also
wünschenswert. Ich habe übrigens seit langem schon daran gedacht, ob es nicht möglich
wäre, ein historisches Theater zu gründen. Eine Bühne, deren Aufgabe es sein müßte,
die Werke der Vergangenheit, die noch lebendig sind, in idealster Weise darzustellen.
Natürlich kämen da nicht nur
Sophokles und
Aeschylos, sondern auch
Nestroy und
Raimund in
Betracht. Aber dieses ideale Theater müßte vollkommen von Geschäftsinteressen
losgelöst sein. Es müßte so reich mit Millionen ausgestattet sein, daß der Kassier
gar nichts dreinzureden hätte. Nur ein so vom Publikum ganz unabhängiges Theater
könnte wahrhaft ideal sein. Aber das ist ein Traum, eine Utopie. Inwieweit sich der
Plan eines
Weimarer Nationaltheaters dem Traume
einer Musterbühne nähern wird, werden wir ja sehen, wenn einmal die ganze Sache aus
der Phantasie in die Wirklichkeit niedersteigt.«
Ein deutsches Nationaltheater! Eine Muster- und Meisterbühne! Der Tempel der
Unsterblichen! Ein dramatisches Walhall! Gewiß ein schöner Gedanke, verlockend und
einladend zum Träumen und Schwärmen. Wer aber der deutschen Kunst wahrhaft dienen
will, der wird sich mit allen Zweifeln rüsten und in seiner Erfahrung die sehr
prekären Resultate ähnlicher Bestrebungen überschlagen. Wenn dann eine glorreiche
Tat
alle Zweifel zum Schweigen bringt, dann wird die Freude, daß das Wunderbare gelang,
nur um so größer sein. Th. Thomas.