Th. Thomas [= Rudolph Lothar]: Das Drama in Rosa, 25. 1. 1903

Das Drama in Rosa.
Mag der Himmel noch so blau sein und der Sonnenschein noch so hell, wenn der Wetterbericht meldet, daß es in Bregenz regnet, so regnet es in den nächsten Tagen auch bei uns. Der Westen ist unser Wetterwinkel, und wie es heute dort ist, wird es morgen bei uns sein. Das gilt aber nicht nur von den Vorgängen in der Atmosphäre, sondern auch von den Vorgängen im künstlerischen Leben. Richtungen und Strömungen gehen von Westen nach Osten denselben breiten Weg, den die Mode so gerne beschreitet. Was in Mode-Artikeln und Kunstgeschmack aus Paris signalisirt wird, das kriegen auch wir demnächst vorgesetzt. Es scheint, als gäbe es von dieser Regel kaum eine Ausnahme. Man wird eines Tages daran gehen, den Gründen dieses Gesetzes nachzuforschen, und die Gelehrten werden aus der Menschennatur zu erklären versuchen, warum die Dinge und Ideen just so wandern und nicht anders. Vor einigen Tagen berichtete Max Nordau über einen Wetterumschlag in der Pariser Dramen-Manufactur. Es scheint, daß es mit dem »Genre rosse«, mit dem brutalen Drama zu Ende geht und daß das Drama in Roth vom Drama in Rosa verdrängt wird. Man ist es satt, auf der Bühne Laster, Gemeinheit, Niedertracht und Elend im Reigen zu sehen, und man freut sich wieder allerorten, wenn auf den Brettern angenehme Menschen unter angenehmen Umständen Angenehmes erleben. War der Bühnenhimmel der letzten Jahre bleigrau und mit Wolken beladen, so hellt er sich jetzt auf zum lichtesten Blau. Die Bühne wird wieder zur besten aller Welten, und der Dichter kleidet sich statt mit ausgesuchter Schäbigkeit und Häßlichkeit, wie es bis jetzt die Mode erheischte, wieder in schöne, heitere Gewänder.
Und bei uns? Macht auch bei uns in Wien das Drama in Rosa dem Drama in Roth den Rang streitig?
Director Jarno, der ja den französischen Import am besten kennt, meint, man könne von einem Wetterumschlag im Wiener Geschmack nicht gut reden.
»Ich glaube nicht,« sagt er, »daß Wien jemals der rechte Boden für das ›Genre rosse‹ gewesen ist. Davon überzeugte ich mich schon im Jahre 1900 bei der Aufführung von Dora Duncker’s ›Bagatelle‹. Das Stückchen war dem Publicum zu stark und ich konnte es nur einmal geben. Deßwegen habe ich auch die Einacter ›Am Telephon‹ und ›Er‹ nicht aufgeführt, obzwar ich sie im Hause hatte, weil ich eben überzeugt bin, daß das Wiener Publicum brutale Dinge nicht verträgt, im Theater nicht verträgt. In einem Rauchtheater liegen die Dinge anders. Da hilft Einem das Bier und die Cigarre über die unangenehme Situation hinweg und man ist auch in seiner Bewegung freier als im Theater. Man kann fortgehen und wiederkommen, wenn die peinliche Sache vorüber ist.
Die natürliche Gutmüthigkeit des Wieners hat das Aufkommen des ›Genre rosse‹ bei uns verhindert. Das ›goldene Wiener Herz‹ ist wirklich keine Blague. Und so wie bei uns die Gutmüthigkeit, so stand in Berlin das ästhetische Gefühl gegen diese Gattung Theater. Denn glauben Sie ja nicht, daß das Theater in Roth jemals dem Geschmack des Berliner Publicums entsprochen hat. Dem Geschmack einer Clique vielleicht, aber die Clique ist ja nicht das Publicum. Was in Hauptmann’s Drama ›Vor Sonnenaufgang‹ wirklich wirkte, war – die keusche Liebesscene.
Aber da rede ich immer vom brutalen Drama. Seien wir uns einmal darüber klar, was wir brutal nennen: Wenn wir sehen, wie die Menschen auf der Bühne einer höheren Gewalt gegenüber ohnmächtig sind, von dieser Gewalt erdrückt, zu Boden geschlagen werden, ohne Widerstand leisten zu können, so empfinden wir das als brutal. Unser Mitleid wandelt sich in Ekel. Lehnt sich aber der Held gegen die ihn bedrückende Gewalt auf, ist blos die Möglichkeit einer solchen Auflehnung gegeben, so haben wir ein starkes Stück vor uns und das Publicum geht mit. Daher ist es immer ein sicherer Effect, wenn Einer auf der Bühne dem, der die Macht über ihn hatte oder hat, rund heraus seine Meinung sagt. Das gilt vom Pantoffelhelden wie vom classischen Heros.
Ums Mitgehen des Publicums handelt es sich immer. Nicht wahr? Und da habe ich nun eine Beobachtung gemacht: Früher ging man ins Theater, um eben Theater zu sehen; heute will man Leben auf der Bühne haben. Das Publicum geht viel stärker mit als früher, die Nerven sind außerordentlich verfeinert worden, die Empfindlichkeit und Empfänglichkeit ist gestiegen. Die Consequenz davon ist, daß heute schon die Andeutung genügt, um Verständniß zu wecken. Das gilt vom Autor wie vom Schauspieler. An die Stelle der großen äußerlichen Linie von früher ist das innerliche Spielen getreten. Das Publicum will weiterarbeiten, die Mitarbeit im Theater ist ihm ein Genuß. Gibt aber der Künstler, Autor oder Schauspieler das Endlichste, so hört die Mitarbeit auf, und das Publicum ist um die Freude des Ergänzens gebracht. Die Zeit der Schreie und der großen Gesten ist vorüber. Wir empfinden das Alles heute unangenehm als Theatralik. Aber diese Kunst der Andeutung ist nicht nur eine Consequenz unserer feineren Nerven, sondern auch eine Reaction gegen den Naturalismus.
Sie werden es nun begreiflich finden, daß die Mitarbeit des Publicums bei angenehmen Zuständen auf der Bühne angenehmer ist, als wenn da auf dem Theater allerlei Widerlichkeiten und Widerwärtigkeiten vor sich gehen. Die Mitarbeit am rosigen Stück ist wie ein warmes Bad. Aber der Erfolg dieser Stücke datirt ja nicht von gestern. Er hat bei uns überhaupt nie aufgehört. Denken Sie doch nur ans ›Weiße Rössel‹ und an ›Alt-Heidelberg‹. Ich bin auch überzeugt, daß der große Erfolg vom ›Süßen Mädel‹ schon im Titel liegt. Das ist ja ein Titel, süß wie Honig. Wenn man ihn nur liest oder hört, so hat man schon ein angenehmes Gefühl. Der Meister des französischen Stückes in Rosa ist aber unstreitig Capus. Das ist ein Mann, der das Publicum kennt und weiß, was ihm wohlthut und gefällt. In allen Stücken von Capus wird Geld verschenkt. Das ist nämlich auch ein sicherer Effect. Es gibt nichts Angenehmeres fürs Publicum, als wenn auf der Bühne Geld verschenkt wird. Die Psychologie der offenen Brieftasche kennt Capus so gut, wie der selige Fürst sie kannte.«
Die Frage wird freilich nie gelöst werden, wer in der dramatischen Mode den Ton angibt: Das Publicum oder der Dichter. Folgt der Autor dem Druck der Menge oder folgt die Menge dem Zug des Autors? Es ist begreiflich, daß die Directoren auf dem Standpunkte der Social-Historiker stehen, die in der Allgemeinheit das Bestimmende erblicken und für die der Held, sei es nun ein Feldherr oder ein Dichter, nichts Anderes vorstellt, als die Spitze der Pyramide oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, als die Frucht am Baume. Die Helden selbst, also in unserem Falle die Dichter, werden aber wahrscheinlich alle Anhänger von Carlyle’s »Heroenverehrung« sein und sagen, daß sie es sind, die Geschmack, Weg und Richtung bestimmen.
Vor einigen Tagen sprach ich mit einem alten Freunde, einem Wiener Dramatiker, man könnte fast sagen, dem Wiener Dramatiker. Denn wenn in Einem, so lebt in ihm die wienerische Art sich am reinsten aus.
»Der Künstler,« sagte mein Freund, »der Mann, der Neues findet und sagt, also mit anderen Worten, das Genie weist den Weg. Er gibt das, was das Publicum ergreift, packt, rührt, kurz, er wirkt. Dann kommen die Geister dritter und vierter Ordnung, die sich sagen: Aha, diese Note wirkt, dieser Ton macht Effect. Und dann machen sie das, was die Ersten und Zweiten gefunden und gebracht, so lange nach, beuten es geschäftlich so lange aus, bis es dem Publicum über wird und die Handwerkswaare keinen Käufer mehr findet. Dann muß wieder ein Genie kommen, das Neues bringt, und die ganze Geschichte wiederholt sich. Wenn dieses Genie heute auftritt und uns ein Drama in Roth bescheert, so wird es damit ebenso siegen, wie mit einem Drama in Rosa.
Ich glaube überhaupt nicht, daß der wahre Künstler dem sich unterwerfen kann, was man gemeiniglich Mode, Geschmack oder Richtung heißt. Wobei ich natürlich einräumen muß, daß all dies, so weit es Milieu ist, auf ihn wirkt, wie auf jeden Andern. Ich will dir an mir selbst ein Beispiel geben. Ich wollte immer gerne Lustspiele schreiben. Man hat mir auch schon so oft gesagt: ›Sie sollten doch einmal ein Lustspiel schreiben!‹ Ich bringe es aber über den lustigen Einacter, die heitere Scene nicht hinaus. Ich habe so einen lustigen Stoff gehabt – kaum aber beschäftige ich mich mit ihm, so wandelt er sich unversehens ins Melancholische, Hypochondrische oder auch ins Tragische. Das liegt nun eben in meiner Natur. Und warum meine Natur so ist? Vielleicht spielt da Vererbung mit, was weiß ich? Ich bin nun einmal so und kann mich nicht ändern. Ich versuche freilich fortwährend mich zu ändern, wie jeder Künstler. Das nennt man dann Entwicklung. Einmal hatte ich einen Posseneinfall. Ich traf einen Freund und sagte ihm: ›Sie, ich muß Ihnen den Stoff zu einer Posse erzählen.‹ Aber indem ich erzählte – du weißt ja, wie man im Erzählen am Stoffe weiterarbeitet – ging schon die Wandlung ins Tragische vor sich, und am Schlusse gab es Mord und Todtschlag. ›Und das nennen Sie eine Posse?‹ fragte mein Freund. Ich kann also, wie du siehst, weder ein Drama in Roth, noch ein Drama in Rosa schreiben aus der Ueberzeugung heraus, daß dies oder jenes heute nach dem Geschmack des Publicums ist. Ich muß die Stücke so schreiben, wie sie sich mir geben.«
Gewiß hat mein Freund, der Dramatiker, Recht. Nur der Handwerker, nicht der Künstler erkundigt sich nach Wunsch und Bedarf des Publicums, ehe er an die Arbeit geht. Und doch glaubt oft auch der größte Held zu schieben, indeß er geschoben wird. Er glaubt eine Welt zu tragen, und die Welt trägt ihn. Wir kommen in diesem Fragengewirr schließlich doch immer auf das unlösbare Problem des freien und unfreien Willens. Drama in Roth und Drama in Rosa! Das Eine entspricht so gut einem kategorischen Imperativ wie das Andere. Das Eine ist so gut wie das Andere ein Culturspiegel. Daß aber die Menschheit jeden Anlaß benützt, um| freudig nach dem rosigen Spiegel zu greifen, der Alles so schön und gefällig zeigt, ist begreiflich. Und ich kann den gutmüthigen Philosophen nicht Unrecht geben, die behaupten, daß die Herstellung solch liebenswürdiger Spiegel ein dringendes Bedürfniß sei.  Th. Thomas.