Hermann Menkes: Der junge Schnitzler, 16. 4. 1922

Der junge Schnitzler.
Erinnerungen aus der Anatol-Zeit.
Von
Hermann Menkes.
Man kann es kaum glauben, daß nahezu dreißig Jahre seit jener Zeit vergangen sein sollten und daß Menschen, die damals noch in ihrem Frühling standen, jetzt nun schon ins späte Altern kommen. Und doch liegt es schon wie Dämmer einer versunkenen Epoche über jenem Leben im geistigen Wien, wo eine neue Generation mit einer blühenden Fülle außerordentlicher Begabungen auf den Plan trat. Jetzt erscheint alles als Ausklang, was uns früher als neue Melodie, als ein Anfang dünkte. Eine unwiederbringliche Zeit durfte nur noch wenige Jahrzehnte sich ausleben und letzte herbstliche Frucht darbieten, um einer neuen Jugend mit ganz anders geartetem Denken und Empfinden den Platz frei zu machen. Ein Schimmer aus jenen holdseligen Tagen ist allen, die sie erleben durften, unauslöschlich geblieben.
In wenigen Wochen wird Artur Schnitzler sechzig Jahre alt, unerschöpft noch in seinem Schaffen, immer noch die markanteste künstlerische Erscheinung unter den großen Wiener Begabungen. Sehe ich jetzt den merklich Alternden mit ergrautem Haar, von noch ernsterem Wesen als früher, so erscheint unabweisbar vor mir das Bild, das ich in jüngeren Jahren von ihm empfing. Als müßte alles irgendwie noch so sein wie früher, ist es mir, als ob dieser Kreis, der sich um ihn bildete, unzerstört geblieben, die Jugend noch unberührt. Leben doch alle noch, schaffend zumeist, die eine neue österreichische Literatur uns versprachen und bis jetzt unübertroffene Erfüllungen uns brachten: Hofmannsthal, Bahr, Beer-Hofmann, Dörmann, Salten, Wassermann, Leopold Andrian. Einige, die später sich hinzugesellten, sind tot: Altenberg, J. J. David, Ebermann, Willi Handl; manche sind kampfesmüde, in Vergessenheit geraten.
Ich habe jene Generation einer dekadent verfeinerten Jugend, die skeptisch und genießerisch zugleich war, höchst kultiviert in ihrem Aesthetizismus und philosophisch vergrübelt, Erotiker aus Lust an der psychologischen Erfahrung des Liebesgefühls, diesen einstigen Wiener Typus des jungen Bourgeois, der mit der Bohème kokettierte und der in der Gestaltung Schnitzlers als Anatol Unsterblichkeit erlangte, einmal schon zu charakterisieren versucht. Anatol war jeder dieser jungen Leute als Träumer oder als wirklicher Liebeskünstler. Frühreif, hatten sie das tiefe, durchdringende Wissen um die letzten Dinge des Seelenlebens. Es gab da Wiener Ausgaben von Baudelaire, Verlaine, von Swinburne und Kierkegaard. Es war Frühling, der etwas Herbstliches an sich hatte, ein Stück mit einem Bodensatz an Bitternissen. Ein Zug von wienerischem Leichtsinn war in diese skeptische Lebensphilosophie gemischt. Man liebte den Duft von Tuberosen, von zarten Parfüms, die letzten Nuancen des Gefühls.
Ich sehe dieses jüngste literarische Wien in einem Extrazimmer eines Restaurants in der Naglergasse versammelt oder in einer Runde im vielverspotteten, alt-wienerisch lieben Café Griensteidl. Immer heftig diskutierend, oppositionell dem älteren literarischen Geschlecht gegenüber, voll von Plänen und Erwartungen. Es gab bestimmte Abende in der Woche, an denen man die neuesten eigenen Schöpfungen vorlas, die einer strengen Beurteilung unterzogen wurden. Man war in der Erzählung intimer Erlebnisse ebenso soigniert wie in der äußeren Erscheinung, an der das Metier nur wenig betont wurde. In diesem Kreis fand ich, aus Berlin kommend, wo es etwas bewegter, bohèmehafter zuging und wo man mitten im Kampf um den Naturalismus sich noch befand, den etwa dreißigjährigen Artur Schnitzler. Arzt in seinem Hauptberuf, war Schnitzler als Dichter noch unberühmt, ja fast noch unbekannt. Seine Stücke wurden hie und da auf den vorortlichen Versuchsbühnen aufgeführt vor einem Publikum von jungen Literaten und Peripheriemenschen und ich erinnere mich, wie lange ich einem Dresdener Verleger zureden mußte, bis er sich dazu entschloß, eines der bekannten dramatischen Erstlingswerke Schnitzlers, »Das Märchen«, als Buch herauszubringen.
Gleich während der ersten Begegnung lernte ich ihn auch als wirksamen Vorleser eigener Werke kennen. Er las eine seiner Anatol-Studien, deren Anmut und sprühende Geistigkeit Bewunderung erregten und eine große Begabung ankündigten. Schnitzlers persönliche Erscheinung war trotz seiner mittleren Statur eine blendende. Von strahlender Jugendlichkeit hatte seine Physiognomie schon die reife Prägung des Denkers und Poeten. Ein Künstlerkopf, der an Daudet ein wenig erinnerte. Ueber eine marmorweiße, schön geformte Stirn fiel etwas wirr die rötlich getönte Locke. Männlich im Auftreten, war in seinen reich modellierten Zügen ein gewisser femininer Einschlag. Die Kleidung von einfacher Vornehmheit, manchmal ein wenig nachlässig. Er wirkte faszinierend durch seine Liebenswürdigkeit, durch bescheidenstes Wesen, zartesten Takt. Faszinierend war auch das Auge, der durchdringende Blick des Arztes. Manchmal setzte er sich an das Pianino und mächtig erklangen die Tristan-Weisen bei einer vollen Tongebung des gebornen Dramatikers. Es gab auch gelegentliche gemeinsame Ausflüge in den Wurstelprater, wo Bude um Bude aufgesucht wurde: Rutschbahnen, Karussells, Riesendamen und wo es zu den heitersten und groteskesten Szenen kam. Man war eben jung, trotz der Dekadenzgeste.
Schnitzlers Berühmtheit stieg dann jäh auf, wie die Hofmannsthals. Man war zuerst ein enger Kreis, eine Gruppe, die sich allmählich auflöste und jeder seinen eigenen Weg ging. Die intimsten Freunde blieben beisammen. Hofmannsthal, der als 17jähriger Gymnasiast noch schmal, emporgeschossen als Loris seine ersten bezauberten kleinen Versdramen veröffentlichte und als literarisches Wunderkind galt, zog als erfolgreicher Dramatiker in sein Rodauner Wunderschlößchen aus der Maria-Theresia-Zeit, wo er noch heute haust. Schnitzler wohnte noch in seinem Elternhause in der Frankgasse mit der zärtlich geliebten Mutter und seiner Schwester. Hier suchte ich ihn zu einem stillen Plauderstündchen zuweilen auf. Der reifere Mann hatte noch nichts von seiner Jugendlichkeit und seinem Charme eingebüßt. Damals entstanden die »Reigen«-Szenen, die als Privatdruck für die Freunde herauskamen. Er hatte eine Scheu davor, sie einer weitern Oeffentlichkeit zu übergeben, da man, wie er damals meinte, mit derlei Dingen leicht ins Pornographenschubfach gebracht werden kann. Er schämt sich dieser geistvoll kecken Skizzen wohl nicht, wußte aber, daß man sie leicht mißdeuten konnte, und so verschmähte er lange den Erfolg, der sich mit Sicherheit voraussehen ließ. Diese leichter geschürzten Bilder eines ironischen Erotikers, die wahrscheinlich von den »Contes drôlatiques« Balzacs angeregt wurden, paßten auch kaum zu dem grüblerischen, fast schwermütigen Wesen Schnitzlers.
Wie in früheren Jahren sah ich ihn stets in Begleitung eines Freundes, zu dem er wie in einem unlösbaren Verhältnis noch jetzt steht. Es war ein äußerst eleganter Herr mit der Gardenia im Knopfloch, ein heimlicher Poet und sprühend geistvoller Konversationskünstler, der hinter einer leichten Reserviertheit das gütigste Herz und das zarteste Empfinden verbarg. Er hatte ein schmales Novellenbändchen dann veröffentlicht, das den Kennern noch jetzt unvergeßlich ist. Auch sein Name ist späterhin berühmt geworden als Dichter des »Charolais« und von »Jaakobs Traum«: Richard Beer-Hofmann.
Stunden intimer Aussprache über sein Denken und Schaffen, sein Verhältnis zu den Zeitproblemen verbrachte ich mit Schnitzler in seinem Heim in der Sternwartestraße und oft weilte unsere Erinnerung in jenen jungen Tagen, in denen eine neue österreichische Literatur nach dem Epigonentum und inmitten der naturalistischen Entartung geschaffen wurde, deren dominierende Erscheinung Artur Schnitzler noch jetzt ist.