[An die Neue Freie Presse], nicht abgesandt, [8. 2. 1922]

(nicht abgesandt)
Mit Vergnügen las ich die geistreichen und so weit sie meine Person betreffen allzu liebenswürdigen Bemerkungen, die Sie an die eventuelle Wiederaufnahme des Reigen bezüglichen Brief knüpfen. Ich möchte nur in aller Bescheidenheit ein oder das andere kleine Missverständnis aufhellen, zu dem mein Brief an Dir. Bernau leider Anlass gegeben zu haben scheint.
Vor allem lag es mir ganz ferne nachdem die Behörde das Aufführungsverbot aufgehoben, aus eigener Machtvollkommenheit, wie Sie, sehr geehrter Herr Redakteur annehmen, ein Aufführungsverbot erlassen zu wollen, vielmehr habe ich nur meine Einwilligung zur Wiederaufnahme der Reigen-Vorstellungen davon abhängig gemacht, dass die Behörde dervon ihr durch Aufhebung des Verbots de facto erlassenen Aufführungsbewilligung den nötigen Respekt zu verschaffen wisse, und ich habe meinerseits einen viel zu grossen Respekt vor der Ehrlichkeit, dem guten Willen und den Machtmitteln unserer Behörden, um daran zu zweifeln, dass sie unter den gegebenen Umständen jeden neuerlichen Versuch verantwortlicher und unverantwortlicher Elemente zu verhindern wissen werden, die etwa die Direktion des Deutschen Volkstheaters in der Ausübung eines ihr gesetzlich zustehenden, ja nun in aller Form neu zugestandenen Rechtes zu behelligen sich einfallen liessen. Dazu wird es keineswegs notwendig sein, wie Sie, sehr geehrter Herr Redakteur, meinen, an die Seite jedes Besuchers einen Schutzmann zu stellen: die Vorkehrungen, welche z. B. die Berliner Behörden im gleichen Fall getroffen haben und die von durchschlagendem Erfolg begleitet war, wären selbstverständlich auch in Wien vollkommen genügend.
Weitere Bedenken sind mir, anlässlich Ihrer Bemerkung aufgestiegen, dass »auch ein Tizianbild nicht davor gefeit sei durch Beschauer geschändet zu werden, deren gieriges Auge nur die Blösse des üppigen Frauenleibes auszunehmen vermöge, dass es aber trotzdem jeder Kunstfreund auf das Tiefste bedauern würde, wenn ein solches Gemälde von einem feindlichen Schicksal dazu verurteilt wäre als Wandschmuck in einem Lupanar zu dienen«. Den Vergleich meiner anspruchslosen Szenenreihe mit der Tizianischen Venus lehne ich als allzu schmeichelhaft, den des Theaters, in dem der Reigen aufgeführt wird, mit einem Lupanar als mindestens unzutreffend ab. Gemälde gehören in eine Galerie oder in eine Ausstellung, Theaterstücke in ein Theater. Die Tizianische Venus hängt nicht in einem Lupanar und der Reigen wurde in keinem Lupanar aufgeführt. Niemals kann durch die Qualität des Publikums ein Theater so wenig wie eine Galerie in ein Lupanar verwandelt werden. Wahrscheinlich nur aus technischen Gründen ist es bisher nicht geschehen, dass Leute, die von den Qualitäten irgend eines Gemäldes sich in ihrem sittlichen Gefühl verletzt gefühlt haben oder sich so anstellten, als wenn sie es wären, Stinkbomben warfen oder andere Beschauer an Gesundheit und Leben bedrohten. Und ganz gewiss ist es noch nie vorgekommen, dass Leute, die das beanstandete Gemälde überhaupt niemals gesehen, sondern nur von anderer Seite von der Existenz dieses Gemäldes gehört hatten, aus sittlicher Entrüstung das Museum oder die Ausstellung gestürmt, die Besucher misshandelten und die Garderobefrauen geprügelt haben. Der von Ihnen gewählte Vergleich, sehr geehrter Herr Redakteur, macht, wie man sieht, von dem ihm durch das Sprichwort gewährleistete Hinkerecht einen so verschwenderischen Gebrauch, dass hier die Logik mit ihren gesunden Beinen nicht Schritt zu halten vermag. Lassen wir ihn also heute, so bleibt nur die Frage übrig, ob ein Maler resp. ein Autor sobald, da er vermutet, dass ein Teil des Publikums sich für das dargebotene Kunstwerk (sei es nun hohen oder niederen Ranges) nicht ausschliesslich aus künstlerischen Gründen interessiert, moralisch verpflichtet ist, sein Werk zurückzuziehen. Entschliesst man sich, diese Frage mit einem Ja zu beantworten, so erklärt man zugleich, dass die meisten Theater und die meisten Galerien unverzüglich geschlossen werden müssten, da es stets nur ein verschwindend kleiner Teil des Publikums ist, der den Darbietungen ein anderes als ein rein stoffliches Interesse entgegenbringt. Bestünde aber die Meinung zurecht, dass Werke, ob künstlerisch wertvoll oder nicht, die ihrer Natur nach auf die grosse Menge sinnlich erregend zu wirken imstande sind, von öffentlicher Besichtigung auszuschliessen oder öffentlicher Darstellung zu entziehen sind, so müsste, wie kaum erst näher auszuführen werden braucht, mit dem Reigen zugleich aus dem Spielplan eine beträchtliche Anzahl anderer Stücke verschwinden, denen gegenüber die sittliche Entrüstung, die gerade anlässlich des Reigen sich so überlaut zu gebärden wusste, blind, taub und stumm geblieben ist.
Es bleiben aber immer noch die Gründe zu untersuchen, warum gerade der Reigen zu so lächerlichen Aufregungen und Skandalen Anlass gegeben hat wie kaum je ein anderes Stück. Sie liegen, wie jedermann weiss, zum geringsten Teil auf künstlerischem, zu einem sehr kleinen Teil im sittlichen, zum grössten Teil auf sozusagen politischem Gebiete.