c. m. [= Carl Marilaun]: Wesen des Burgtheaters, 4. 4. 1926

Wesen des Burgtheaters.
Aus Gesprächen mit Artur Schnitzler.
Artur Schnitzler liebt es durchaus nicht, sich für die Oeffentlichkeit zu »erinnern«. Obwohl niemand geistvoller, scharmanter und erkenntnisreicher über die gewissen, im Laufe eines Lebens sich ergebenden Zusammenstöße mit Menschen, Masken, Dingen und Institutionen zu erzählen weiß, als gerade er.
Und so macht man ihm auch keine Freude mit dem Ersuchen, Erlaubnis zur Veröffentlichung der einen oder anderen apart pointierten Geschichte zu geben, deren Hintergrund das Burgtheater und deren Handelnde die Menschen aus dem Burgtheater sind. Aus Rücksicht auf Lebende, wie zum Teil auch schon Tote, gibt er diese Erlaubnis nicht, und die Oeffentlichkeit mag dies bedauern. Denn wenn Artur Schnitzler aus persönlichen Erinnerungen eine inhaltlich oft nur winzige Anekdote erzählt – nicht ohne sich zuvor der Diskretion des Zuhörers zu versichern – dechiffriert er mitunter mit zehn Worten ein ganzes Zeitalter.
Seine unveröffentlichten und vielleicht gar nicht geschriebenen persönlichen Erinnerungen ans Burgtheater, mit dem er von frühester Jugend auf verbunden ist, sind solche Dechiffrierungen eines Zeitalters. Sie bis auf weiteres bei sich zu behalten, scheint ihm gerade jetzt ein besonderer Anlaß gegeben: die Tatsache, daß anläßlich des Burgtheaterjubiläums kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht ersucht wird, persönliche Erinnerungen an das Burgtheater für die Oeffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Durch seinen Vater, zu dessen Patienten- und Freundeskreis die bedeutendsten Künstler des alten Burgtheaters gehörten, ergaben sich schon für den Heranwachsenden die ersten Berührungen mit der damals noch unbestritten ersten, führenden Bühne des deutschen Kulturkreises. Noch bevor er selbst als Autor mit dem Burgtheater in Verbindung kam, verstärkten sich diese Beziehungen, da Artur Schnitzler als junger Arzt einen Teil der Burgtheaterklientel seines Vaters übernahm.
Dieser junge Doktor der Medizin, Kind aus gutem Hause und vorurteilsloser gesinnt als man es bei Söhnen guter Häuser damals liebte, wuchs in einer Zeit auf, in der es für schöngeistige junge Leute seiner sozialen wie Altersklasse als das Maximum des überhaupt Erreichbaren angesehen wurde, von der »Neuen Freien Presse« gedruckt und im Burgtheater aufgeführt zu werden. Ob der junge Schnitzler diesen Ehrgeiz des Gedrucktwerdens teilte, ist mir nicht bekannt. Wohl aber erinnere ich mich, von ihm gehört zu haben, daß er heute noch den Tag, an dem Max Burckhard seine »Liebelei« zur Aufführung am Burgtheater annahm, als einen der denkwürdigsten Tage seines Lebens bezeichnet.
Bis dahin Verehrer und Freund des Burgtheaters, trat er mit diesem Tag als Autor – dem das Theater mindestens soviel verdankt, als er ihm – dem engeren, ja engsten Kreis des Burgtheaters bei. Aber Artur Schnitzler wäre nicht der außerordentlich persönliche, scharfsichtige und zu unbeinflußtem Urteil befugte Mensch, der er ist, wenn eigene Erlebnisse mit dem Burgtheater seinen Blick für das Wesen dieses Instituts zu trüben vermocht hätten.
Das Wesen des Burgtheaters – es enthüllt sich ihm nicht so sehr bei Betrachtung des künstlerisch Geleisteten, als in Imponderabilien. Worten wie »Atmosphäre« und »Tradition«, ohne die man bei Unterhaltungen über das Burgtheater schwer auszukommen vermag, geht auch er nicht aus dem Wege. Die spezielle Burgtheateratmosphäre wurde ihm nie so deutlich, als wenn er gewisse Begleiterscheinungen des Theaterspielens anderswo zum Vergleich heranzog. Und er vermag es nicht, in der oft zitierten, ebenso oft verlästerten oder belächelten »Tradition« einen Popanz oder einen nebelhaften, nicht recht konsistenten Begriff zu erblicken.
Atmosphäre wie Tradition des Burgtheaters scheinen ihm vielmehr Begriffe mit durchaus realen Auswirkungen zu sein, die sich sowohl im künstlerisch geleisteten wie in dem eigenartigen Erziehungswerk feststellen lassen, das sie fast auf jeden ausübten und noch ausüben, der in die Kreise des Burgtheaters geriet. Es ist kein leerer Wahn, von einer der Burgtheatersphäre durchaus eigentümlichen, unter anders gearteten Verhältnissen unwiederholbaren Kultur zu sprechen. Ob ihr geistiger Inhalt auch immer dem Aufwand im Formalen entsprach, kann man eventuell dahingestellt sein lassen. Aber, belehrt durch den Umgang mit Menschen und Institutionen, lernt man schließlich den Wert guter Formen nicht geringer einzuschätzen, als er es verdient. Als Autor, meint Schnitzler, kann man im Burgtheater wie überall gute und minder erfreuliche Erfahrungen machen. Nie aber wird der Gast des Burgtheaters – gleichviel, ob er dort gern oder ungern gesehen ist – über die Form, in der seine Aufnahme in diesen Kreis erfolgt, zu klagen haben. Jene durch schlechte Kinderstube oder literarischen Snobismus erklärbare Geringschätzung, die sich andernorts heute mitunter auch Autoren von anerkannten, aber nicht erst in einer letztvergangenen Sonntagsmatinee entdecktem Verdienst gefallen lassen müssen, ist in der Atmosphäre des Burgtheaters so gut wie undenkbar.
Hier legt die vielberufene Tradition eben Verpflichtungen auf. Man kann sehr gut von einem Geist des Hauses sprechen, der unter Umständen stark genug war, wenn schon nicht immer das geistige, so doch fast stets das menschliche Niveau des mit Burgtheaterdingen sich Befassenden zu erhöhen. In der Flucht der Burgtheatererscheinungen gibt es nebensächliche, auch mediokre Exponenten der Tradition. Aber fast keinen, dem Tradition und Atmosphäre dieses Hauses nicht Erzieher zu einer höheren Lebensform geworden wären.
Und hier allein schon sieht Artur Schnitzler einen Vorzug des Burgtheaters, der ihm unbestreitbar hohen Rang innerhalb des heutigen Theatergetriebes anweist.
Die Schäden nun, die dem Organismus »Burgtheater« innewohnen, hängen nicht in allererster Linie, aber auch kaum in letzter mit seiner von altersher bestandenen Unterordnung unter einen mit fast diktatorischen Befugnissen ausgerüsteten Verwaltungsapparat zusammen. Gegen diese als Intendanz, Theaterverwaltung und dergleichen verkleidete Hierarchie der Beamten, die übrigens zum Teil ein wirkliches, inneres Verhältnis zu Kunst- und Theaterdingen hatten, ist immer gekämpft worden. Ohne richtigen Erfolg, denn es zeigt sich, daß auch heute noch ein verhältnismäßig ganz stattlicher Rest von Intendantentum und Beamtenherrschaft die Geschicke des Burgtheaters mit bestimmt. Inwiefern diese gemilderte, aber nichts weniger als abgeschaffte Beamtenoberhoheit, nach ihrer Zähigkeit zu schließen, vielleicht doch eine Art von geheimer Notwendigkeit darstellt, läßt sich vom Außenstehenden nicht ergründen.
Weiters und vor allem kommt das Burgtheater aber zu Schaden, weil es aus den verschiedensten Gründen gerade in dem für ein Theater wichtigsten Belang, im Engagieren und damit auch Bezahlen erster schauspielerischer Kräfte sparen muß. Aber schon an sich kommt ihm sein künstlerischer Apparat teurer als anderen Theatern zu stehen. Rein geschäftlich geführte Betriebe können in schlechten Zeiten rücksichtsloser als ein Burgtheater abbauen und den momentan entbehrlichen Mitarbeiter auf die Straße werfen. Hier beginnt aber nicht nur ein Noblesse oblige, sondern die soziale Frage in Dingen des Burgtheaterbetriebs mitzusprechen. Ein Staat, der mit seinen Steuergeldern so und so viele für ihn vielleicht bereits überflüssig gewordene Beamte bis an ihr Lebensende zu erhalten sich verpflichtet, kann nicht Menschen aufs Pflaster setzen, die das Unglück haben, nichts weiter als Künstler zu sein. So ergeben sich Belastungen, mit denen das Burgtheater immer stärker als irgendein nächstbester Geschäftsbetrieb zu rechnen haben wird. Aber es gehört wohl mit zum Wesen eines Burgtheaters, daß die Tatsache seiner Existenz wahrscheinlich und bestenfalls »nur« ein Aktivposten in künstlerischer und kultureller Hinsicht und nicht auch die Gewähr eines guten Geschäftes sein kann.