c. m. [= Carl Marilaun]: Artur Schnitzler über aktuelle Burgtheaterfragen, 1. 11. 1931

Artur Schnitzler über aktuelle Burgtheaterfragen.
Erste Berührung mit dem Burgtheater. – Die Vor- und Nachteile einer »Tradition«. – Die »Diktatur eines Verwaltungsapparats«.
Von
C. M.

Hofmannsthal verweist auf Schnitzler.
Als bei einem der letzten Burgtheaterjubiläen Hugo Hofmannsthal gebeten wurde, ein paar Worte über das Burgtheater zu sagen, lächelte er nicht ohne scharmanten Sarkasmus und sagte, daß der Frager da kaum an die richtige Adresse geraten sein dürfte. »Um über das Burgtheater objektiv urteilen zu können,« sagte er mit einer etwas beschatteten Ironie, »müsste ich es besser kennen. Das heißt, ich müßte ein Autor sein, der die Ehre genießt, vom Burgtheater aufgeführt zu werden. Aber gehen Sie doch zu meinem Freund Schnitzler! Wenn es einen Menschen gibt, der Maßgebliches über das Wesen unseres merkwürdigen und geliebten Burgtheaters zu sagen hat, ist er es!«
Und Hofmannsthal verwies in diesem Zusammenhang auch auf die äußerst umfangreichen Tagebücher, die Artur Schnitzler von Jugend auf führte, die aber nicht so bald das Licht der Oeffentlichkeit erblicken würden. Hofmannsthal bedauerte das. »Denn wie ich Artur Schnitzler kenne,« sagte er, »wird in dieser Geheimchronik wohl so ziemlich alles gesagt sein, was der treueste und autoritativste Begleiter des Burgtheaters über dieses Haus zu sagen hat.«
Schnitzlers »Vorwort« zu seinen Geheimtagebüchern.
Auf die einer breiteren Oeffentlichkeit damals vollständig unbekannten Tagebücher spielte ich an, als ich Artur Schnitzler nach der Unterredung mit Hofmannsthal in einer Gegend traf, deren landschaftliche Konturen wir in »Fräulein Else« dann wiederfanden. Der Dichter leugnete die Existenz solcher Aufzeichnungen natürlich nicht, sagte aber gleich, daß er bereits alle Vorsorgen für eine wahrscheinlich jahrzehntelange Sperrfrist bis zur Veröffentlichung der Tagebücher getroffen hätte. Daß das Burgtheater in diesen Geheimnotizen einen recht breiten Raum einnimmt, gab er mit einem vieldeutigen Lächeln zu. Und es klang wie eine Art Vorwort, was er, nach anfänglichem Widerstreben, während eines langen Spaziergangs als Resümee der Burgtheatereindrücke eines ganzen Lebens sagte. »Vor allem,« begann er, »habe ich ja noch jenes Burgtheater gekannt, das heute nur mehr im Gedächtnis von ein paar alten Wienern lebt und für die Jungen eine Legende ist. Um wirklich Wesentliches über den Komplex ›Burgtheater‹ aussagen zu können, muß man das alte Haus gekannt haben. Man wird diesem Theater nur gerecht, wenn der Betrachter allen Einwänden und Befürchtungen, aller Kritik und dem gewiß oft recht angebrachten Tadel eine Reservatio mentalis voranstellt. Und das wäre die wienerische, zu der sich mein Freund Hofmannsthal aus vielen guten Gründen nicht aufzuschwingen bemüßigt fühlt: daß man das Burgtheater liebt!«
Die Aufnahme in das Burgtheater.
Schnitzler begann zu erzählen, wie sich für ihn schon in der ersten Jugend Berührungen mit dem Hause am Michaelerplatz ergaben. Die namhaftesten seiner Darsteller waren nicht nur Patienten, sondern auch Freunde seines Vaters. Und diese Freundschaften übertrugen sich auf den heranwachsenden Sohn. Mit einer sehr hübschen, etwas ironischen Selbstpersiflage sprach Schnitzler davon, einer jener »Söhne aus gutem Hause« gewesen zu sein, die es als Maximum des überhaupt Erreichbaren ansahen, in der Zeitung gedruckt und im Burgtheater aufgeführt zu werden. Wobei es ein eigenartiger, zum eben Gesagten nicht ganz beziehungsloser Zufall fügte, daß uns der Weg gerade in diesem Augenblick an den Sportplätzen eines vornehmen Landcolleges vorüberführte, wo sich Söhne aus heutigen »guten Häusern« ein schon mehr als temperamentvolles Match lieferten. »Ein Burgtheaterautor,« sagte Schnitzler lächelnd, »wächst hier wohl nicht heran. . . «
Und er sprach weiter. Er kam auf den »vielleicht denkwürdigsten Tag seines Lebens«, an dem Max Burckhardt seine »Liebelei« zur Aufführung brachte. »Bis dahin«, sagte er, »Verehrer und sozusagen erblicher Stammsitzabonnement des Hauses, sah ich mich nun in den engeren Kreis des Burgtheaters aufgenommen. Das hätte vielleicht schon früher sein können. Aber es hatte da Hemmungen von durchaus persönlicher Art gegeben. Ich weiß mich noch genau zu erinnern, daß die im Vaterhaus angeknüpfte Freundschaft mit Sonnenthal und seinen Kollegen mich eher abgehalten als ermutigt hat, meine erste dichterische Produktion auch nur zur Begutachtung dem Burgtheater vorzulegen.
Das Burgtheater als »Erzieher zu einer höheren Lebensform«.
Nun skizzierte Schnitzler in geistvollen Umrissen das, was er vorhin als den »Komplex Burgtheater« bezeichnet hatte. Warum, fragte er, ergeben sich bei der Beurteilung des Burgtheaters so viele Mißverständnisse? Weil sich das Wesen dieses, wie Hofmannsthal sagte, »merkwürdigen« Hauses nicht so sehr beim Betrachten seiner tatsächlichen Leistung, als in Imponderabilien enthüllt! Es sei charakteristisch, daß man bei Unterhaltungen über das Burgtheater Worten wie »Atmosphäre« und »Tradition« nicht aus dem Wege gehen könne. »Atmosphäre und Tradition«, sagte Schnitzler, »sind hier Begriffe mit sehr realen Auswirkungen. Je mehr man sich von ihnen zu entfernen suchte, desto blasser wurde die künstlerische Leistung und desto schwächer – das Erziehungswerk, das dieses Haus geleistet hat!« Und mit vollster Ueberzeugung sprach Schnitzler von einer der Burgtheatersphäre absolut eigentümlichen, unter andersgearteten Verhältnissen unwiederholbaren Kultur. Ob ihr geistiger Inhalt auch immer dem »nicht geringen Aufwand an Form« entsprach, lasse er eventuell dahingestellt sein. »Aber«, sagt er, »nach gewissen Erfahrungen im Umgang mit Menschen und Institutionen, die sich auf ihre ›Zeitgemäßheit‹ berufen, lernt man es, den Wert guter Formen nicht geringer einzuschätzen, als er’s verdient! Als Autor kann man im Burgtheater wie schließlich in jedem anderen Theater der Welt gute und auch minder erfreuliche Erfahrungen machen. Nie aber wird der im Burgtheater zu Wort kommende Autor über die Form zu klagen haben, in der seine Aufnahme in diesen Kreis erfolgt. Jene sonderbare, snobistische Geringschätzung, die sich anderswo auch Autoren von Verdienst gefallen lassen müssen« – es schien,| als ob der Dichter hier auf ein persönliches Erlebnis anspiele –, »ist in der Burgtheateratmosphäre so gut wie undenkbar. Hier legt die ›Tradition‹ eben Verpflichtungen auf. In der Flucht der Burgtheatererscheinungen gibt es nebensächliche, auch mediokre Exponenten von Tradition. Aber fast keinen, dem Vergangenheit und Atmosphäre dieses Hauses nicht Erzieher zu einer höheren Lebensform geworden wären!«
Die Diktatur der Verwaltung.
Eine ausdrückliche Stellungnahme zu aktuellen Burgtheaterproblemen lehnte Schnitzler ab. Aber er sagte: »Die organischen Schwierigkeiten dieses Betriebes hängen vor allem mit der von altersher bestandenen Unterordnung des Burgtheaters unter einen mit nahezu diktatorischen Befugnissen ausgerüsteten Verwaltungsapparat zusammen. Klagen dieser Art erinnere ich mich schon als fünfzehnjähriger Gymnasiast im Hause meines Vaters gehört zu haben. Gegen die Diktatur von höfischen Würdenträgern und Beamten, deren inneres Verhältnis zu Kunstfragen nicht immer klarzustellen war, hat man zu allen Zeiten gekämpft. Ohne richtigen Erfolg. Es zeigt sich, daß ja auch heute ein eminent lebenskräftiger Rest von Intendantentum und Beamtenhoheit die Geschicke des Burgtheaters mitbestimmt. Inwiefern diese Vormundschaft nach ihrer Zählebigkeit zu schließen vielleicht doch eine Art, sagen wir: geheimer Notwendigkeit darstellt, läßt sich von uns Außenstehenden nicht ohne weiteres ergründen.
Kann das Burgtheater abbauen?
Das folgende sagte Schnitzler, lange bevor die Abbaufrage im Burgtheater aktuell wurde. »Das Theater kommt nach meinem Dafürhalten unter anderem auch deshalb zu Schaden, weil es beim Engagieren, also Bezahlen allererster Kräfte gebundene Hände hat. An und für sich wären die Mittel allerdings fast immer dagewesen. Das Burgtheater wurde ja zu allen Zeiten erheblich teurer als jedes andere Privattheater geführt. Aber jede etwas kostspielige Auffrischung scheitert an der sakrosankten Unauswechselbarkeit des künstlerischen Apparats! Und dabei gebe ich, der eben ein älterer Wiener ist, selbst zu: ein Burgtheater kann nicht rücksichtslos abbauen und den momentan entbehrlichen Mitarbeiter einfach auf die Straße werfen! Verhängnis des Noblesse oblige! Ein Staat, der mit seinen Steuergeldern auch die entbehrlichsten seiner Beamten bis ans Lebensende alimentiert, kann nicht gut Menschen aufs Pflaster setzen, die das Malheur haben, nichts weiter als Künstler zu sein. Und so ergeben sich Belastungen, mit denen das Burgtheater immer stärker als der reine Geschäftsbetrieb eines Privatunternehmers zu rechnen hatte.«
»Aber«, schloß Artur Schnitzler, »es gehört wohl zum Wesen dieser Bühne, daß ihr Bestehen ein Aktivposten in künstlerischer und kultureller Hinsicht sein kann, nicht aber die Gewähr eines sich bezahlt machenden Geschäftes!«