Jób Paál: Gespräch mit Artur Schnitzler, 2. 8. 1931

Gespräch mit Artur Schnitzler.
Warum der Dichter nichts von Interviews hält und warum kein gutes Porträt von ihm existiert.
Von Job Paál.
Semmering, im August.
In dem vornehmen Hotel des Alpenkurorts bleibt ein kleiner Herr mit wundervollen, blauen Augen vor den großen Fenstern stehen, von wo aus man einen herrlichen Ausblick auf das grandiose Gebirgspanorama hat. Er hat kleine Hände mit durchsichtiger Haut und er streichelt seinen charakteristischen, weißen Bart. Manchmal zieht er aus der Tasche ein Notizbuch und macht auf kariertem Papier Notizen. Alle seine Taschen sind angefüllt mit Bleistiften; einige sind aus Gold, andere wieder dick wie ein Daumen. Bei schönem Wetter eilt dieser Herr hinaus auf die Terrasse und bewundert den Gipfel, von dem noch Schnee herunterleuchtet. Seine Augen fliegen über die grünen Tannen hin. Er begrüßt die springenden Eichhörnchen und, ich glaube, er spricht heimlich mit ihnen.
Der berühmte Dichter Artur Schnitzler wohnt nämlich seit zwei Wochen etwa auf dem Semmering und ich schäme mich fast, zu erklären, daß ich bisher nicht den Mut hatte, ihn anzusprechen. Ich fühlte, daß man den großen Dichter in seiner Ruhe nicht stören dürfe. Und außerdem hatte ich die Nachricht erhalten, daß Artur Schnitzler prinzipiell kein Interview gebe.
Auf Anraten meines Freundes, des Hotelportiers Rostler, baute ich dann einen bestimmten Plan, um mit Schnitzler zusammenzutreffen und ein Gespräch führen zu können. Rostler ist auch des Dichters Freund. Diese Freundschaft hat eine literarische Geschichte. In seinem Stück »Das weite Land« – es wurde ungefähr vor zwanzig Jahren im Burgtheater aufgeführt –, hatte Schnitzler den Hotelportier Rostler auf die Bühne gestellt. Dieser Portier nun gab mir folgenden Rat: »Es gibt nur eine Möglichkeit, zu Artur Schnitzler zu kommen. Probieren Sie es und schreiben Sie ihm einen Brief!« Ich tat dies auch. Auf meinen Brief erhielt ich sofort die Antwort: »Ich mache gern Ihre persönliche Bekanntschaft, aber von einem Interview kann keine Rede sein.«
Nachmittags nach dem Diner sprach Schnitzler mich an. »Ich reise heute abend ab, möchte eine halbe Stunde mit Ihnen plaudern, doch wie gesagt: kein Interview.« Und ich erwiderte: »Sagen Sie mir, verehrter Meister, gibt es irgend jemanden auf der Welt, der Ihnen verbieten könnte, über etwas, was Ihnen am Herzen liegt, zu schreiben? Der Journalist, der interessanten Themen nachjagt, kann nicht wortlos an Artur Schnitzler vorübergehen, er muß über ihn schreiben.«
Der Meister lacht vom ganzen Herzen und setzt sich auf die Lehne eines Fauteuils. Ich hatte den Eindruck, daß mir gelungen sei, was bisher noch niemandem gelang, nämlich ein Interview von Artur Schnitzler zu erhalten. Bleistift und Papier darf ich aber nicht herausnehmen. Inzwischen begründet Schnitzler, warum er niemals ein Interview gegeben habe.
Unser Gespräch wird also ein Interview über das Interview.
Artur Schnitzler sagt: »Dreierlei Arten von Interviews gibt es auf der Welt. Gespräche mit Politikern, Schauspielerinnen und Schriftstellern. Das Interview mit dem Politiker kann nie aufrichtig sein, der Politiker sagt immer das Gegenteil dessen, was er denkt, er zeigt nie sein Herz, vielleicht deshalb nicht, weil er keines hat. Wie entsteht eigentlich ein Interview? Ein Mensch fragt und der andere antwortet auf diese Fragen. Der Politiker antwortet aber niemals auf die Fragen, die an ihn gerichtet werden, sondern sagt immer nur das, von dem er haben will, daß es gedruckt werde. Und die Schauspielerin? Für sie ist es ganz egal, was gefragt und was geschrieben wird, für sie ist es nur wichtig, daß ihr Name recht oft in die Zeitung komme.
Mit einem Schriftsteller aber kann man kein Interview machen. Wenn ein Schriftsteller etwas zu sagen hat, dann schreibt er es selbst und betraut damit keinen anderen. Nur ich selbst bin ja imstande, meine eigenen Gedanken richtig wiederzugeben, einem anderen ist dies unmöglich. Der Schriftsteller kann nie mit Worten, sondern nur mit dem Geschriebenen sprechen.
»Stellen Sie sich vor«, fährt Schnitzler fort, »daß hier ein Grammophon steht. Die feine Nadel überträgt jedes Wort unseres Gesprächs auf die Platte. Und der Setzer der Druckerei setzt nach keinem Manuskript, sondern nach seinem Gehör, einfach von der Platte weg. Was für ein Durcheinander müßte da herauskommen!
Wissen Sie, warum ich kein Interview gebe? Ich stehe zum Interview ähnlich wie zum Porträt. Von mir hat man noch kein gutes Porträt gemalt, das größte Genie ist außerstande, ein richtiges Charakterporträt desjenigen zu malen, der ihm bloß ein- oder zweimal sitzt. Um ein richtiges Porträt zu malen, müßte der Maler viele Jahre hindurch sein Modell studiert haben. Nur eine langjährige Freundschaft zwischen Modell und Künstler befähigt letzteren, ein lebenswahres Porträt zu schaffen. Aehnlich ergeht es mir. Ich lebe mit den Personen, die ich in meinen Arbeiten beschreibe, durch viele Jahre hindurch in enger Freundschaft und nur so ist es mir möglich, sie richtig zu zeichnen. Mit mir könnte nur der ein Interview machen, der jahrelang an meiner Seite lebte und mich durch und durch kennt. Er müßte um meine Gedanken, meine Seele und alle meine Eigenschaften wissen. Ein Interview mit einem Schriftsteller ist nämlich nichts anderes als ein Porträt desselben und niemand auf der Welt ist imstande, von mir nach einer einmaligen Sitzung ein Porträt zu malen. Auch nicht in Form eines Interviews.«
Ich versuche eine Frage: »Woran arbeiten Sie jetzt, Meister?« Lächelnd weicht mir Schnitzler aus.
»Ich habe schon gesagt, daß es heute kein Interview geben wird. Und außerdem könnte ich Ihnen auch nicht sagen, woran ich jetzt arbeite. Ich arbeite immer an vielem zugleich. Ich habe meine ganz besondere Arbeitseinteilung. Zuerst mache ich mir meine Notizen, aus denen diktiere ich in die Maschine; wenn aber das Diktat fertig ist, dann fängt meine eigentliche Arbeit an.«
Schnitzlers Freund, Universitätsprofessor Dr. Paul Schinnerer, der bekannte New-Yorker Schriftsteller, holt den Dichter ab.
Mein Sohn steht ängstlich in der Ecke, er wartet auf ein Autogramm von Artur Schnitzler. Dieser streichelt den Jungen und fragt ihn: »Wie alt bist du?« – »Fünfzehn Jahre.«
»Fünfzehn Jahre«, sagt der Dichter melancholisch, lang ist es her, daß ich fünfzehn Jahre alt war. . .  Damals erschienen meine ersten Novellen. . .  Ich werde sie zu Hause heraussuchen und werde sie dir schicken. . . « Und Artur Schnitzler wendet sich zum Gehen. Er hat mir kein Interview gewährt. Oder war es doch eines?