Warum der Dichter nichts von Interviews hält und warum kein gutes
Porträt von ihm existiert.
Von Job Paál.
In dem vornehmen
Hotel des
Alpenkurorts bleibt ein kleiner
Herr mit wundervollen,
blauen Augen vor den großen Fenstern stehen, von wo aus man einen herrlichen Ausblick auf
das grandiose Gebirgspanorama hat. Er hat kleine Hände mit durchsichtiger Haut und
er
streichelt seinen charakteristischen, weißen Bart. Manchmal zieht er aus der Tasche
ein Notizbuch und macht auf kariertem Papier Notizen. Alle seine Taschen sind
angefüllt mit Bleistiften; einige sind aus Gold, andere wieder dick wie ein Daumen.
Bei schönem Wetter eilt dieser Herr hinaus auf die Terrasse und bewundert den Gipfel,
von dem noch Schnee herunterleuchtet. Seine Augen fliegen über die grünen Tannen hin.
Er begrüßt die springenden Eichhörnchen und, ich glaube, er spricht heimlich mit
ihnen.
Der berühmte Dichter
Artur Schnitzler wohnt nämlich seit zwei Wochen etwa auf dem
Semmering und ich schäme mich fast, zu erklären, daß ich bisher nicht den
Mut hatte, ihn anzusprechen. Ich fühlte, daß man den großen
Dichter in seiner Ruhe nicht stören dürfe.
Und außerdem hatte ich die Nachricht erhalten, daß
Artur Schnitzler prinzipiell kein Interview gebe.
Auf Anraten meines Freundes, des Hotelportiers
Rostler, baute ich dann einen bestimmten Plan, um mit
Schnitzler zusammenzutreffen und ein Gespräch
führen zu können.
Rostler ist auch des
Dichters Freund. Diese Freundschaft hat eine literarische Geschichte. In seinem Stück
»
Das weite Land« – es wurde ungefähr vor
zwanzig Jahren im
Burgtheater aufgeführt –, hatte
Schnitzler den Hotelportier
Rostler auf die Bühne gestellt. Dieser Portier
nun gab mir folgenden Rat: »Es gibt nur eine Möglichkeit, zu
Artur Schnitzler zu kommen. Probieren Sie es und schreiben Sie
ihm einen Brief!« Ich tat dies auch. Auf meinen Brief erhielt ich sofort die Antwort: »Ich mache
gern Ihre persönliche Bekanntschaft, aber von einem Interview kann keine Rede
sein.«
Nachmittags nach dem Diner sprach
Schnitzler
mich an. »Ich reise heute abend ab, möchte eine halbe Stunde mit Ihnen plaudern, doch
wie gesagt: kein Interview.« Und ich erwiderte: »Sagen Sie mir, verehrter Meister,
gibt es irgend jemanden auf der Welt, der Ihnen verbieten könnte, über etwas, was
Ihnen am Herzen liegt, zu schreiben? Der Journalist, der interessanten Themen
nachjagt, kann nicht wortlos an
Artur
Schnitzler vorübergehen, er muß über ihn schreiben.«
Der Meister lacht vom ganzen Herzen und setzt sich auf die Lehne eines Fauteuils.
Ich
hatte den Eindruck, daß mir gelungen sei, was bisher noch niemandem gelang, nämlich
ein Interview von
Artur Schnitzler zu erhalten.
Bleistift und Papier darf ich aber nicht herausnehmen.
Inzwischen begründet
Schnitzler, warum er niemals ein Interview gegeben habe.
Unser Gespräch wird also ein Interview über das
Interview.
Artur Schnitzler sagt: »Dreierlei Arten von
Interviews gibt es auf der Welt. Gespräche mit Politikern, Schauspielerinnen und
Schriftstellern. Das Interview mit dem Politiker kann nie aufrichtig sein, der
Politiker sagt immer das Gegenteil dessen, was er denkt, er zeigt nie sein Herz,
vielleicht deshalb nicht, weil er keines hat. Wie entsteht eigentlich ein Interview?
Ein Mensch fragt und der andere antwortet auf diese Fragen. Der Politiker antwortet
aber niemals auf die Fragen, die an ihn gerichtet werden, sondern sagt immer nur das,
von dem er haben will, daß es gedruckt werde. Und die Schauspielerin? Für sie ist
es
ganz egal, was gefragt und was geschrieben wird, für sie ist es nur wichtig, daß ihr
Name recht oft in die Zeitung komme.
Mit einem Schriftsteller aber kann man kein Interview machen. Wenn ein Schriftsteller
etwas zu sagen hat, dann schreibt er es selbst und betraut damit keinen anderen. Nur
ich selbst bin ja imstande, meine eigenen Gedanken richtig wiederzugeben, einem
anderen ist dies unmöglich. Der Schriftsteller kann nie mit Worten, sondern nur mit
dem Geschriebenen sprechen.
»Stellen Sie sich vor«, fährt
Schnitzler fort,
»daß hier ein Grammophon steht. Die feine Nadel überträgt jedes Wort unseres
Gesprächs auf die Platte. Und der Setzer der Druckerei setzt nach keinem Manuskript,
sondern nach seinem Gehör, einfach von der Platte weg. Was für ein Durcheinander
müßte da herauskommen!
Wissen Sie, warum ich kein Interview gebe? Ich stehe zum Interview ähnlich wie zum
Porträt. Von mir hat man noch kein gutes Porträt gemalt, das
größte Genie ist außerstande, ein richtiges Charakterporträt desjenigen zu malen,
der
ihm bloß ein- oder zweimal sitzt. Um
ein richtiges Porträt zu malen, müßte der Maler viele Jahre hindurch sein Modell
studiert haben. Nur eine langjährige Freundschaft zwischen Modell und Künstler
befähigt letzteren, ein lebenswahres Porträt zu schaffen. Aehnlich ergeht es mir.
Ich
lebe mit den Personen, die ich in meinen Arbeiten beschreibe, durch viele Jahre
hindurch in enger Freundschaft und nur so ist es mir möglich, sie richtig zu
zeichnen. Mit mir könnte nur der ein Interview machen, der jahrelang an meiner Seite
lebte und mich durch und durch kennt. Er müßte um meine Gedanken, meine Seele und
alle meine Eigenschaften wissen. Ein Interview mit einem Schriftsteller ist nämlich
nichts anderes als ein Porträt desselben und niemand auf der Welt ist imstande, von
mir nach einer einmaligen Sitzung ein Porträt zu malen. Auch nicht in Form eines
Interviews.«
Ich versuche eine Frage:
»Woran arbeiten Sie
jetzt, Meister?« Lächelnd weicht mir
Schnitzler
aus.
»Ich habe schon gesagt, daß es heute kein Interview geben wird. Und außerdem könnte
ich Ihnen auch nicht sagen, woran ich jetzt arbeite. Ich arbeite immer an vielem
zugleich. Ich habe meine ganz besondere Arbeitseinteilung. Zuerst mache ich mir meine
Notizen, aus denen diktiere ich in die Maschine; wenn aber das Diktat fertig ist,
dann fängt meine eigentliche Arbeit an.«
Schnitzlers Freund, Universitätsprofessor Dr.
Paul Schinnerer, der bekannte
New-Yorker Schriftsteller,
holt den Dichter ab.
Mein
Sohn steht ängstlich in der Ecke, er wartet auf ein Autogramm
von
Artur Schnitzler. Dieser streichelt den
Jungen und fragt ihn: »Wie alt bist du?« – »Fünfzehn Jahre.«
»Fünfzehn Jahre«, sagt der Dichter melancholisch, lang ist es her, daß ich fünfzehn Jahre alt war. . . Damals
erschienen meine ersten
Novellen. . . Ich werde sie zu Hause heraussuchen und werde sie
dir schicken. . . « Und
Artur
Schnitzler wendet sich zum Gehen. Er hat mir kein Interview gewährt. Oder war
es doch eines?