Rudolf Allers: Artur Schnitzler, 13. 5. 1922

Am 15. Mai vollendet Dr. med. Artur Schnitzler sein 60. Lebensjahr. Auch die Ärzte und als deren Sprecher die »Wiener Medizinische Wochenschrift« wollen ihren Glückwunsch mit den zahlreichen anderen vereinen. Es wäre schon die mehr weniger zufällige Tatsache, daß ein berühmter Dichter aus dem ärztlichen Stande hervorgegangen ist, Anlaß genug. Aber hier spinnen sich bedeutsamere, wesensmäßige Zusammenhänge. Daß der Dichter auch Arzt ist, findet in Schnitzlers Werken einen besonderen Ausdruck. Vielleicht würde man, wüßte man von dieser Tatsache nicht, urteilen dürfen, dieser Dichter hätte auch Arzt sein können. Und das nicht etwa deshalb, weil in seinen Schriften Probleme, die auch den Arzt beschäftigen, Situationen, die auch dieser kennt, eindringlich dargestellt werden, und auch nicht darum, weil oftmals Ärzte liebevolle Schilderung finden, sondern weil die ganze Art der Erfassung des Menschen irgendwie an den Standpunkt des Arztes erinnert.
Man wird sich fragen dürfen, wieso es denn überhaupt komme, daß zwischen Kunst und Medizin so oft nahe Beziehungen bestehen. Mancher, der als Arzt begonnen, hat sich der Kunst zugewendet und zahllose Ärzte haben zu diesem oder jenem Zweig der Kunst ein inniges Verhältnis. Es ist, wie bei Sprachwendungen oft, nicht ohne tieferen Sinn, daß wir den Ausdruck: ärztliche Kunst gebrauchen, wenn auch dieses Wort zunächst eine Übersetzung von »ars medici« ist, worin in erster Linie mit »ars« jedes Können bezeichnet ist. Und wenn die Tätigkeit des Arztes mit Recht eine Kunst im eigentlichen Verstande genannt werden darf, so darf es nicht wundernehmen, daß derjenige, der diese Kunst betreibt, auch anderen Künsten nahesteht. Sind sie doch allesamt einander verwandt und Künstler ausübend oder empfänglich zumeist nicht nur auf einem Kunstgebiete.
Das eben ist nun die Frage: Worin liegt das Künstlerische – besser: Kunsthafte – in der Tätigkeit des Arztes? Es trägt diese ein eigenartig zwiespältiges Angesicht. Denn sie ist auf der einen Seite bestrebt, allgemeingültige Gesetze zu finden als Naturwissenschaft, und auf der anderen ist sie auf den Einzelfall in seiner Einzigkeit und Einzigartigkeit eingestellt, auf die Erfassung des Individuellen. Die Art aber, wie sie dieses Individuelle erfaßt, ist die der Kunst. Nicht als ein Aggregat von Merkmalen oder als eine Summe von Eigenschaften erscheint dem betrachtenden Blicke des Arztes der einzelne Mensch: er ist ihm ein Ganzes, das aus Teilen nicht aufgebaut, in Bestandstücke nicht zerlegt, aus seinen Elementen nicht verstanden werden kann, so wenig ein musivisches Gemälde aus dem Haufen Mosaiksteinchen verständlich wird, daraus es der Künstler zusammensetzt. Und so wenig die Erscheinung des Menschen Summe ist, so wenig ist es sein Schicksal. Auch dieses ist keine bloße Reihe von Vorkommnissen, sondern eine sinnhaft zusammenhängende Folge von Erlebnissen, das heißt von Momenten, die durch das Ganze des persönlichen Seins und Werdens ihre individuelle Bedeutung empfangen. Ganz so erfaßt den Menschen die Kunst. Daß sie ihn darüber hinaus darstellt, ist ihre eigene Domäne. Die Kunst aber des Künstlers und die des Arztes wurzeln in derselben Grundstruktur dieses spezifischen individuellen Verstehens: des Menschen.
Der Arzt und der Künstler verstehen den Menschen, sein Tun und sein Leiden. Anders, tiefer freilich, als es jenes Wort vom »Alles verstehen« meint. Hier ist mehr bezeichnet als jenes mehr oberflächliche: ich verstehe, daß man so etwas tut. Hier heißt es: verstehen, daß dieses eine Schicksal sich gerade so und nicht anders gestaltet hat, aus dieser einen Persönlichkeit, aus ihrer Einzigartigkeit heraus: in Erfassung des »individuellen Gesetzes«.
Es wäre der aber ein schlechter Künstler und schlechter Arzt, der es letztlich nicht vermöchte, doch über das Individuelle hinaus zum Typischen, zum Allgemein-Menschlichen fortzuschreiten. In geheimnisvoller Weise spricht sich das Überindividuelle, das Schlechthin-Allgemeine auch in der Besonderheit des Einzelnen aus. Das Individuum ist einzigartig und einmalig und doch zugleich paradigmatisch.
Dieser – nahezu antinomischen – Struktur der Erfassung des Menschen entsprechen merkwürdige Gegensätze in der konkreten Wirklichkeit menschlichen Lebens. Mehr vielleicht als anderswo drückt sich hier die korrelative Bezogenheit zwischen dem Erfassen und seinem Gegenstand sinnfällig aus. Einer dieser Gegensätze, der zugleich eine der tiefsten Wurzeln der Tragik abgibt, ist dieser: die letzten Endes unüberwindbare Einsamkeit des Einzelnen und der Zwang zu den Anderen, der Notwendigkeit der Gemeinschaft des Geschlechts, der Gesellschaft, menschlicher Beziehung überhaupt. Die Auflösung dieses grundsätzlichen und unaufheblichen Zwiespaltes bleibt ewige Aufgabe des Menschen. Aus den Lösungsversuchen erwachsen die meisten, wenn nicht sogar letzten Endes alle, Konflikte des Lebens. In gewissen Situationen, Charakteren, Haltungen drücken sich nun diese Grundzüge der Zwiespältigkeit schärfer aus als in anderen. Solche Situationen sind jene, in denen die Notwendigkeit der Gemeinschaft oder die Unerbittlichkeit der Einsamkeit mit zwingender Gewalt sich aufdrängen: die Situation der Liebe, die Situation des Todes.
Ist aber mit den letzten Zeilen nicht gerade der Problemenkreis Schnitzler’scher Dichtung bezeichnet? Fast alle seine Werke handeln irgendwo von Einsamkeit, davon, daß die Menschen letztlich ihren Weg allein gehen, allein gelassen werden; davon, daß sie – wieviel Gemeinschaft mit anderen, wie innige sie auch gepflogen haben mögen, schließlich im Tode allein sind; davon, wie sie versuchen, in der Liebe, in allen erdenklichen Abwandlungen derselben, sich zu einander zu finden, und versagen; davon, wie sie sich und andere über alle diese Rätsel, über alles dieses Mißlingen hinwegzutäuschen versuchen.
Verführt durch die Eleganz des Wortes und eine gewisse Kühle der Rede, glaubt man in Schnitzlers Schriften den Ausfluß einer liebenswürdig-ironisierenden, skeptisch-betrachtenden Auffassung des Lebens zu sehen. Geht man indes den Problemstellungen auf den Grund, so findet man sie verwurzelt in den letzten und tiefsten Fragen des menschlichen Lebens. Natürlich nicht derart, als ob hier in dialogischer oder epischer Form philosophische Fragen erörtert würden; dies ist weder Aufgabe noch Art des Künstlers. Aber die ewigen Fragen des Lebens uns paradigmatisch vor Augen zu führen, ist er allein imstande.
Dieser Aufgabe wird der menschliche Gestalten und Schicksale formende Künstler nur gerecht, wenn seine Figuren uns verständlich werden, das heißt wenn er es vermag, die innere Notwendigkeit ihres Seins und Tuns einsichtig zu machen. Das kann gelingen – es gibt viele Wege –, wenn er die geheimen Triebkräfte sichtbar macht, die im Menschen ihr Wesen haben. Aber nicht durch blutleere Konstruktionen, sondern in lebendigen Gestalten, die für uns leben, wenn wir das Werk aufnehmen, für den Künstler, da er sie schuf. Die Lebendigkeit der Gestalten eines Kunstwerkes ist indes eine eigenartige, im gewissen Sinne eine Überlebendigkeit, eben dadurch, daß in ihnen nicht nur das zufällige Einzelindividuum, sondern, paradigmatisch dargestellt, das schlechthin Menschliche erscheint. Die Art und Weise aber, in der solche Darstellung geschieht, ist mannigfaltig bei den verschiedenen Künstlern. Die Psychologie Schnitzlers nun ist vielfach die Psychologie des Arztes. Jene nämlich, die uns aus Anlage und Schicksal, aus eigenem Tun und außenbedingtem Geschehen ein Leben verstehen läßt, wie dem Arzt aus den gleichen Momenten Genese und Ablauf der Krankheit durchsichtig wird. Im besonderen: jene, mit welcher der Psychopathologe Ursache, Anlaß und Werden seelischer Veränderung begreift.
Es tritt aber bei Schnitzler eine Seite stark in den Vordergrund, die zwar ärztlichem Denken keineswegs fremd, ja für es grundsätzlich bestimmend, in ihm aber – notwendigerweise – weniger ausgeprägt ist: der Gesichtspunkt des Wertes. Nicht als ob seine Menschen mit den Etiquetten: gut und böse versehen würden oder ihnen Schuld angerechnet und Strafe auferlegt würde. Wie der Arzt nur Krankheiten, kennt Schnitzler nur Schicksale. Aber wie der Arzt Krankheit nur an dem Kanon der Gesundheit beurteilt, so gestaltet Schnitzler das Schicksal an der Norm der Ethik. Es ist ein durchaus anderes, ob Ethik in diesem Sinne zur Norm wird, auf die grundsätzlich Taten und Erlebnisse bezogen erscheinen, oder ob ethische Bewertung aufdringlich in den Vordergrund geschoben wird. Dieses ist die Weise des Moralisten – jene, unter anderem, die des Arztes.
So sehen wir denn in der Person des heute zu Feiernden den Arzt, der in der Gestaltung von Kunstwerken und durch sie über sich selbst hinausweisend uns Aufgaben und Anschauungen vor Augen führt, denen gerecht zu werden zwar nicht dem Mediziner obliegt, wohl aber dem Arzte. Wir begrüßen in Dr. Artur Schnitzler nicht nur den berühmten Kollegen, sondern verehren auch in dem| bezeichneten Sinne einen Lehrmeister. Er darf sich sagen, daß, wenn er die künstlerisch empfängliche Welt mit Kunstwerken, daß er uns Ärzte mit noch mehr beschenkte. Und darum möge es ihm besonders herzlich klingen, wenn die Kollegenschaft zum 15. Mai den Wunsch ausspricht:
Ad multos annos!
 Rudolf Allers.