Am 15. Mai vollendet Dr. med.
Artur Schnitzler sein 60. Lebensjahr. Auch die Ärzte und als deren Sprecher die »
Wiener Medizinische Wochenschrift« wollen ihren Glückwunsch mit
den zahlreichen anderen vereinen. Es wäre schon die mehr weniger zufällige Tatsache,
daß ein berühmter Dichter aus dem ärztlichen Stande hervorgegangen ist, Anlaß genug.
Aber hier spinnen sich bedeutsamere, wesensmäßige Zusammenhänge. Daß der Dichter auch
Arzt ist, findet in
Schnitzlers Werken einen besonderen Ausdruck. Vielleicht würde man, wüßte man von dieser
Tatsache nicht, urteilen dürfen, dieser Dichter hätte auch Arzt sein können. Und das
nicht etwa deshalb, weil in seinen Schriften Probleme, die auch den Arzt
beschäftigen, Situationen, die auch dieser kennt, eindringlich dargestellt werden,
und auch nicht darum, weil oftmals Ärzte liebevolle Schilderung finden, sondern weil
die ganze Art der Erfassung des Menschen irgendwie an den Standpunkt des Arztes
erinnert.
Man wird sich fragen dürfen, wieso es denn überhaupt komme, daß zwischen Kunst und
Medizin so oft nahe Beziehungen bestehen. Mancher, der als Arzt begonnen, hat sich
der Kunst zugewendet und zahllose Ärzte haben zu diesem oder jenem Zweig der Kunst
ein inniges Verhältnis. Es ist, wie bei Sprachwendungen oft, nicht ohne tieferen
Sinn, daß wir den Ausdruck: ärztliche Kunst gebrauchen, wenn auch dieses Wort
zunächst eine Übersetzung von »ars medici« ist, worin in erster Linie mit »ars« jedes
Können bezeichnet ist. Und wenn die Tätigkeit des Arztes mit Recht eine Kunst im
eigentlichen Verstande genannt werden darf, so darf es nicht wundernehmen, daß
derjenige, der diese Kunst betreibt, auch anderen Künsten nahesteht. Sind sie doch
allesamt einander verwandt und Künstler ausübend oder empfänglich zumeist nicht nur
auf einem Kunstgebiete.
Das eben ist nun die Frage: Worin liegt das Künstlerische – besser: Kunsthafte – in
der Tätigkeit des Arztes? Es trägt diese ein eigenartig zwiespältiges Angesicht. Denn
sie ist auf der einen Seite bestrebt, allgemeingültige Gesetze zu finden als
Naturwissenschaft, und auf der anderen ist sie auf den Einzelfall in seiner
Einzigkeit und Einzigartigkeit eingestellt, auf die Erfassung des Individuellen. Die
Art aber, wie sie dieses Individuelle erfaßt, ist die der Kunst. Nicht als ein
Aggregat von Merkmalen oder als eine Summe von Eigenschaften erscheint dem
betrachtenden Blicke des Arztes der einzelne Mensch: er ist ihm ein Ganzes, das aus
Teilen nicht aufgebaut, in Bestandstücke nicht zerlegt, aus seinen Elementen nicht
verstanden werden kann, so wenig ein musivisches Gemälde aus
dem Haufen Mosaiksteinchen verständlich wird, daraus es der Künstler zusammensetzt.
Und so wenig die Erscheinung des Menschen Summe ist, so wenig ist es sein Schicksal.
Auch dieses ist keine bloße Reihe von Vorkommnissen, sondern eine sinnhaft
zusammenhängende Folge von Erlebnissen, das heißt von Momenten, die durch das Ganze
des persönlichen Seins und Werdens ihre individuelle Bedeutung empfangen. Ganz so
erfaßt den Menschen die Kunst. Daß sie ihn darüber hinaus darstellt, ist ihre eigene
Domäne. Die Kunst aber des Künstlers und die des Arztes wurzeln in derselben
Grundstruktur dieses spezifischen individuellen Verstehens: des Menschen.
Der Arzt und der Künstler verstehen den Menschen, sein Tun und sein Leiden. Anders,
tiefer freilich, als es jenes Wort vom »Alles verstehen« meint. Hier ist mehr
bezeichnet als jenes mehr oberflächliche: ich verstehe, daß man so etwas tut. Hier
heißt es: verstehen, daß dieses eine Schicksal sich gerade so und nicht anders
gestaltet hat, aus dieser einen Persönlichkeit, aus ihrer Einzigartigkeit heraus:
in
Erfassung des »individuellen Gesetzes«.
Es wäre der aber ein schlechter Künstler und schlechter Arzt, der es letztlich nicht
vermöchte, doch über das Individuelle hinaus zum Typischen, zum
Allgemein-Menschlichen fortzuschreiten. In geheimnisvoller Weise spricht sich das
Überindividuelle, das Schlechthin-Allgemeine auch in der Besonderheit des Einzelnen
aus. Das Individuum ist einzigartig und einmalig und doch zugleich
paradigmatisch.
Dieser – nahezu antinomischen – Struktur der
Erfassung des Menschen entsprechen merkwürdige Gegensätze in der konkreten
Wirklichkeit menschlichen Lebens. Mehr vielleicht als anderswo drückt sich hier die
korrelative Bezogenheit zwischen dem Erfassen und seinem Gegenstand sinnfällig aus.
Einer dieser Gegensätze, der zugleich eine der tiefsten Wurzeln der Tragik abgibt,
ist dieser: die letzten Endes unüberwindbare Einsamkeit des Einzelnen und der Zwang
zu den Anderen, der Notwendigkeit der Gemeinschaft des Geschlechts, der Gesellschaft,
menschlicher Beziehung überhaupt. Die Auflösung dieses grundsätzlichen und
unaufheblichen Zwiespaltes bleibt ewige Aufgabe des Menschen. Aus den
Lösungsversuchen erwachsen die meisten, wenn nicht sogar letzten Endes alle,
Konflikte des Lebens. In gewissen Situationen, Charakteren, Haltungen drücken sich
nun diese Grundzüge der Zwiespältigkeit schärfer aus als in anderen. Solche
Situationen sind jene, in denen die Notwendigkeit der Gemeinschaft oder die
Unerbittlichkeit der Einsamkeit mit zwingender Gewalt sich aufdrängen: die Situation
der Liebe, die Situation des Todes.
Ist aber mit den letzten Zeilen nicht gerade der Problemenkreis
Schnitzler’scher Dichtung bezeichnet? Fast alle seine Werke handeln irgendwo von
Einsamkeit, davon, daß die Menschen letztlich ihren Weg allein gehen, allein gelassen
werden; davon, daß sie – wieviel Gemeinschaft mit anderen, wie innige sie auch
gepflogen haben mögen, schließlich im Tode allein sind; davon, wie sie versuchen,
in
der Liebe
, in allen erdenklichen Abwandlungen derselben, sich zu einander zu finden,
und versagen; davon, wie sie sich und andere über alle diese Rätsel, über alles
dieses Mißlingen hinwegzutäuschen versuchen.
Verführt durch die Eleganz des Wortes und eine gewisse Kühle der Rede, glaubt man
in
Schnitzlers Schriften den Ausfluß einer liebenswürdig-ironisierenden,
skeptisch-betrachtenden Auffassung des Lebens zu sehen. Geht man indes den
Problemstellungen auf den Grund, so findet man sie verwurzelt in den letzten und
tiefsten Fragen des menschlichen Lebens. Natürlich nicht derart, als ob hier in
dialogischer oder epischer Form philosophische Fragen erörtert würden; dies ist weder
Aufgabe noch Art des Künstlers. Aber die ewigen Fragen des Lebens uns paradigmatisch
vor Augen zu führen, ist er allein imstande.
Dieser Aufgabe wird der menschliche Gestalten und Schicksale formende Künstler nur
gerecht, wenn seine Figuren uns verständlich werden, das heißt wenn er es vermag,
die
innere Notwendigkeit ihres Seins und Tuns einsichtig zu machen. Das kann gelingen
–
es gibt viele Wege –, wenn er die geheimen Triebkräfte sichtbar macht, die im
Menschen ihr Wesen haben. Aber nicht durch blutleere Konstruktionen, sondern in
lebendigen Gestalten, die für uns leben, wenn wir das Werk aufnehmen, für den
Künstler, da er sie schuf. Die Lebendigkeit der Gestalten eines Kunstwerkes ist indes
eine eigenartige, im gewissen Sinne eine Überlebendigkeit, eben dadurch, daß in ihnen
nicht nur das zufällige Einzelindividuum, sondern, paradigmatisch dargestellt, das
schlechthin Menschliche erscheint. Die Art und Weise aber, in der solche Darstellung
geschieht, ist mannigfaltig bei den verschiedenen Künstlern. Die Psychologie
Schnitzlers nun ist vielfach die Psychologie des Arztes. Jene nämlich, die uns aus Anlage
und Schicksal, aus eigenem Tun und außenbedingtem Geschehen ein Leben verstehen läßt,
wie dem Arzt aus den gleichen Momenten Genese und Ablauf der Krankheit durchsichtig
wird. Im besonderen: jene, mit welcher der Psychopathologe Ursache, Anlaß und Werden
seelischer Veränderung begreift.
Es tritt aber bei
Schnitzler eine Seite stark in den Vordergrund, die zwar ärztlichem Denken keineswegs
fremd, ja für es grundsätzlich bestimmend, in ihm aber – notwendigerweise – weniger
ausgeprägt ist: der Gesichtspunkt des Wertes. Nicht als ob seine Menschen mit den
Etiquetten: gut und böse versehen würden oder ihnen Schuld angerechnet und Strafe
auferlegt würde. Wie der Arzt nur Krankheiten, kennt
Schnitzler nur Schicksale. Aber wie der Arzt Krankheit nur an dem Kanon der Gesundheit
beurteilt, so gestaltet
Schnitzler das Schicksal an der Norm der Ethik. Es ist ein durchaus anderes, ob Ethik in
diesem Sinne zur Norm wird, auf die grundsätzlich Taten und Erlebnisse bezogen
erscheinen, oder ob ethische Bewertung aufdringlich in den Vordergrund geschoben
wird. Dieses ist die Weise des Moralisten – jene, unter anderem, die des Arztes.
So sehen wir denn in der Person des heute zu Feiernden den Arzt, der in der
Gestaltung von Kunstwerken und durch sie über sich selbst hinausweisend uns Aufgaben
und Anschauungen vor Augen führt, denen gerecht zu werden zwar nicht dem Mediziner
obliegt, wohl aber dem Arzte. Wir begrüßen in Dr.
Artur
Schnitzler nicht nur den berühmten Kollegen, sondern verehren auch in dem
|
bezeichneten Sinne einen
Lehrmeister. Er darf sich sagen,
daß, wenn er die künstlerisch empfängliche Welt mit Kunstwerken, daß er uns Ärzte
mit
noch mehr beschenkte. Und darum möge es ihm besonders herzlich klingen, wenn die
Kollegenschaft zum
15. Mai den Wunsch ausspricht:
Ad multos annos!
Rudolf Allers.