Kurt Sonnenfeld: Persönliches von Artur Schnitzler, 18. 5. 1922

Persönliches von Artur Schnitzler
Von Dr. Kurt Sonnenfeld
Wien, 18. Mai
Als ich Artur Schnitzler vor einigen Wochen nach einer Theatervorstellung ein Stück Weges heimwärts begleiten durfte, sprachen wir von seinem bevorstehenden sechzigsten Geburtstage. »Eigentlich fröstelt es mich ein bißchen,« sagte er, »wenn ich an dieses Datum denke. Die zehn Jahre seit meinem fünfzigsten Geburtstage sind mir unheimlich schnell vergangen. So greifbar, als ob’s gestern gewesen wäre, sehe ich den Mai 1912 vor mir, die herrlichen Frühlingstage in Brioni. Die folgenden Jahre waren mit Ereignissen vollgepfropft und trotzdem sind sie so schnell an mir vorübergegangen. Und so werde ich auf einmal, noch bevor ich’s recht bemerke, siebzig Jahre alt sein. . . .  Was waren doch in meiner Jugend zehn Jahre für eine lange Zeit! Als achtjähriger Bub ging ich in die Volksschule und als achtzehnjähriger Maturant hatte ich Liebesabenteuer. Aber wenn wir älter werden, so gleiten die Jahre immer schneller und schließlich spurlos an uns vorüber. . . . «
Sie gleiten wohl auch deshalb so schnell an mir vorüber, hätte Schnitzler hinzufügen sollen, weil sie bis an den Rand mit Arbeit gefüllt sind. Von ihm kann man lernen, was Arbeit heißt. Von der ersten flüchtigen Konzeption, vielleicht auf einsamem Waldspaziergang empfangen, bis zur endgültigen Niederschrift führt ein weiter Weg, dessen Etappen man erst ermessen kann, wenn man Entwürfe seiner Manuskripte zu sehen bekommt und sich davon überzeugt, wie er an jedem Worte feilt und bosselt. Er diktiert seine Arbeiten in die Schreibmaschine, deren Geklapper ihn trotz seiner Abneigung gegen Lärm (die Doppeltür seines Arbeitszimmers ist mit schalldämpfenden Lederkissen gepolstert) durchaus nicht stört.
Ebenso sprichwörtlich wie seine bezaubernde Liebenswürdigkeit ist seine vornehme Zurückhaltung. Er stellt sich nicht gern auf ein Piedestal, und wie er allen Geburtstagsfeiern bisher stets aus dem Wege gegangen ist, so ist er vor seinem sechzigsten Geburtstag ins Ausland entflohen.
Die strenge Kritik, die er seinem eigenen Schaffen gegenüber übt, ist daran schuld, daß er einige Arbeiten überhaupt nicht veröffentlicht hat. Als ich ihm einmal nach dem Erscheinen eines Buches sagte, daß es dem bleibenden Bestande der deutschen Literatur angehören werde, lächelte er skeptisch: »Unsterblichkeit? Davon sprechen wir erst bei der zweiten Auflage. . . . « Seine schöpferische Gestaltungskraft wird von einem taghellen Verstande beherrscht, der zu seiner Vorliebe für das Zwielicht, für die Dämmerseelen seltsam kontrastiert. Ueber die Frage, ob er nicht für einen Dichter beinahe zu viel Verstand, eine allzu analytische Veranlagung habe, darüber macht er sich keine Sorgen: »Man kann nie genug Verstand haben. . . . «
Es ist üblich, in seiner ärztlichen Vergangenheit die wichtigste Komponente seines Wesens zu erblicken. Daß er aber auch ein glänzender Jurist ist, wissen die Theaterdirektoren und Verleger, mit denen er Verträge abschließt, zu bestätigen. Und wer soviel über den Tod nachgegrübelt hat wie er, der vermag den philosophischen, den metaphysischen Trieb nicht zu verleugnen. So kann ihn eigentlich jede Fakultät für sich reklamieren. . . . 
Unter seinen Dichtungen sind ihm einige sozialkritische Werke, die viel Widerspruch gefunden haben, besonders ans Herz gewachsen, so »Leutnant Gustl«, »Reigen«, »Professor Bernhardi«.
Es ist schwer, die Gesinnung eines so komplizierten und in allen Bezirken des Geistes heimischen Mannes auf eine eindeutige Formel zu bringen. Schnitzlers Ritterlichkeit läßt ihn immer die Partei der Unterdrückten ergreifen. So sehr er als Dichter objektiv ist und jeder »Tendenz« aus dem Wege geht, so ist ihm seine Kunst dennoch oft zur Tribüne geworden und er hat immer gegen offenkundiges Unrecht mutig Partei ergriffen. Jede Art von Chauvinismus widerspricht seinem innersten Geschmack. Als während des Krieges irgend ein literarischer Industrieritter ein Interview mit ihm erfand und ihm Worte des Hasses gegen große französische und russische Dichter zuschrieb, die ihm lieb und teuer sind, da hat er dagegen aufs schärfste protestiert, obwohl eine solche Auflehnung gegen den Chauvinismus damals gewiß nicht ungefährlich war. Sein Protest machte dann, von Romain Rolland übersetzt, die Runde durch die gesamte internationale Presse und wurde als Kundgebung des repräsentativen österreichischen Dichters überall mit der größten Achtung und Sympathie aufgenommen. Bei späteren Anlässen hat Schnitzler mit der ganzen Autorität seiner Persönlichkeit gegen jeden Terror von rechts und links nachdrücklichst Einspruch erhoben.
Er ist ein wahrer Künstler des Gesprächs, dem er aus den entlegensten Gebieten des Wissens und aus seiner intimen Kenntnis von Menschen und Dingen immer neue Nahrung zuströmen läßt. Müßige Brillantfeuerwerke des Geistes liebt er nicht, und er empfindet sie in seinen frühen Jugendwerken als störend. Starken Worten und Urteilen geht er keineswegs vorsichtig aus dem Wege, und wie er zu lieben und zu verehren vermag, so kann er auch hassen und verachten. Wenn er lebhaft spricht, so bedauert man oft, den unwiderstehlichen Zauber seiner Rede nicht festhalten zu können. Freilich müßte man dazu, wie einmal ein Kritiker über den »Anatol« gesagt hat, eine goldene Feder in Champagner tauchen. . . . 
Seiner Herzensgüte ist es zuzuschreiben, daß er trotz seiner ungeheuren Arbeitsleistung immer noch die Zeit findet, jungen Schriftstellern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dankbar entsinne ich mich eines persönlichen Erlebnisses. Als völlig unbekannter, blutjunger Mensch hatte ich ihm einmal mit der Bitte um sein Urteil ein umfangreiches Manuskript, eine Wiener Liebesgeschichte, übersandt, die »Wilder Mohn« hieß und noch dazu – ein erschwerender Umstand! – in Distichen abgefaßt war. Schnitzler antwortete mir auf dieses Attentat in einem ausführlichen Briefe, und er hat sich die Zeit genommen, mich auf jeden holprigen Hexameter, auf jeden hinkenden Pentameter aufmerksam zu machen und einige Einzelheiten, die ihm gefallen hatten, in sachlichen Bemerkungen hervorzuheben.
In seiner grüblerischen und halb schwermütigen, halb ironischen Art beschäftigt sich Schnitzler schon seit mehreren Jahren mit dem Problem des alternden Mannes, und aus dieser Stimmung heraus hat er die Gestalten Doktor Gräslers und Casanovas geschaffen. Meines Wissens verwahrt er in seiner Schreibtischlade die Skizzen zu einer Novelle, in der das Seelenleben des Mannes um die Sechzig noch deutlicher enthüllt ist. Er weiß genau, wie alt und wie jung man mit sechzig Jahren ist, und ihm gegenüber wäre es eine nichtssagende Redensart, von der unverwelklichen Jugend seines Wesens zu sprechen. Jedes Lebensalter hat seinen eigenen Wert und seinen eigenen Reiz. Auf der Höhe des Lebens, alle Probleme deiner Kunst souverän beherrschend, von den Besten unter deinen Zeitgenossen bewundert und geliebt, gehst du, Artur Schnitzler deinen Weg steil aufwärts zu immer neuen Fernblicken und immer neuen Gipfeln. Daß du ihn in ungebrochener Kraft noch viele Jahre schreiten mögest, wünschen dir alle, denen du kostbarster Kulturbesitz bist. Denn
    Dir drängt sich Dichtertraum an Dichtertraum.
    So sag’ doch, wie bewältigst du die Last
    Der reichen Früchte, die das Auge kaum,
    Das schönheitstrunkene, im Blick umfaßt?
    So wächst aus reichem Lande ein üppiger Baum,
    Dem schwergesegnet prangen Ast an Ast,
    Der Wipfel aber ragt hoch aufgerichtet
    Wie eines Künstlers Haupt, das träumt und dichtet.
    Ob dir dein Schaffen nicht auch Leid beschert
    Und ob nicht manchmal leise Müdigkeit
    Dem Ueberdrange der Gestalten wehrt?
    Wer weiß! . . .  Doch triumphiert die Seligkeit
    Und macht dich Tausenden beneidenswert,
    Wenn aus der Schöpferstunde tiefem Leid
    Ein Werk zu freudigem Leben ringt sich los –
    Gleichwie das Kind aus seiner Mutter Schoß.