Paul Wertheimer: Begegnung mit Artur Schnitzler, 8. 12. 1923

Begegnung mit Artur Schnitzler.
(Aus einem demnächst im Deutschösterreichischen Verlag erscheinenden Essaywerk »Brüder im Geiste«.)
Von Paul Wertheimer
Von Pötzleinsdorf führt nach Salmannsdorf, wo ich jetzt wohne, zwischen Wiesen, braunen Ackerkrumen und blumenumzogenen Holzhäuschen hin, mit dem Blick in das leise gewellte Grün, der schönste Weg aus dem Herzen der Stadt in das Herz des Wienerwaldes, der »Sommerhaidenweg«. So oft ich diesen Weg entlang schreite, früh, wenn die Donau fernher aus Nebelschleiern und die Stadt aus der Morgenfrische steigt, und nachts, wenn sie mit tausend Lichtern phantastisch blitzt – wie ein Persermärchen – immer schwebt mir – und manchmal nicht bloß figürlich – die feine Silhouette Artur Schnitzlers vor, der, wie keiner neben ihm, das Helle und Trauliche dieser Landschaft, die Anmut dieser buschigen Hügel, die lässige Heiterkeit dieser Weingelände, den spielerischen Ernst, selbst noch um das brüchige Felsgestein, gefühlt und gestaltet hat. Durch den »Weg ins Freie«, dieses schöne, von Schatten umdunkelte Bekenntnisbuch, schmiegt sich dieser Pfad, und gegenüber, dort auf der Höhe von Salmannsdorf, wo der junge Strauß seine ersten Walzer sang, da steht noch, ein paar Schritte von der weißen Straße zurück, am Waldrand das versponnene Haus mit dem blauen Engel, in dem die arme Anna um ein kurzes Glück so schmerzlich litt. . . . 
Wer oft diesen Weg beschreitet und wer ihn liebt – und ich lieb’ ihn sehr –, wird Wesen und Werk dieses Dichters mit geistiger Zärtlichkeit umfassen. Dieses Dichters, in dem das Herz der großen Stadt und zugleich dieses grünen Ländchens schlägt, das sich um sie weich wie ein Frauenarm schlingt. Ja, in dieser noch heute seltsam gegenwartsfremden biedermeierischen Landschaft wurzelt seine Kunst, wo sie am innigsten, am sommerlich reifsten und am menschlichsten ist. In dem »Sommerhaidenweg« hier, wo junge Leute, die Laute am Band, wie einst in der Zeit der Schubertiaden, am Sonntag ziehen und noch immer manche Christine auf der Waldbank sinnt und die Schlagermitzis mit den Burschen, die Arme schlenkernd, über die Wiesen laufen, wo von unten her aus den Heurigenschenken mit dem grünen und braunen Busch davor mancher Schnalzer springt und manches Volkssägerbänkel getragen tönt, und vielleicht ist unter diesen Mädchen auch eine blinde, wie in seiner lieben, traurigen Geschichte der »blinden Amsel«. Da wird ein geschwinder| Kommis oder Agent – drei Mädel am Arm – »Gustl« gerufen; er ist gewiß früher einmal Leutnant gewesen, gleich jenem andern unsterblichen Gustl, in dem sich ironisch das ganze gewesene Oesterreich spiegelt. Dieses Herrchen mit den weißen Eskarpins, das jede Weiblichkeit verstehend mustert – er hat noch immer, wie aus unzeitgemäßer Erinnerung, das ein bißchen mokante Lächeln des »Anatol«. Gealtert wird er sich als jener heimfahrende Casanova wieder finden, dessen heimatliches Gesicht selbst unter der Maske der Abenteuer hervorblitzt. Alle ziehen sie heute über den Weg, dieses Poeten wienerisch fesche Figuren.
Doch in der Mittagsstille jetzt weht mich ein Hauch der Schwermut an. Da ist am Ausgang des Sommerhaidenweges zwischen zwei Pappeln ein Bild des Gekreuzigten, ein Betschemel davor und ein Rosmarinkränzel. Ein blinder junger Mensch sitzt, gestützt von einem ältern, dort mit der Mandoline. Er hat, bevor das Würgen über die Welt gekommen, gewiß einmal hier über die Biegung in die grüne Breite gesehen. Ich weiß nicht, warum ich vor den beiden an den blinden Geronimo und seinen Bruder denken muß, diese volkstiefe Geschichte, in der auch eine Seele blind und wunderbar wieder sehend wird. Sie ereignet sich auf dem Stilfser Joch, der Ferdinandshöhe, aber etwas von den Bettelmusikanten auf diesem Wege hier oder unten im Dorf im Hof unter dem grünen Tor ist irgendwie doch darin.
Ein Hauch von Schwermut . . .  stärker weht er jetzt über diese Landschaft hin, von den Zypressen des Friedhofes, der meinen Sommerhaidenweg mit mildem Ernst bewacht. Hier auf dieser Bank, erzählt man, hat Artur Schnitzler seinen wienerischen Roman skizziert. Von hier hat er oft Hügel und Strom und Stadt überschaut, die spitzen Kirchen, das Riesenrad aus den Schleiern des Praters blinkend – ja, den Prater, dessen schein- und überlebendige, marionetten- und wieder herzhaft lustige Seele – die Seele Wiens vielleicht – er wie keiner erkannte. Solches bedenkend, will ich mich auf der Schattenbank niederlassen. Aber da sitzt ein Paar, ein junger hüstelnder, ersichtlich poitrinärer Herr und ein Mädchen – seine Geliebte wohl – das um ihn sorgend ein Tuch breitet, Marie und Felix aus dem »Sterben«, der Lebenshungrige, Todgezeichnete, aus dem, bevor er blutröchelnd zusammenbricht, die Flamme eines letzten Begehrens schlägt. Und vor diesem Friedhof hier, an dem – die Laute am Band – verliebte Jugend an diesem verhangenen Jungsonntag vorüberflirrt, schlägt mir plötzlich der tiefere Sinn dieser spielerisch-schwermütigen Schnitzler-Weise entgegen: ein Maskenscherz des Todes ist dieses Dasein – er tritt in die Lebensfülle hinein wie dieser fremde, todbringende Herr der »Liebelei« in das Gezwitscher der jungen Leute oder wie im »Vermächtnis« der Todessturz in das Mädchengeplauder hinein geschieht. Und aus dem Tod glüht wieder ein letztes Mal das gesteigerte Leben: aus einer sterbenden Stadt (»Der Schleier der Beatrice«); einer sterbenden Zeit (»Der grüne Kakadu«); aus Menschen, die dem Tod verfallen sind (»Der Ruf des Lebens«, »Die letzten Masken«). Oder in einer Frau, der schon das Sterben bestimmt schien, hebt, wieder zum Leben befreiend, jenes wohlbekannte Rauschen des Blutes an (»Frau Berta Garlan«). Oder es kreisen Leben und Tod eines Gefühles ineinander (»Zwischenspiel«). Oder es leuchtet aus großen, gestorbenen Worten noch einmal scheinlebendig-trügerisch auf (»Komödie der Worte«) – –
Aus diesem Friedhof, um den es schnitzlerisch weht, sucht jetzt der Blick – da die Sonne jäh den Schleier durchbrochen – lichtere Gärten. Ja, Gärten sind überall, sie schimmern von der Stadt herüber, und viele Gärten sind in dieses Dichters Werk. (Darum ist ein Duft des Lyrischen über ihm, wie es über Schönherr von seinen Bergen dramatisch gewittert.) Dort hinter St. Stephan . . .  der Stadtpark, der junge Lobheimer und die Christine, sie haben gewiß von dem schmiedeisernen Gitterhäuschen zugesehen, wie die Schwäne – zeitlos wie das Gefühl, das jetzt durch diese Jugend zog – dahingeglitten. . . 
Später hat es ihn dann in die Cottagegärten gelockt, wo die Menschen spekulativer sind – auch über die Seele, das »weite Land«. Und über diese neuen Pfade flogen, von einem anderen Friedhof herüber, wo Theodor Herzl begraben ist, Schatten aus seines Volkes Vergangenheit und sie verdichteten sich zu diesen schmerzlich ironischen und zweifelnd aufbegehrenden Gestalten um den »Weg ins Freie«. Aber da sind andere Gärten in seinem Werk, Wiener Vorstadtgärten, durch die verschwiegene Menschlichkeiten, Trauerspiele zwischen Sohn und Mutter, dunkeln. Und ein Garten mit einem Teich, in den eine stolz Enttäuschte gleitet, und ein Garten rauscht – in Bologna sollen wir glauben – in dem die süße Beatrice dem Dichter Philippo Loschi ihren Traum bekannte:
Blüht er nicht, blühen diese Gärten nicht alle irgendwo um diesen Weg? Ist nicht dort auf der Höhe hinter diesem galanten Luftschlößchen von einst ein verschollener Garten – Libellen spielen um den Weiher, die bourbonische Lilie ist in den Stein gegraben – ist hier nicht der junge Medardus, unbesorgt um die kläffenden Hunde, zu der schönen, stolzen Helene gestürmt?
Wirklich, dieser »Sommerhaidenweg«, an dessen Fuß ich jetzt wohne, und dieser wienerisch-wahre, weiche Poet, sie gehören für mich zusammen. Um Grillparzers Wesen und Werk ist das »Silberband der Donau« geschlungen und, farbig genug, Augarten und Bastei; aus Raimund rauschen die Wälder von Gutenstein; aber aus Artur Schnitzler grüßen diese Hügel, schlägt die Goldammer des Wienerwaldes. Hier, aus diesem Winkel des Wienertums, blüht sein Werk am echtesten auf, hier zwischen den grünen Torbogen des Dörfchens unten, den alten Brunnen, dem Heurigenbüschen hier, wo das Volkhafte – durch die Natur – immer noch einen Schimmer des Geistigen, das Geistige einen Schimmer des Volkhaften bewahrt.
Und da ich jetzt meinen Weg entlang heimwärts schreite und noch einmal seines Dichters denke und seiner Zukunft in diesem Lande, steigt wieder ein Schatten von den Zypressen auf. Ist er nicht heute, wie dieser Weg, nicht bereits ein Stück Vergangenheit? Aber nein, getrost – nur in diesem alten Wien, zu dem Artur Schnitzler gehört, lebt die Gewähr unserer Dauer, wie dieses Wien selbst nur noch hier zwischen diesen Hügeln lebt, den Ausläufern des Wienerwaldes – wie Schnitzler ein letzter, des Endes bewußter heiter-melancholischer Klang dieser Heimat ist, ein Ausläufer Grillparzers und Raimunds und der Beginn eines noch ungewissen Neuen. So wird er wohl, gleich diesem Weg, bestehen bleiben. Ich stelle mir vor, daß einmal aus der »Liebelei« künftigen Geschlechtern eine zarte Erinnerung steigen wird, wie sie für uns jetzt aus Schuberts Liedern steigt, und daß man den Herrn von Sala wie ein fernes, verblaßtes Ahnenbild, nicht ohne leise Trauer betrachten wird. . . . 
Nein, die Schatten des Vergänglichen, sie dürfen uns nicht schrecken, gedenkt man des feinsten Künstlers in dem derb gewordenen Oesterreich von heute. Und ist es ein Wunder – eines dieser telepathischen Wunder, die Artur Schnitzler gern beschreibt – er, der in den Traum wie in den Tag geschaut – da kommt er selbst des Weges: trotz der beginnenden Sechzig mit diesem vom Temperament dirigierten Schritt – gedrungene Kraft bei aller Zartheit – und mit diesem klaren Blick – melancholisch-heiter in den Kern der Dinge: