(Aus einem demnächst im
Deutschösterreichischen Verlag erscheinenden Essaywerk »
Brüder im Geiste«.)
Von Paul Wertheimer
Von
Pötzleinsdorf führt nach
Salmannsdorf, wo ich jetzt wohne, zwischen Wiesen, braunen
Ackerkrumen und blumenumzogenen Holzhäuschen hin, mit dem Blick in das leise gewellte
Grün, der schönste Weg aus dem Herzen der Stadt in das Herz des
Wienerwaldes, der »
Sommerhaidenweg«. So oft ich diesen Weg entlang schreite, früh, wenn die
Donau fernher aus Nebelschleiern und die Stadt
aus der Morgenfrische steigt, und nachts, wenn sie mit tausend Lichtern phantastisch
blitzt – wie ein Persermärchen – immer schwebt mir – und manchmal nicht bloß
figürlich – die feine Silhouette
Artur
Schnitzlers vor, der, wie keiner neben ihm, das Helle und Trauliche dieser
Landschaft, die Anmut dieser buschigen Hügel, die lässige Heiterkeit dieser
Weingelände, den spielerischen Ernst, selbst noch um das brüchige Felsgestein,
gefühlt und gestaltet hat. Durch den »
Weg ins
Freie«, dieses schöne, von Schatten umdunkelte Bekenntnisbuch, schmiegt sich
dieser Pfad, und gegenüber, dort auf der Höhe von
Salmannsdorf, wo der junge
Strauß
seine ersten Walzer sang, da steht noch, ein paar Schritte von der weißen Straße
zurück, am Waldrand das versponnene Haus mit dem blauen Engel, in dem die arme
Anna
um ein kurzes Glück so schmerzlich litt. . . .
Wer oft diesen Weg beschreitet und wer ihn liebt – und ich lieb’ ihn sehr –, wird
Wesen und Werk dieses
Dichters mit geistiger Zärtlichkeit umfassen. Dieses
Dichters, in dem das Herz der großen Stadt
und zugleich dieses grünen Ländchens schlägt, das sich um sie weich wie ein Frauenarm
schlingt. Ja, in dieser noch heute seltsam gegenwartsfremden biedermeierischen
Landschaft wurzelt seine Kunst, wo sie am innigsten, am sommerlich reifsten und am
menschlichsten ist. In dem »
Sommerhaidenweg«
hier, wo junge Leute, die Laute am Band, wie einst in der Zeit der
Schubertiaden, am Sonntag ziehen und noch immer manche
Christine auf der Waldbank sinnt und die
Schlagermitzis mit den Burschen, die Arme schlenkernd, über die Wiesen laufen, wo
von unten her aus den Heurigenschenken mit dem grünen und braunen Busch davor
mancher Schnalzer springt und manches Volkssägerbänkel getragen tönt, und vielleicht
ist unter diesen Mädchen auch eine blinde, wie in seiner lieben, traurigen Geschichte
der »
blinden Amsel«. Da wird ein geschwinder
| Kommis oder Agent – drei Mädel am Arm –
»Gustl« gerufen; er ist gewiß früher einmal Leutnant gewesen, gleich jenem andern
unsterblichen
Gustl, in dem sich ironisch das
ganze gewesene Oesterreich spiegelt. Dieses Herrchen mit den weißen Eskarpins, das jede Weiblichkeit verstehend mustert – er hat noch
immer, wie aus unzeitgemäßer Erinnerung, das ein bißchen mokante Lächeln des »
Anatol«. Gealtert wird er sich als jener
heimfahrende Casanova wieder finden, dessen heimatliches Gesicht selbst unter der Maske der
Abenteuer hervorblitzt. Alle ziehen sie heute über den Weg, dieses
Poeten wienerisch fesche Figuren.
Doch in der Mittagsstille jetzt weht mich ein Hauch der Schwermut an. Da ist am
Ausgang des
Sommerhaidenweges zwischen zwei
Pappeln ein Bild des Gekreuzigten, ein Betschemel davor und ein Rosmarinkränzel. Ein
blinder junger Mensch sitzt, gestützt von einem ältern, dort mit der Mandoline. Er
hat, bevor das Würgen über die Welt gekommen, gewiß einmal hier über die Biegung in
die grüne Breite gesehen. Ich weiß nicht, warum ich vor den beiden an den
blinden Geronimo und seinen Bruder denken muß,
diese volkstiefe Geschichte, in der auch eine Seele blind und wunderbar wieder sehend
wird. Sie ereignet sich auf dem
Stilfser Joch,
der
Ferdinandshöhe, aber etwas von den
Bettelmusikanten auf diesem Wege hier oder unten im Dorf im Hof unter dem grünen Tor
ist irgendwie doch darin.
Ein Hauch von Schwermut . . . stärker weht er jetzt über diese
Landschaft hin, von den Zypressen des
Friedhofes, der meinen
Sommerhaidenweg mit mildem Ernst bewacht. Hier auf dieser Bank, erzählt man,
hat
Artur Schnitzler seinen
wienerischen
Roman skizziert. Von hier hat er oft Hügel und Strom und Stadt überschaut, die
spitzen Kirchen, das
Riesenrad aus den Schleiern
des
Praters blinkend – ja, den
Prater, dessen schein- und überlebendige, marionetten- und wieder
herzhaft lustige Seele – die Seele
Wiens
vielleicht – er wie keiner erkannte. Solches bedenkend, will ich mich auf der
Schattenbank niederlassen. Aber da sitzt ein Paar, ein junger hüstelnder, ersichtlich
poitrinärer Herr und ein Mädchen – seine Geliebte wohl –
das um ihn sorgend ein Tuch breitet, Marie und Felix aus dem »
Sterben«, der Lebenshungrige, Todgezeichnete, aus dem, bevor
er blutröchelnd zusammenbricht, die Flamme eines letzten Begehrens schlägt. Und vor
diesem Friedhof hier, an dem – die Laute am Band – verliebte Jugend an diesem
verhangenen Jungsonntag vorüberflirrt, schlägt mir plötzlich der tiefere Sinn dieser
spielerisch-schwermütigen
Schnitzler-Weise
entgegen: ein Maskenscherz des Todes ist dieses Dasein – er tritt in die Lebensfülle
hinein wie dieser fremde, todbringende Herr der »
Liebelei« in das Gezwitscher der jungen Leute oder wie im »
Vermächtnis« der Todessturz in das Mädchengeplauder hinein
geschieht. Und aus dem Tod glüht wieder ein letztes Mal das gesteigerte Leben: aus
einer sterbenden Stadt (»
Der Schleier der
Beatrice«); einer sterbenden Zeit (»
Der grüne
Kakadu«); aus Menschen, die dem Tod verfallen sind (»
Der Ruf des Lebens«, »
Die
letzten Masken«). Oder in einer Frau, der schon das Sterben bestimmt schien,
hebt, wieder zum Leben befreiend, jenes wohlbekannte Rauschen des Blutes an (»
Frau Berta
Garlan«). Oder es kreisen Leben und Tod eines Gefühles ineinander
(»Zwischenspiel«). Oder es leuchtet aus großen, gestorbenen Worten noch einmal
scheinlebendig-trügerisch auf (»
Komödie der
Worte«) – –
Aus diesem
Friedhof, um den es
schnitzlerisch weht, sucht jetzt der Blick – da die Sonne jäh
den Schleier durchbrochen – lichtere Gärten. Ja, Gärten sind überall, sie schimmern
von der Stadt herüber, und viele Gärten sind in dieses Dichters Werk. (Darum ist ein
Duft des Lyrischen über ihm, wie es über
Schönherr von seinen Bergen dramatisch gewittert.) Dort hinter
St. Stephan . . . der
Stadtpark, der
junge
Lobheimer und die
Christine, sie
haben gewiß von dem schmiedeisernen Gitterhäuschen zugesehen, wie die Schwäne – zeitlos wie
das Gefühl, das jetzt durch diese Jugend zog – dahingeglitten. . .
Später hat es ihn dann in die
Cottagegärten gelockt, wo die Menschen spekulativer sind – auch über die Seele, das »
weite Land«. Und über diese neuen Pfade flogen,
von einem anderen
Friedhof herüber, wo
Theodor Herzl begraben ist, Schatten aus seines Volkes
Vergangenheit und sie verdichteten sich zu diesen schmerzlich ironischen und
zweifelnd aufbegehrenden Gestalten um den »
Weg ins
Freie«. Aber da sind andere Gärten in seinem Werk,
Wiener Vorstadtgärten, durch die verschwiegene Menschlichkeiten,
Trauerspiele zwischen Sohn und Mutter, dunkeln. Und ein Garten mit einem Teich, in
den eine stolz
Enttäuschte gleitet, und ein
Garten rauscht – in
Bologna sollen wir glauben –
in dem die süße
Beatrice dem
Dichter
Philippo Loschi ihren Traum
bekannte:
Blüht er nicht, blühen diese Gärten nicht alle irgendwo um diesen
Weg? Ist nicht dort auf der Höhe hinter diesem galanten
Luftschlößchen von einst ein verschollener Garten – Libellen spielen um den Weiher,
die bourbonische Lilie ist in den Stein gegraben – ist hier nicht der junge
Medardus, unbesorgt um die kläffenden Hunde, zu
der schönen, stolzen
Helene gestürmt?
Wirklich, dieser »
Sommerhaidenweg«, an dessen Fuß
ich jetzt wohne, und dieser
wienerisch-wahre,
weiche
Poet, sie gehören für
mich zusammen. Um
Grillparzers Wesen und Werk
ist das »
Silberband der Donau« geschlungen und, farbig genug,
Augarten
und Bastei; aus
Raimund rauschen
die Wälder von
Gutenstein; aber aus
Artur Schnitzler grüßen diese Hügel, schlägt die
Goldammer des
Wienerwaldes. Hier, aus diesem
Winkel des
Wienertums, blüht sein Werk am
echtesten auf, hier zwischen den grünen Torbogen des Dörfchens unten, den alten
Brunnen, dem Heurigenbüschen hier, wo das Volkhafte – durch die Natur – immer noch
einen Schimmer des Geistigen, das Geistige einen Schimmer des Volkhaften bewahrt.
Und da ich jetzt meinen Weg entlang heimwärts schreite und noch einmal seines
Dichters denke und seiner
Zukunft in diesem Lande, steigt wieder ein Schatten von den Zypressen auf. Ist er
nicht heute, wie dieser Weg, nicht bereits ein Stück Vergangenheit? Aber nein,
getrost – nur in diesem alten
Wien, zu dem
Artur Schnitzler gehört, lebt die Gewähr unserer
Dauer, wie dieses
Wien selbst nur noch hier
zwischen diesen Hügeln lebt, den Ausläufern des
Wienerwaldes – wie
Schnitzler ein
letzter, des Endes bewußter heiter-melancholischer Klang dieser Heimat ist, ein
Ausläufer
Grillparzers und
Raimunds und der Beginn eines noch ungewissen Neuen. So wird
er wohl, gleich diesem Weg, bestehen bleiben. Ich stelle mir vor, daß einmal aus der
»
Liebelei« künftigen Geschlechtern eine zarte
Erinnerung steigen wird, wie sie für uns jetzt aus
Schuberts Liedern steigt, und daß man den
Herrn von Sala wie ein fernes, verblaßtes Ahnenbild, nicht ohne leise Trauer betrachten
wird. . . .
Nein, die Schatten des Vergänglichen, sie dürfen uns nicht schrecken, gedenkt man
des
feinsten Künstlers in dem derb gewordenen
Oesterreich von heute. Und ist es ein Wunder – eines dieser telepathischen
Wunder, die
Artur Schnitzler gern beschreibt –
er, der in den Traum wie in den Tag geschaut – da kommt er selbst des Weges: trotz
der beginnenden Sechzig mit diesem vom Temperament dirigierten Schritt – gedrungene
Kraft bei aller Zartheit – und mit diesem klaren Blick – melancholisch-heiter in den
Kern der Dinge: