Karl Marilaun: Bei Artur Schnitzler, 28. 10. 1923

Von Karl Marilaun
Zu anderen Dichtern geht man, auf Pathos und Bedeutung vorbereitet, in der Stimmung eines historischen Augenblicks. Im nachhinein stellt sich dann allerdings meistens heraus, daß das Ganze eine lokal historische, weniger beträchtliche als sentimentale Angelegenheit war.
Auf dem Wege zu Artur Schnitzler darf man die etwas fröhlichere Erwartung mitnehmen, daß man natürlich zu einem sehr berühmten, oft und sehr wortreich gefeierten und außerdem auch wirklich verehrten Menschen kommt. Aber dieser Dichter hat die äußere und mehr noch die innere Tournüre des Weltmannes, dem es stärkstes Unbehagen bereiten müßte, wenn er ausdrücklich als Zierde der Nation und verdienstvoller Bürger angesprochen würde. Kommt man trotzdem in einiger Befangenheit zu ihm, so weiß er sie ziemlich schnell zu zerstreuen, mit einer Plauderkunst, die so amüsant, beweglich und bestrickend ist, daß man erst im nachhinein zur Feststellung kommt, mit wieviel Grazie und formbewußter Kultur ein bedeutender Mensch es hier vermieden hat, bedeutend zu erscheinen.
Interviews allerdings bittet er sich gleich im vorhinein aus. Er hat die denkbar geringste Neigung, Monologe zu halten, die hernach als Aeußerung eines berühmten Zeitgenossen registriert werden könnten. Außerdem sagt er fast prinzipiell lauter Dinge, gegen die man am liebsten sofort eine Menge respektvoller Verwahrungen einlegen möchte. Er spricht nämlich über Artur Schnitzler, den Dichter, mit einem äußerst weitgehenden Freimut und einer nicht gerade unwohlwollenden, für jeden Versuch von Komplimenten aber absolut unempfänglichen Skepsis. Es gibt wenig, das amüsanter wäre, als von ihm die Entstehungsgeschichte seines fast weltberühmt gewordenen »Anatol« erzählt zu bekommen. Dieser junge Mann, dessen geistiger Habitus das Gesicht einer oder zweier Generationen junger Männer bestimmt hat, stammt nach Artur Schnitzler zunächst und vor allem gar nicht so sehr von ihm selbst, als von einer schwer eruierbaren Menge französischer Belletristen und Pariser Lustspielfiguren ab. Schnitzler hatte immer ein heiteres Lächeln, wenn ihm die Kritik, die Verehrer und die Literaturhistoriker ganz bestimmte, tiefere Beziehungen zu diesem Anatol nachsagten. Wie sehen diese Beziehungen in Wirklichkeit aus? Der junge Arzt Dr. Schnitzler schrieb, ohne allergeringste Absicht auf Bereicherung der heimischen Literaturproduktion, eine ihm schon damals ziemlich belanglos erscheinende Lustspielszene, nicht viel mehr als eine Plauderei »nach dem Französischen«. Er wußte damals kaum, daß Dichter verpflichtet sind, eine eigene Note zu haben, und wenn man sie heute im »Anatol« erblicken will, lächelt er mit unbelehrbarer Ironie.
Also, jenem Lustspielszenchen, dessen Held übrigens noch gar nicht Anatol, sondern Richard oder Robert hieß, folgte eine zweite, ebenso beiläufig dramatisierte Plauderei. Und viel später erst kam Schnitzler der Gedanke, diese und andere, in seiner Lade liegende Einakter zu vereinigen. Von einem wirklichen Erfolg aber konnte man noch lange nicht sprechen, und als er endlich kam, war Schnitzler über diesen »Anatol« längst hinausgewachsen, er interessierte ihn kaum mehr und die eine oder andere Szene dieser fast klassisch gewordenen Reihe kann er heute geradezu »nicht ausstehen«. Uebrigens ist es interessant, daß Mitterwurzer eines Tages zu ihm mit dem Antrag kam, den Anatol spielen zu wollen. Er wünschte aber, daß Schnitzler für ihn eine Szene hinzudichten möge, und auf die Frage, was dies für eine Szene sein solle, sagte Mitterwurzer nach einigem Ueberlegen: »Schließen Sie den Zyklus mit ›Anatols Tod‹ ab!« Es war die Idee eines Tragöden, mit der sich Schnitzler nicht zu befreunden vermochte, aber er skizzierte immerhin den Entwurf eines neuen, die Szenenreihe abschließenden Einakters. Der Entwurf blieb liegen, Mitterwurzer starb und mit ihm mußte die befremdend erscheinende, aber interessante Idee eines Anatol, dessen Jünglings- und Genießergesicht andere Züge als die des herkömmlichen, netten Bonvivants getragen hätte, begraben werden.
Im Gespräch streift Artur Schnitzler noch manche Entstehungsgeschichte später erschienener Werke, von denen er fast das meiste nur mit starken kritischen Vorbehalten gelten lassen will. So gibt er zum Beispiel seinen »Ruf des Lebens« fast vollständig preis. Er weiß, daß der erste Akt ausgezeichnet ist, beim zweiten geht er noch mit, den dritten aber streicht er mit einer einzigen Handbewegung glatt durch. Er kann nicht finden, daß hier noch etwas zu retten wäre. Ihn noch einmal schreiben? Ja, er hat mitunter daran gedacht. Aber es gibt so viele, ihn stärker beschäftigende und ihm dringender erscheinende Pläne als die Umarbeitung eines alten Stückes. Ein neues Bühnenwerk steht jetzt übrigens vor der Vollendung. Novellistisches läuft zwischendurch; nach längerer Zeit beschäftigt ihn auch wieder die Konzeption eines Romans, und während er davon spricht, fällt ihm ein, wie lange er sich eigentlich schon vorgenommen hat, seinen »Weg ins Freie« wieder einmal zu lesen. An diesem Buch hängt er mit einer Art von wirklich starkem Gefühl, und da er eben zuvor bei einer beiläufigen Aufzählung seiner Bühnendichtungen mit kritischen Einwänden nicht gespart hat – den meisten dieser Formulierungen, sagt er lächelnd, möchte er bei der berufsmäßigen Kritik nicht gern begegnen –, liegt die Frage nahe, welches seiner Theaterstücke er am höchsten schätzt.
Schnitzler, auf und ab in seinem Zimmer, kräuselt die Lippen, dann sieht er aber doch einen Augenblick nachdenklich vor sich hin, um sachlich und bestimmt antworten zu können. Die Wahl fällt ihm anscheinend nicht schwer. Die »Komödie der Worte« hat er gern, das heißt, er könnte sich entschließen, sie geradewegs gut zu finden. Um das ganz glatt entscheiden zu können, wäre es allerdings nötig, daß ein anderer das Stück geschrieben hätte. Dann, vielleicht, würde Artur Schnitzler die »Komödie der Worte«, den »Weg ins Freie« und hoffentlich noch ein paar andere von seinen Sachen ins Regal zu den Büchern legen, die wieder einmal zu lesen er gerne Zeit haben möchte.
Weggehend, sieht man die erleuchteten Scheiben seines Arbeitszimmers durch die verregneten, kleinen und finsteren Herbstgärten glänzen. Hinter schwarzen Gittern, auf abgeräumten Beeten stehen die Terrakottastatuen der hier ansässigen, guten Bürger. Nebel spinnt ums halbe Licht der spärlichen Gaslaternen, in fallendes Laub versinkt der Fuß, und der Lichtkegel, den ein helles Feuer in die nachtstumme Allee wirft, scheucht ein engverschlungenes Paar auseinander. Zögernd lösen sie ihre Hände, der junge Mensch schlägt seinen Rockkragen auf, und das Mädchen, Regentropfen aus dem Haar streifend, fängt mit der Hand ein herangewehtes, von Nässe schweres Blatt auf. Sie läßt es fallen. Ihre dunklen Augen haften einen Moment, sonderbar schweifend, an dem Fremden, der vorübergeht.
Wie durch eine erfundene, aus Bücherseiten, von Theaterszenen symbolhaft herüberschattende Welt geht man und erkennt sie, diese schweigenden Herbstgärten Artur Schnitzlers, des Dichters von Wien.