Von Karl Marilaun
Zu anderen Dichtern geht man, auf Pathos und Bedeutung vorbereitet, in der Stimmung
eines historischen Augenblicks. Im nachhinein stellt sich dann allerdings meistens
heraus, daß das Ganze eine lokal historische, weniger beträchtliche als sentimentale
Angelegenheit war.
Auf dem Wege zu
Artur Schnitzler darf man die
etwas fröhlichere Erwartung mitnehmen, daß man natürlich zu einem sehr berühmten,
oft
und sehr wortreich gefeierten und außerdem auch wirklich verehrten Menschen kommt.
Aber dieser Dichter hat die äußere und mehr noch die innere Tournüre des Weltmannes, dem es stärkstes Unbehagen
bereiten müßte, wenn er ausdrücklich als Zierde der Nation und verdienstvoller Bürger
angesprochen würde. Kommt man trotzdem in einiger Befangenheit zu ihm, so weiß er
sie
ziemlich schnell zu zerstreuen, mit einer Plauderkunst, die so amüsant, beweglich
und
bestrickend ist, daß man erst im nachhinein zur Feststellung kommt, mit wieviel
Grazie und formbewußter Kultur ein bedeutender Mensch es hier vermieden hat,
bedeutend zu erscheinen.
Interviews allerdings bittet er sich gleich im vorhinein aus. Er hat die denkbar
geringste Neigung, Monologe zu halten, die hernach als Aeußerung eines berühmten
Zeitgenossen registriert werden könnten. Außerdem sagt er fast prinzipiell lauter
Dinge, gegen die man am liebsten sofort eine Menge respektvoller Verwahrungen
einlegen möchte. Er spricht nämlich über
Artur
Schnitzler, den Dichter, mit einem äußerst weitgehenden Freimut und einer
nicht gerade unwohlwollenden, für jeden Versuch von Komplimenten aber absolut
unempfänglichen Skepsis.
Es gibt wenig, das
amüsanter wäre, als von ihm die Entstehungsgeschichte seines fast weltberühmt
gewordenen »
Anatol« erzählt zu bekommen. Dieser
junge Mann, dessen geistiger Habitus das Gesicht einer oder zweier Generationen
junger Männer bestimmt hat,
stammt
nach
Artur Schnitzler zunächst und vor allem
gar nicht so sehr von ihm selbst, als von einer schwer eruierbaren Menge
französischer Belletristen und
Pariser Lustspielfiguren ab.
Schnitzler hatte immer ein heiteres Lächeln, wenn ihm die Kritik, die
Verehrer und die Literaturhistoriker
ganz bestimmte, tiefere Beziehungen zu diesem
Anatol nachsagten. Wie sehen diese Beziehungen in Wirklichkeit aus? Der
junge Arzt Dr.
Schnitzler schrieb, ohne
allergeringste Absicht auf Bereicherung der heimischen Literaturproduktion, eine ihm
schon damals ziemlich belanglos erscheinende Lustspielszene, nicht viel mehr als eine
Plauderei »nach dem
Französischen«. Er wußte
damals kaum, daß Dichter verpflichtet sind, eine eigene Note zu haben, und wenn man
sie heute im »
Anatol« erblicken will, lächelt er
mit unbelehrbarer Ironie.
Also, jenem
Lustspielszenchen, dessen Held übrigens noch gar nicht Anatol, sondern Richard oder Robert hieß, folgte eine
zweite, ebenso beiläufig dramatisierte Plauderei. Und viel später
erst kam
Schnitzler der
Gedanke, diese und andere, in seiner Lade liegende Einakter zu vereinigen. Von einem
wirklichen Erfolg aber konnte man noch lange nicht sprechen, und als er endlich kam,
war
Schnitzler über diesen »
Anatol« längst hinausgewachsen, er interessierte ihn kaum
mehr und die eine oder andere Szene dieser fast klassisch gewordenen Reihe kann er
heute geradezu »nicht ausstehen«. Uebrigens ist es interessant, daß
Mitterwurzer eines Tages zu ihm mit dem Antrag kam, den
Anatol spielen zu wollen. Er wünschte aber, daß
Schnitzler für ihn eine Szene hinzudichten
möge, und auf die Frage, was dies für eine Szene sein solle, sagte
Mitterwurzer nach einigem Ueberlegen: »Schließen Sie den
Zyklus mit ›
Anatols Tod‹ ab!« Es
war die Idee eines Tragöden, mit der sich
Schnitzler nicht zu befreunden vermochte, aber er skizzierte immerhin den
Entwurf eines neuen, die Szenenreihe
abschließenden Einakters. Der Entwurf blieb liegen,
Mitterwurzer starb und mit ihm mußte die befremdend erscheinende, aber
interessante Idee eines
Anatol, dessen
Jünglings- und Genießergesicht andere Züge als die des herkömmlichen, netten
Bonvivants getragen hätte, begraben werden.
Im Gespräch streift
Artur Schnitzler noch
manche Entstehungsgeschichte später erschienener Werke, von denen er fast das meiste
nur mit starken kritischen Vorbehalten gelten lassen will. So gibt er zum Beispiel
seinen »
Ruf des Lebens« fast vollständig preis.
Er weiß, daß der erste Akt ausgezeichnet ist, beim zweiten geht er noch mit, den
dritten aber streicht er mit einer einzigen Handbewegung glatt durch. Er kann nicht
finden, daß hier noch etwas zu retten wäre. Ihn noch einmal schreiben? Ja, er hat
mitunter daran gedacht. Aber es gibt so viele, ihn stärker beschäftigende und ihm
dringender erscheinende Pläne als die Umarbeitung eines alten Stückes. Ein neues
Bühnenwerk steht jetzt übrigens vor der Vollendung.
Novellistisches läuft zwischendurch; nach längerer Zeit beschäftigt ihn auch wieder
die Konzeption eines
Romans, und während er davon spricht, fällt ihm ein, wie lange er sich eigentlich
schon vorgenommen hat, seinen »
Weg ins Freie« wieder einmal zu lesen. An diesem Buch hängt er mit einer Art
von wirklich starkem Gefühl, und da er eben zuvor bei einer beiläufigen Aufzählung
seiner Bühnendichtungen mit kritischen Einwänden nicht gespart hat – den meisten
dieser Formulierungen, sagt er lächelnd, möchte er bei der berufsmäßigen Kritik nicht
gern begegnen –,
liegt die Frage nahe, welches
seiner Theaterstücke er am höchsten schätzt.
Schnitzler, auf und ab in seinem Zimmer,
kräuselt die Lippen, dann sieht er aber doch einen Augenblick nachdenklich vor sich
hin, um sachlich und bestimmt antworten zu können. Die Wahl fällt ihm anscheinend
nicht schwer. Die »
Komödie der Worte« hat er
gern, das heißt, er könnte sich entschließen, sie geradewegs gut zu finden. Um das
ganz glatt entscheiden zu können, wäre es allerdings nötig, daß ein anderer das Stück
geschrieben hätte. Dann, vielleicht, würde
Artur
Schnitzler die »
Komödie der Worte«, den
»
Weg ins Freie« und hoffentlich noch ein paar
andere von seinen Sachen ins Regal zu den Büchern legen, die wieder einmal zu lesen
er gerne Zeit haben möchte.
Weggehend, sieht man die erleuchteten Scheiben seines Arbeitszimmers durch die
verregneten, kleinen und finsteren Herbstgärten glänzen. Hinter schwarzen Gittern,
auf abgeräumten Beeten stehen die Terrakottastatuen der hier ansässigen, guten
Bürger. Nebel spinnt ums halbe Licht der spärlichen Gaslaternen, in fallendes Laub
versinkt der Fuß, und der Lichtkegel, den ein helles Feuer in die nachtstumme Allee
wirft, scheucht ein engverschlungenes Paar auseinander. Zögernd lösen sie ihre Hände,
der junge Mensch schlägt seinen Rockkragen auf, und das Mädchen, Regentropfen aus
dem
Haar streifend, fängt mit der Hand ein herangewehtes, von Nässe schweres Blatt auf.
Sie läßt es fallen. Ihre dunklen Augen haften einen Moment, sonderbar schweifend,
an
dem Fremden, der vorübergeht.
Wie durch eine erfundene, aus Bücherseiten, von Theaterszenen symbolhaft
herüberschattende Welt geht man und erkennt sie, diese schweigenden Herbstgärten
Artur Schnitzlers, des Dichters von
Wien.