Von
Dr. Kurt Sonnenfeld.
Wie freute ich mich darauf,
Artur Schnitzler
wiederzusehen! Aber heutzutage ist es nicht ganz einfach, ins
Währinger Cottage zu gelangen. Die Elektrische blieb in dem
wienerischen Brei von Schnee und Kot stecken, und
da der Motor weder auf die Liebkosungen noch auf die Flüche des Wagenführers mit
einem Lebenszeichen antwortete, kam ich mit beträchtlicher Verspätung in der
Sternwartestraße an. Zum Glück verbreitete der Schnee einen ungewissen Schein, denn
sonst hätte ich in der Finsternis kaum die liebe, altvertraute Villa gefunden, in der Frau
Hedwig Bleibtreu bis zum Tode ihres Gatten
Römpler gewohnt hat und die jetzt
Artur
Schnitzler gehört.
Bei der Gartentür treffe ich
Heini, den Sohn
des Dichters, einen bildhübschen, sympathischen jungen Menschen, dessen offenes
frisches Wesen auf manche sanfte
Christine und manche kecke
Schlagermizzi seine Wirkung nicht verfehlen wird. . .
Artur Schnitzler empfängt mich mit seiner
bezaubernden Herzlichkeit, die den Besucher völlig vergessen läßt, daß er mit einem
berühmten Dichter spricht. Er ist völlig frei von jener gewissen Pose der
Selbstbespiegelung, die den Verkehr mit berühmten Menschen manchmal so unerquicklich
macht. Er spricht schnell und lebhaft, blendend geistreich, aber niemals
nur geistreich. . . Müßige
Brillantfeuerwerke des Geistes liebt er nicht. Starken Worten und kräftigen Urteilen
geht er keineswegs vorsichtig aus dem Wege, und wer ihn um der gedämpften Lichter
seiner Jugendwerke willen für einen zimperlichen Aestheten halten wollte, würde sich
sehr irren. Denn wenn auch die Tür seines Arbeitszimmers mit Lederkissen gepolstert
ist, so lauscht
Schnitzler dennoch mit scharfem
Ohr auf die Stimmen der Wirklichkeit. . .
Daß der Dichter niemals aufgehört hat, Arzt zu sein, erkennt man an seinem Blick,
diesem unauffällig beobachtenden Blick des erfahrenen Diagnostikers. »Ich habe noch
heute eine Art von Heimatgefühl für die Medizin«, sagt er, »und darum gehe ich auch
gerne durch die Höfe des
Allgemeinen
Krankenhauses. Der Geruch der Kliniken und Seziersäle ist für mich ein Jugendgeruch wie für andere der
Duft von Veilchen und Flieder. . . Ich bin ja bis zu meinem vierzigsten Jahre, also auch
noch als bekannter Schriftsteller, praktischer Arzt geblieben, und erst als ich das
volle Verfügungsrecht über meine Zeit brauchte, um Reisen unternehmen und ungestört
arbeiten zu können, verabschiedete ich mich in einem Rundschreiben von meinen Patienten.«
Nun, daß der Dichter
Artur Schnitzler den Arzt niemals verleugnet hat, beweisen
seine Werke, die, stattlich gebunden, im Bücherkasten stehen. Aber die
Theaterdirektoren, die mit ihm Verträge abschließen, rühmen ihm – manchmal seufzend
–
auch hervorragende
juristische Fähigkeiten nach. Ueber die
Frage, ob er nicht für einen Dichter fast zuviel Verstand, eine allzu analytische
Veranlagung habe –, darüber macht er sich keine Sorgen: »Man kann nie genug Verstand
haben. . . «
Er liebt es nicht, sich über Tagesereignisse zu »äußern«, wie man so schön zu sagen
pflegt. Er hat es ja auch gar nicht notwendig, da ihm seine Kunst schon oft zur
Tribüne geworden ist und er in seinen Dramen und Romanen aus seinen Ueberzeugungen
kein Hehl macht. Im Kriege hat er nur
einmal öffentlich das Wort ergriffen, um gegen eine Verleumdung schärfsten Einspruch zu erheben. Das war damals,
als irgendein Schwindler eine Unterredung mit ihm erfand und ihm Worte des Hasses
gegen große russische und englische Dichter zuschrieb, die ihm lieb und teuer sind.
Romain Rolland hat
Schnitzlers Protest, der dann die
Runde durch die neutrale Presse machte und auch in der Wiener »
Arbeiter-Zeitung« veröffentlicht wurde, ins
Französische übersetzt.
Wir sprechen über meinen verehrten Freund
Pierre Ramus und über die immer heller strahlende Idee der Gewaltlosigkeit. Ich sage
Schnitzler, daß ihn die anarchistischen Anhänger
Tolstois für sich reklamieren, weil er sich
anläßlich des Prozesses gegen den Kommunisten
Ernst
Toller gegen
jeden Gewaltakt, gegen
jede terroristische Diktatur –
einerlei, ob von oben
oder unten – aussprach.
Schnitzler, der die anarchistische Lehre der Gewaltlosigkeit
genau kennt, gesteht seine Sympathie für diese Idee zu, betont aber seinen Standpunkt
des Individualismus. »Ich bin vielleicht viel zu anarchistisch veranlagt, um
überhaupt ›Anhänger‹ sein zu können. Auch glaube ich, daß die Entwicklungsmöglichkeit
des Menschen von euch Weltverbesserern allzu optimistisch beurteilt wird. . . « Auf meinen Einwand, daß ich ja trotzdem ein überzeugter
Bekenner Schopenhauers geblieben sei und daß die Anhänger der Gewaltlosigkeit die
Menschen keineswegs von den naturnotwendigen, sondern nur von den naturwidrigen und
überflüssigen Uebeln befreien wollen, antwortet er: »Da ist freilich etwas Wahres
daran. . . «
Daß sein Herz feurig für die Unterdrückten schlägt, braucht er nicht erst jetzt zu
betonen, denn er hat es schon zu einer Zeit bewiesen, als noch mehr Mut dazu gehörte
als heute. . . Oder hat er, der verwöhnte Liebling von
Bürgertum und Adel, sich in seinen Werken hohen und höchsten Herrschaften gegenüber
vielleicht jemals ein Blatt vor den Mund genommen? Für die reaktionären
Hetzblättchen, die ihn deswegen beschimpften und verdächtigten, hat er nur Verachtung
übrig.
»Ich habe schon als achtjähriger Bub ein höchst ›revolutionäres‹ Drama
geschrieben«, gesteht er lachend, »und die erste Arbeit,
die ich veröffentlichte, war ein
Aufsatz gegen den Patriotismus.«
Er legt aber keinen Wert darauf, der Masse zu schmeicheln und sich mit radikalen
Schlagworten zu drapieren.
Gerne hätte ich noch das Fräulein
Lili, des
Dichters zehnjähriges Töchterlein, begrüßt, aber die junge Dame schläft schon. Sie
ist ein lieber, lustiger kleiner Kerl. Uebrigens spielt sie nicht mit Puppen, sondern
schreibt zu den Dramen ihres Vaters Fortsetzungen. Der pausbäckige kleine Apfel fiel
eben nicht weit vom Stamme.
Ich schaue mich im Arbeitszimmer um. Diesem bürgerlich behaglichen Zimmer sieht man
an, daß hier intensivste geistige Arbeit geleistet wird. Man muß nur die Entwürfe
sehen, an denen immer wieder geändert wird, und man wird den weiten Weg ermessen,
der
von der ersten Inspiration bis nach
Berlin, ins
Bureau des Verlages
S. Fischer führt. . .
Es ist überaus reizvoll, den Dichter die Entstehungsgeschichte eines Werkes in
flüchtigen Andeutungen erzählen zu hören. Mit schnellen Schritten geht er im Zimmer
auf und ab, sein geistvoll schönes Gesicht, das manchmal an
Heine, dann wieder an
Dickens, sehr häufig aber an
Schönherr erinnert und eine durch starken Willen mühsam gebändigte
Nervosität verrät, ist vom Nachglanze des schöpferischen Glücks belebt und man
bedauert nur, die unwiderstehliche Anmut seiner Rede nicht mitstenographieren zu
können. . . Freilich müßte man dazu – wie einmal ein
Kritiker über den »
Anatol«
gesagt hat – eine goldene Feder in Champagner tauchen. . .
An der Zimmerwand fällt mir ein Bild
von
Josef Kainz
mit einer herzlichen Widmung auf. Am schönsten ist dieses Zimmer im Frühling. Dann
steht die Terrassentür offen, der Wienerwald schaut grüßend zu dem Dichter herein,
der Garten duftet und blüht,
Artur Schnitzler
umfängt mit zärtlichem Blick seine schöne Heimat und ab und zu weht ihm der
Frühlingswind ein paar Takte von
Brahms oder
Hugo Wolf zu, gesungen von der süßen Stimme
seiner
Frau.
Auf der Straße, in dem
wienerischen Brei von Kot
und Schnee, kommt es mir zum Bewußtsein, daß der Frühling noch fern ist. Trotz Kälte
und Dunkelheit ist es verlockend, noch auf die nahe Türkenschanze zu gehen. Hier gibt
es keinen Schmutzbrei, nur köstlich schimmernden Schnee.
Leopoldsberg,
Kahlenberg,
Hermannskogel,
Dreimarkstein werden von einem winterlich flimmernden Sternenhimmel
überwölbt, der sich in der dunklen
Donau
spiegelt. Leise zittern die Lichter von
Wien. Ich
denke an
Artur Schnitzler, aus dessen
Jugendwerken die Schwermut dieser wienerischen Landschaft mit unverminderter
Schönheit schimmert. Einen Augenblick lang ärgere ich mich darüber, daß ich vergessen
habe, den Dichter nach seinem jüngsten
Casanova-Lustspiel »
Die Schwestern« zu
fragen, über das ich gerne Genaueres erfahren hätte. Aber dann fällt mir ein:
vielleicht ist es gut, daß ich nicht danach gefragt habe. Denn sonst hätte mein
Besuch wie ein Interview ausgesehen und sollte doch durchaus kein Interview sein,
sondern nur der Ausdruck herzlichster Verehrung für den Dichter und Menschen.