Kurt Sonnenfeld: Ein Abend bei Artur Schnitzler, 11. 1. 1920

Ein Abend bei Artur Schnitzler.
Von
Dr. Kurt Sonnenfeld.
Wie freute ich mich darauf, Artur Schnitzler wiederzusehen! Aber heutzutage ist es nicht ganz einfach, ins Währinger Cottage zu gelangen. Die Elektrische blieb in dem wienerischen Brei von Schnee und Kot stecken, und da der Motor weder auf die Liebkosungen noch auf die Flüche des Wagenführers mit einem Lebenszeichen antwortete, kam ich mit beträchtlicher Verspätung in der Sternwartestraße an. Zum Glück verbreitete der Schnee einen ungewissen Schein, denn sonst hätte ich in der Finsternis kaum die liebe, altvertraute Villa gefunden, in der Frau Hedwig Bleibtreu bis zum Tode ihres Gatten Römpler gewohnt hat und die jetzt Artur Schnitzler gehört.
Bei der Gartentür treffe ich Heini, den Sohn des Dichters, einen bildhübschen, sympathischen jungen Menschen, dessen offenes frisches Wesen auf manche sanfte Christine und manche kecke Schlagermizzi seine Wirkung nicht verfehlen wird. . . 
Artur Schnitzler empfängt mich mit seiner bezaubernden Herzlichkeit, die den Besucher völlig vergessen läßt, daß er mit einem berühmten Dichter spricht. Er ist völlig frei von jener gewissen Pose der Selbstbespiegelung, die den Verkehr mit berühmten Menschen manchmal so unerquicklich macht. Er spricht schnell und lebhaft, blendend geistreich, aber niemals nur geistreich. . .  Müßige Brillantfeuerwerke des Geistes liebt er nicht. Starken Worten und kräftigen Urteilen geht er keineswegs vorsichtig aus dem Wege, und wer ihn um der gedämpften Lichter seiner Jugendwerke willen für einen zimperlichen Aestheten halten wollte, würde sich sehr irren. Denn wenn auch die Tür seines Arbeitszimmers mit Lederkissen gepolstert ist, so lauscht Schnitzler dennoch mit scharfem Ohr auf die Stimmen der Wirklichkeit. . . 
Daß der Dichter niemals aufgehört hat, Arzt zu sein, erkennt man an seinem Blick, diesem unauffällig beobachtenden Blick des erfahrenen Diagnostikers. »Ich habe noch heute eine Art von Heimatgefühl für die Medizin«, sagt er, »und darum gehe ich auch gerne durch die Höfe des Allgemeinen Krankenhauses. Der Geruch der Kliniken und Seziersäle ist für mich ein Jugendgeruch wie für andere der Duft von Veilchen und Flieder. . .  Ich bin ja bis zu meinem vierzigsten Jahre, also auch noch als bekannter Schriftsteller, praktischer Arzt geblieben, und erst als ich das volle Verfügungsrecht über meine Zeit brauchte, um Reisen unternehmen und ungestört arbeiten zu können, verabschiedete ich mich in einem Rundschreiben von meinen Patienten.«
Nun, daß der Dichter Artur Schnitzler den Arzt niemals verleugnet hat, beweisen seine Werke, die, stattlich gebunden, im Bücherkasten stehen. Aber die Theaterdirektoren, die mit ihm Verträge abschließen, rühmen ihm – manchmal seufzend – auch hervorragende juristische Fähigkeiten nach. Ueber die Frage, ob er nicht für einen Dichter fast zuviel Verstand, eine allzu analytische Veranlagung habe –, darüber macht er sich keine Sorgen: »Man kann nie genug Verstand haben. . . «
Er liebt es nicht, sich über Tagesereignisse zu »äußern«, wie man so schön zu sagen pflegt. Er hat es ja auch gar nicht notwendig, da ihm seine Kunst schon oft zur Tribüne geworden ist und er in seinen Dramen und Romanen aus seinen Ueberzeugungen kein Hehl macht. Im Kriege hat er nur einmal öffentlich das Wort ergriffen, um gegen eine Verleumdung schärfsten Einspruch zu erheben. Das war damals, als irgendein Schwindler eine Unterredung mit ihm erfand und ihm Worte des Hasses gegen große russische und englische Dichter zuschrieb, die ihm lieb und teuer sind. Romain Rolland hat Schnitzlers Protest, der dann die Runde durch die neutrale Presse machte und auch in der Wiener »Arbeiter-Zeitung« veröffentlicht wurde, ins Französische übersetzt.
Wir sprechen über meinen verehrten Freund Pierre Ramus und über die immer heller strahlende Idee der Gewaltlosigkeit. Ich sage Schnitzler, daß ihn die anarchistischen Anhänger Tolstois für sich reklamieren, weil er sich anläßlich des Prozesses gegen den Kommunisten Ernst Toller gegen jeden Gewaltakt, gegen jede terroristische Diktatur – einerlei, ob von oben oder unten – aussprach. Schnitzler, der die anarchistische Lehre der Gewaltlosigkeit genau kennt, gesteht seine Sympathie für diese Idee zu, betont aber seinen Standpunkt des Individualismus. »Ich bin vielleicht viel zu anarchistisch veranlagt, um überhaupt ›Anhänger‹ sein zu können. Auch glaube ich, daß die Entwicklungsmöglichkeit des Menschen von euch Weltverbesserern allzu optimistisch beurteilt wird. . . « Auf meinen Einwand, daß ich ja trotzdem ein überzeugter Bekenner Schopenhauers geblieben sei und daß die Anhänger der Gewaltlosigkeit die Menschen keineswegs von den naturnotwendigen, sondern nur von den naturwidrigen und überflüssigen Uebeln befreien wollen, antwortet er: »Da ist freilich etwas Wahres daran. . . «
Daß sein Herz feurig für die Unterdrückten schlägt, braucht er nicht erst jetzt zu betonen, denn er hat es schon zu einer Zeit bewiesen, als noch mehr Mut dazu gehörte als heute. . .  Oder hat er, der verwöhnte Liebling von Bürgertum und Adel, sich in seinen Werken hohen und höchsten Herrschaften gegenüber vielleicht jemals ein Blatt vor den Mund genommen? Für die reaktionären Hetzblättchen, die ihn deswegen beschimpften und verdächtigten, hat er nur Verachtung übrig.
»Ich habe schon als achtjähriger Bub ein höchst ›revolutionäres‹ Drama geschrieben«, gesteht er lachend, »und die erste Arbeit, die ich veröffentlichte, war ein Aufsatz gegen den Patriotismus
Er legt aber keinen Wert darauf, der Masse zu schmeicheln und sich mit radikalen Schlagworten zu drapieren.
Gerne hätte ich noch das Fräulein Lili, des Dichters zehnjähriges Töchterlein, begrüßt, aber die junge Dame schläft schon. Sie ist ein lieber, lustiger kleiner Kerl. Uebrigens spielt sie nicht mit Puppen, sondern schreibt zu den Dramen ihres Vaters Fortsetzungen. Der pausbäckige kleine Apfel fiel eben nicht weit vom Stamme.
Ich schaue mich im Arbeitszimmer um. Diesem bürgerlich behaglichen Zimmer sieht man an, daß hier intensivste geistige Arbeit geleistet wird. Man muß nur die Entwürfe sehen, an denen immer wieder geändert wird, und man wird den weiten Weg ermessen, der von der ersten Inspiration bis nach Berlin, ins Bureau des Verlages S. Fischer führt. . . 
Es ist überaus reizvoll, den Dichter die Entstehungsgeschichte eines Werkes in flüchtigen Andeutungen erzählen zu hören. Mit schnellen Schritten geht er im Zimmer auf und ab, sein geistvoll schönes Gesicht, das manchmal an Heine, dann wieder an Dickens, sehr häufig aber an Schönherr erinnert und eine durch starken Willen mühsam gebändigte Nervosität verrät, ist vom Nachglanze des schöpferischen Glücks belebt und man bedauert nur, die unwiderstehliche Anmut seiner Rede nicht mitstenographieren zu können. . .  Freilich müßte man dazu – wie einmal ein Kritiker über den »Anatol« gesagt hat – eine goldene Feder in Champagner tauchen. . . 
An der Zimmerwand fällt mir ein Bild von Josef Kainz mit einer herzlichen Widmung auf. Am schönsten ist dieses Zimmer im Frühling. Dann steht die Terrassentür offen, der Wienerwald schaut grüßend zu dem Dichter herein, der Garten duftet und blüht, Artur Schnitzler umfängt mit zärtlichem Blick seine schöne Heimat und ab und zu weht ihm der Frühlingswind ein paar Takte von Brahms oder Hugo Wolf zu, gesungen von der süßen Stimme seiner Frau.
Auf der Straße, in dem wienerischen Brei von Kot und Schnee, kommt es mir zum Bewußtsein, daß der Frühling noch fern ist. Trotz Kälte und Dunkelheit ist es verlockend, noch auf die nahe Türkenschanze zu gehen. Hier gibt es keinen Schmutzbrei, nur köstlich schimmernden Schnee. Leopoldsberg, Kahlenberg, Hermannskogel, Dreimarkstein werden von einem winterlich flimmernden Sternenhimmel überwölbt, der sich in der dunklen Donau spiegelt. Leise zittern die Lichter von Wien. Ich denke an Artur Schnitzler, aus dessen Jugendwerken die Schwermut dieser wienerischen Landschaft mit unverminderter Schönheit schimmert. Einen Augenblick lang ärgere ich mich darüber, daß ich vergessen habe, den Dichter nach seinem jüngsten Casanova-Lustspiel »Die Schwestern« zu fragen, über das ich gerne Genaueres erfahren hätte. Aber dann fällt mir ein: vielleicht ist es gut, daß ich nicht danach gefragt habe. Denn sonst hätte mein Besuch wie ein Interview ausgesehen und sollte doch durchaus kein Interview sein, sondern nur der Ausdruck herzlichster Verehrung für den Dichter und Menschen.