Der neueste »
Reigen«-Skandal.
Der gestrige Sturm auf die
Kammerspiele. – Wo war die Polizei? – Dr. Schnitzler bei der Vorstellung. –
Ein endgültiges polizeiliches Verbot?
Die gestrigen Szenen vor den
Kammerspielen werden
vermutlich nicht ohne Folgen bleiben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß das
Polizeipräsidium heute vormittag im eigenen Wirkungskreis, unbekümmert um die
zwischen Wien-Land und Regierung schwebenden Differenzen, aus
sicherheitspolizeilichen Gründen die Fortsetzung der Aufführungen des »
Reigen« in den
Kammerspielen verbieten und der nun seit einer Woche dauernden Diskussion in
der Oeffentlichkeit ein Ende zu machen versuchen wird. Es ist ebenso fraglos, daß,
wenn eine solche Verfügung der Polizei erfließen sollte, diese von jenen Stellen, die für die Freiheit
des Wortes und gegen den Muckerterror der Straße kämpfen, nicht widerspruchslos hingenommen werden
wird. Der Gründe, die die Sozialdemokraten veranlassen könnten, die gestrigen
Demonstrationen als eine
vis major für die Polizei gelten zu lassen, gibt es genug: es ist schon heute ziemlich
einwandfrei festgestellt, daß diese Skandale von langer Hand vorbereitet wurden, ohne
daß sich die Polizei veranlaßt gesehen hätte, die nötigen Gegenmaßnahmen zu
treffen.
In gestrigen Versammlungen, die mit den Skandalmachern nichts gemein hatten, konnte
man schon in den ersten Nachmittagstunden hören,
daß heute beim »Reigen« etwas
los sein werde.
Es ist
unwahr, wenn ein offiziöser Bericht versichert, daß
sich unmittelbar vor der Vorstellung vor dem Theater keinerlei Ansammlungen gebildet
hatten und daß der Einbruch von etwa 150 Menschen in den Theatersaal
ganz plötzlich und unvermittelt kam. Es ist weiter wahr,
daß in einer nachmittags im alten Rathaus abgehaltenen Versammlung des
Antisemitenbundes und der
Frontkämpfervereinigung, zu der die Polizei selbstverständlich Zutritt
hatte,
ganz offen von einem festgelegten Plan, von seinen
einzelnen Details gesprochen wurde, die Abendvorstellung des »
Reigen« zu stören,
ohne Schonung gegen das Gebäude und das
Theaterpublikum vorzugehen und auf
diese Weise gewaltsam den Schluß der »
Reigen«-Aufführungen zu erzwingen. Dr. Artur Schnitzler, der gestern Abend zum
Beginn der Vorstellung ins Theater kam, wurde, als er das Haus betrat, von einer
Schauspielerin mit der Bemerkung apostrophiert: »
Gerade heute kommen
Sie ins Theater?« Dies in einem Augenblick, in dem von einem Skandal im
Theater noch keine Spur war.
Und all das soll die Polizei nicht
gewußt haben, und all dies soll sie nicht veranlaßt haben,
mehr als die obligaten fünf Mann vor und im Theater postiert zu
haben, um Eindringlingen von der
Brutalität, wie
sie gestern bewiesen wurde,
entgegenzutreten? Wenn schon,
wie in gewissen Kreisen behauptet wird, die glatte Abwicklung dieses Skandals von
der
Polizei
geduldet wurde, um eben hinterher den Vorwand für
das Verbot zu haben,
ist da von keiner Seite daran gedacht
worden, daß Leben und Sicherheit der im Theater anwesenden Besucher durch Exzesse
von derartiger Brutalität, auf das Ernsteste gefährdet waren. Und glaubt die
Polizei nicht, daß sie unbekümmert um ihre Auffassung über
Moral und Unmoral des »Reigen« verpflichtet ist, alles zu
unternehmen, um in
solchen Fällen Leben und Gesundheit
von Wiener Staatsbürgern zu schützen?
Es wird also mit dem glatten Verbot der Polizei keineswegs sein Bewenden haben. Wir
können es also erleben, daß der
öffentliche Krawall, der
nun laut und lang genug angedauert hat, nun abgeflaut war,
ausgerechnet wegen des »Reigen« neuerlich angeht. Daß übrigens aller Anlaß besteht,
diesen Terror der Straße in diesem Fall nicht ohne weiters gelten zu lassen, kann
man
all denen nachfühlen, die sich dagegen zu Wehre
setzen. Man braucht lediglich das
Nationale jener
anzusehen, die, natürlich »
moralisch entrüstet«, in den
Theatersaal eindrangen und dann von der Polizei verhaftet wurden: Ein
Schuhmachergehilfe, ein
Tapezierergehilfe, ein
Kommis, ein
Handelsakademiker und ein
Zahntechnikerlehrling. Diese also schöpften aus ihrer literarischen Bildung, aus ihrer moralischen
Weltanschauung Mut und Kraft, sich an die Spitze einer Demonstration zu stellen,
die nicht mehr und nicht weniger zum Ziel hat, als ein Theater
klein und krumm zu hauen, unbekümmert um das, was dabei mit den Leuten drin
geschieht. Die Demonstranten, die plötzlich da waren und durch die offenen
Türen ins Theater stürmten, entblödeten sich nicht,
die
schweren Sessel aus den Logen und von den Galerien auf das in wilder Panik
flüchtende Publikum zu werfen und dadurch selbstverständlich eine
Anzahl von Leuten zu verletzen. Sie unterließen es nicht,
sich vor die Eingangs- und Ausgangstür zu stellen, um zu verhindern, daß die
davonlaufenden Leute das Freie erreichen. Sie leisteten sich den Spaß,
den Besuchern, die in wilder Flucht davonliefen, »das Bein« zu
stellen und gröhlend und lachend sich an dem Bilde zu erfreuen, das die auf dem
Boden liegenden über- und aufeinanderpurzelnden Menschen ihnen boten.
Diese Kultur, diese Moral ist wenig geeignet, als Sittenrichter oder als
literarischer Richter genommen zu werden und zu erreichen, daß man sich ihrem Diktat
fügt. Man wird ja hören, zu welchen Mitteln sich die Polizei, die heute vormittag
besondere Beratungen pflegt, entschließen wird. Ob sie es vorziehen wird, mit
geringen Mitteln – sie brauchte bloß ihren Wachekordon um zehn Mann zu stärken, also
ungefähr den fünften Teil der Mannschaft bei irgendeiner überflüssigen Razzia
aufzubieten – um derartige Skandale unmöglich zu machen oder aber, ob sie das billigere und sicherlich gewissen Kreisen erwünschtere Mittel
wählen wird, die Vorstellungen zu verbieten.
Artur Schnitzler über die
Demonstrationen.
Dr.
Schnitzler, der gestern im Theater anwesend war,
äußerte sich
zu einem Journalisten über den
Skandal folgendermaßen:
»Ich kam während des fünften Bildes zufällig in das Theater, um mit Direktor
Bernau einige Einzelheiten zu besprechen. Schon beim Betreten der Bühne rief mir eine
Schauspielerin zu:
»Gerade heute kommen Sie?« Ich fragte erstaunt, ob heute ein so besonderer Tag sei,
und in diesem Augenblicke hörte ich schon von der Bühne her und auch von der Straße
ein wüstes Getöse. Die Zuschauer flüchteten auf die
Bühne und suchten von dort schreckensbleich einen Ausgang zu erreichen. Inzwischen
waren von den Bühnenarbeitern schon die Hydranten in Tätigkeit gesetzt worden, um
die
eindringenden Demonstranten von der Bühne zu verdrängen. Die Garderoben der
Schauspielerinnen waren völlig unter Wasser, ebenso wie die Bühne. Das Publikum und
die Demonstranten
hämmerten gegen den eisernen Vorhang, um
auf die Bühne zu gelangen, dieser hielt aber stand.
Weder den Schauspielern noch mir ist irgend etwas geschehen, aber ich kann kaum
genügend scharfe Worte finden, um das Vorgehen der Eindringlinge zu geißeln. Meine
Empörung ist wohl um so berechtigter, als die Demonstranten ohne Rücksicht auf die
unten weilenden Personen die schweren Logenbänke von der
Galerie in das Parterre stürzten: jede einzelne dieser Bänke hätte genügt,
einen Menschen zu erschlagen.«
Die gefährdete Garderobe.
Worauf es die Moralhelden abgesehen hatten.
Von einem Augenzeugen der Skandale in den
Kammerspielen wird uns noch folgendes mitgeteilt:
Es besteht kein Zweifel, daß der Großteil der Demonstranten bei den gestrigen »
Reigen-«Aufführungen weniger von der Absicht
geleitet war, ihrer Erbitterung über die »Unmoral« Ausdruck zu geben,
als von dem Verlangen, diese willkommene Gelegenheit zu
benutzen, um die Garderoben im Rummel zu plündern. Nur der Geistesgegenwart eines
im
Theater anwesenden
Oberleutnants der Wehrmacht, der die
Situation sofort erkannt und mit Hilfe von Billeteuren und Garderobehelfern
diese dem Zugriff der Demonstranten sperrte, ist es zu
danken, daß den Besuchern der Vorstellung nicht auch die Ueberkleider abgenommen
wurden.
Verstreute Schmuckstücke, die nach der Räumung des
Theatersaales, vor allem im Parkett, gefunden wurden, sprechen dafür, daß sich viele
der Eindringlinge an die verstörten Zuschauer im Gewühl herangemacht hatten, um ihnen
den Schmuck vom Leibe zu reißen.