Der neueste »Reigen«-Skandal, 17. 2. 1921

Der neueste »Reigen«-Skandal.
Der gestrige Sturm auf die Kammerspiele. – Wo war die Polizei? – Dr. Schnitzler bei der Vorstellung. – Ein endgültiges polizeiliches Verbot?
Die gestrigen Szenen vor den Kammerspielen werden vermutlich nicht ohne Folgen bleiben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Polizeipräsidium heute vormittag im eigenen Wirkungskreis, unbekümmert um die zwischen Wien-Land und Regierung schwebenden Differenzen, aus sicherheitspolizeilichen Gründen die Fortsetzung der Aufführungen des »Reigen« in den Kammerspielen verbieten und der nun seit einer Woche dauernden Diskussion in der Oeffentlichkeit ein Ende zu machen versuchen wird. Es ist ebenso fraglos, daß, wenn eine solche Verfügung der Polizei erfließen sollte, diese von jenen Stellen, die für die Freiheit des Wortes und gegen den Muckerterror der Straße kämpfen, nicht widerspruchslos hingenommen werden wird. Der Gründe, die die Sozialdemokraten veranlassen könnten, die gestrigen Demonstrationen als eine vis major für die Polizei gelten zu lassen, gibt es genug: es ist schon heute ziemlich einwandfrei festgestellt, daß diese Skandale von langer Hand vorbereitet wurden, ohne daß sich die Polizei veranlaßt gesehen hätte, die nötigen Gegenmaßnahmen zu treffen.
In gestrigen Versammlungen, die mit den Skandalmachern nichts gemein hatten, konnte man schon in den ersten Nachmittagstunden hören,
daß heute beim »Reigen« etwas los sein werde.
Es ist unwahr, wenn ein offiziöser Bericht versichert, daß sich unmittelbar vor der Vorstellung vor dem Theater keinerlei Ansammlungen gebildet hatten und daß der Einbruch von etwa 150 Menschen in den Theatersaal ganz plötzlich und unvermittelt kam. Es ist weiter wahr, daß in einer nachmittags im alten Rathaus abgehaltenen Versammlung des Antisemitenbundes und der Frontkämpfervereinigung, zu der die Polizei selbstverständlich Zutritt hatte, ganz offen von einem festgelegten Plan, von seinen einzelnen Details gesprochen wurde, die Abendvorstellung des »Reigen« zu stören, ohne Schonung gegen das Gebäude und das Theaterpublikum vorzugehen und auf diese Weise gewaltsam den Schluß der »Reigen«-Aufführungen zu erzwingen. Dr. Artur Schnitzler, der gestern Abend zum Beginn der Vorstellung ins Theater kam, wurde, als er das Haus betrat, von einer Schauspielerin mit der Bemerkung apostrophiert: »Gerade heute kommen Sie ins Theater?« Dies in einem Augenblick, in dem von einem Skandal im Theater noch keine Spur war. Und all das soll die Polizei nicht gewußt haben, und all dies soll sie nicht veranlaßt haben, mehr als die obligaten fünf Mann vor und im Theater postiert zu haben, um Eindringlingen von der Brutalität, wie sie gestern bewiesen wurde, entgegenzutreten? Wenn schon, wie in gewissen Kreisen behauptet wird, die glatte Abwicklung dieses Skandals von der Polizei geduldet wurde, um eben hinterher den Vorwand für das Verbot zu haben, ist da von keiner Seite daran gedacht worden, daß Leben und Sicherheit der im Theater anwesenden Besucher durch Exzesse von derartiger Brutalität, auf das Ernsteste gefährdet waren. Und glaubt die Polizei nicht, daß sie unbekümmert um ihre Auffassung über Moral und Unmoral des »Reigen« verpflichtet ist, alles zu unternehmen, um in solchen Fällen Leben und Gesundheit von Wiener Staatsbürgern zu schützen?
Es wird also mit dem glatten Verbot der Polizei keineswegs sein Bewenden haben. Wir können es also erleben, daß der öffentliche Krawall, der nun laut und lang genug angedauert hat, nun abgeflaut war, ausgerechnet wegen des »Reigen« neuerlich angeht. Daß übrigens aller Anlaß besteht, diesen Terror der Straße in diesem Fall nicht ohne weiters gelten zu lassen, kann man all denen nachfühlen, die sich dagegen zu Wehre setzen. Man braucht lediglich das Nationale jener anzusehen, die, natürlich »moralisch entrüstet«, in den Theatersaal eindrangen und dann von der Polizei verhaftet wurden: Ein Schuhmachergehilfe, ein Tapezierergehilfe, ein Kommis, ein Handelsakademiker und ein Zahntechnikerlehrling. Diese also schöpften aus ihrer literarischen Bildung, aus ihrer moralischen Weltanschauung Mut und Kraft, sich an die Spitze einer Demonstration zu stellen, die nicht mehr und nicht weniger zum Ziel hat, als ein Theater klein und krumm zu hauen, unbekümmert um das, was dabei mit den Leuten drin geschieht. Die Demonstranten, die plötzlich da waren und durch die offenen Türen ins Theater stürmten, entblödeten sich nicht, die schweren Sessel aus den Logen und von den Galerien auf das in wilder Panik flüchtende Publikum zu werfen und dadurch selbstverständlich eine Anzahl von Leuten zu verletzen. Sie unterließen es nicht, sich vor die Eingangs- und Ausgangstür zu stellen, um zu verhindern, daß die davonlaufenden Leute das Freie erreichen. Sie leisteten sich den Spaß, den Besuchern, die in wilder Flucht davonliefen, »das Bein« zu stellen und gröhlend und lachend sich an dem Bilde zu erfreuen, das die auf dem Boden liegenden über- und aufeinanderpurzelnden Menschen ihnen boten.
Diese Kultur, diese Moral ist wenig geeignet, als Sittenrichter oder als literarischer Richter genommen zu werden und zu erreichen, daß man sich ihrem Diktat fügt. Man wird ja hören, zu welchen Mitteln sich die Polizei, die heute vormittag besondere Beratungen pflegt, entschließen wird. Ob sie es vorziehen wird, mit geringen Mitteln – sie brauchte bloß ihren Wachekordon um zehn Mann zu stärken, also ungefähr den fünften Teil der Mannschaft bei irgendeiner überflüssigen Razzia aufzubieten – um derartige Skandale unmöglich zu machen oder aber, ob sie das billigere und sicherlich gewissen Kreisen erwünschtere Mittel wählen wird, die Vorstellungen zu verbieten.
Artur Schnitzler über die Demonstrationen.
Dr. Schnitzler, der gestern im Theater anwesend war, äußerte sich zu einem Journalisten über den Skandal folgendermaßen:
»Ich kam während des fünften Bildes zufällig in das Theater, um mit Direktor Bernau einige Einzelheiten zu besprechen. Schon beim Betreten der Bühne rief mir eine Schauspielerin zu: »Gerade heute kommen Sie?« Ich fragte erstaunt, ob heute ein so besonderer Tag sei, und in diesem Augenblicke hörte ich schon von der Bühne her und auch von der Straße ein wüstes Getöse. Die Zuschauer flüchteten auf die Bühne und suchten von dort schreckensbleich einen Ausgang zu erreichen. Inzwischen waren von den Bühnenarbeitern schon die Hydranten in Tätigkeit gesetzt worden, um die eindringenden Demonstranten von der Bühne zu verdrängen. Die Garderoben der Schauspielerinnen waren völlig unter Wasser, ebenso wie die Bühne. Das Publikum und die Demonstranten hämmerten gegen den eisernen Vorhang, um auf die Bühne zu gelangen, dieser hielt aber stand.
Weder den Schauspielern noch mir ist irgend etwas geschehen, aber ich kann kaum genügend scharfe Worte finden, um das Vorgehen der Eindringlinge zu geißeln. Meine Empörung ist wohl um so berechtigter, als die Demonstranten ohne Rücksicht auf die unten weilenden Personen die schweren Logenbänke von der Galerie in das Parterre stürzten: jede einzelne dieser Bänke hätte genügt, einen Menschen zu erschlagen.«
Die gefährdete Garderobe.
Worauf es die Moralhelden abgesehen hatten.
Von einem Augenzeugen der Skandale in den Kammerspielen wird uns noch folgendes mitgeteilt:
Es besteht kein Zweifel, daß der Großteil der Demonstranten bei den gestrigen »Reigen-«Aufführungen weniger von der Absicht geleitet war, ihrer Erbitterung über die »Unmoral« Ausdruck zu geben, als von dem Verlangen, diese willkommene Gelegenheit zu benutzen, um die Garderoben im Rummel zu plündern. Nur der Geistesgegenwart eines im Theater anwesenden Oberleutnants der Wehrmacht, der die Situation sofort erkannt und mit Hilfe von Billeteuren und Garderobehelfern diese dem Zugriff der Demonstranten sperrte, ist es zu danken, daß den Besuchern der Vorstellung nicht auch die Ueberkleider abgenommen wurden. Verstreute Schmuckstücke, die nach der Räumung des Theatersaales, vor allem im Parkett, gefunden wurden, sprechen dafür, daß sich viele der Eindringlinge an die verstörten Zuschauer im Gewühl herangemacht hatten, um ihnen den Schmuck vom Leibe zu reißen.