[Ernst Molden]: Die Enquete über »Schund und Schmutz«, 9. 6. 1928

Die Enquete über »Schund und Schmutz«.
Die Vertreter der Schriftsteller und Künstler beim Bundeskanzler.
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Die Schwierigkeiten einer Definition von Schmutz und Schund
Dr. Arthur Schnitzler erinnert an seine Ausführungen, die er im Jahre 1905 bei einer von der Ethischen Gesellschaft in der Frage der Bekämpfung der Schmutzliteratur abgehaltenen Enquete gemacht hat; er habe schon damals auf die unüberwindlichen Schwierigkeiten hingewiesen, die sich einer Definition des Begriffes »Schmutz und Schund« entgegenstellen. Solange man diese nicht gefunden hat, kann man über das Gesetz nicht sprechen. Ich hätte, schließt der Redner, die größte Freude, wenn es gelänge, den wirklichen Schund und Schmutz aus der Welt zu schaffen. Aber wie soll das geschehen? Keinesfalls darf man hier nur von Büchern und Bildern sprechen, ebenso schädlich wirken auch Gerichtssaalberichte, vor denen man die Jugend schützen sollte. Die Schmutzliteratur der ganzen Welt hat nicht so viel angerichtet wie die Berichte über den Scheller-Krantz-Prozeß in Berlin.
Hofrat Dr. Ernst Lothar: Dr. Schnitzler hat unser aller Meinung ausgesprochen, wenn er sagte, er hätte die größte Freude, wenn es gelänge, den wirklichen Schmutz aus der Welt zu schaffen. Der Leidtragende, der Hauptgeschädigte ist ja, wie sich einmal Dr. Beer-Hofmann ausdrückte, der schriftstellerische Beruf, dem man dann die Verantwortung für alle Exzesse zuschiebt. Wir alle wollen Schund und Schmutz bekämpfen, die Frage ist nur: Wie kann dies praktisch geschehen? Zur Definition des Begriffes »Schund und Schmutz« ist zu sagen, daß die deutsche Oberprüfstelle in Leipzig zweimal versucht hat, diese Definition zu geben, ohne daß es ihr auch nur vage gelungen wäre. Das deutsche Gesetz besteht nun schon zwei Jahre. Und sein Erfolg? Ein ungeheurer Apparat wurde aufgeboten – es wurde ein Roman obskurer Herkunft verboten. Die deutsche Oberprüfstelle hat vier Merkmale mitgeteilt, die, um eine Druckschrift als »Schund« zu stigmatisieren, vorliegen müssen: 1. Wertlosigkeit; 2. das Werk muß schädigend wirken, wobei auch die »ahnungslose Weltfremdheit« des Betroffenen in Frage kommt; 3. die Schutzbedürftigkeit; 4. muß ein »den Wirklichkeitssinn schädigendes« Weltbild vermittelt werden. Wollten wir ein ähnliches Gesetz erlassen, dann könnte wohl mancher der hier Anwesenden in die Lage kommen, an solchen substanzlosen Entscheidungen mitzuwirken. Keiner von uns, glaube ich, wäre imstande, die von der Oberprüfstelle angeführten Tatbestandsmerkmale in einem Werk beweishaft aufzufinden. Im Kampf gegen Schund und Schmutz gilt es vor allem, jenen bildlichen Nuditätsorgien und Spekulationsprodukten, die uns täglich auf der Straße begegnen, wirksam entgegenzutreten! Hiezu reicht aber der § 516 des Strafgesetzes aus. Ein Gesetz aber, wie immer es hieße, wird den »Schund und Schmutz« nie aus der Welt schaffen.
Erwiderung Dr. Seipels.
Bundeskanzler Dr. Seipel erwiderte, die Definition von Schund und Schmutz interessiere ihn nicht sehr. Man brauche sie auch nicht. Hier handelt es sich darum, daß man im Laufe der Zeit und in jedem einzelnen Falle unvoreingenommene Menschen darüber urteilen läßt, ob das bestimmte Produkt, um das es sich handelt, das ist, was man allgemein Schund und Schmutz nennt und in dessen Abwehr wir alle, wie jetzt wieder sehr betont wurde, einig sind, oder ob es das nicht ist. Daher würde dieses Argument nicht gegen einen Versuch einer neuen gesetzgeberischen Regelung sprechen, wobei es gleichgültig ist, ob diese in ein altes Gesetz durch Novellierung hineingearbeitet wird oder die Form eines neuen Gesetzes hat. Mir sind die Menschen wichtiger als die Termini einer Definition. Die Menschen wissen schon, was als schädlich in dem Sinne, in dem wir jetzt davon reden, abzuwehren ist, und was man noch durchgehen lassen kann. Wie bei jedem Urteilsspruch, müßte es natürlich auch hier sein, daß man im Zweifel die mildere Praxis einzuhalten habe. Selbstverständlich muß ein solches Urteil auch nicht für alle Zeiten gelten. Ich finde es vollständig berechtigt, daß Werke der Kunst und Literatur der Vergangenheit, die an sich anzüglich und zweideutig sein mögen, doch anders beurteilt werden als Werke der lebenden Künstler.
Ich bin selbstverständlich ganz im Gegensatze zu Doktor Schnitzler, wenn er gesagt hat, daß die Erregung der Sinnlichkeit an sich nicht verwerflich ist; sie ist verwerflich, sobald diese Erregung denen, die sie selbst nicht wollen, gegen ihren Willen oder wenigstens gegen ihr besseres Sein aufgezwungen wurde. In diesem Punkt sind wir eben ganz anderer Anschauung, da trennen uns Welten. Für uns existiert nicht nur die physische Gesundheit, sondern auch die sittliche Gesundheit; die Sittlichkeit ist etwas Objektives, ein Gut, das verteidigt zu werden verdient, und ein Gut, in dem ein jeder geschützt werden muß. Daß wir dabei den Jugendlichen mehr schützen als den Erwachsenen, ist ganz klar, da der Erwachsene sich eben selbst besser wehren kann als der Jugendliche.
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