Der Kampf gegen »Schund und Schmutz«.
Von Arthur Schnitzler.
Arthur
Schnitzler bezog sich in der
gestrigen Enquete auf ein Gutachten, das
er bei einer früheren Gelegenheit, auf Veranlassung der
Ethischen
Gesellschaft, ausgearbeitet hat. Es wird unsere Leser gewiß im höchsten
Grade interessieren, die Auffassungen des Dichters kennen zu lernen.
Ist der Begriff der Schmutzliteratur praktisch zu umgrenzen und
wie?
Meiner Auffassung nach fiele unter die Rubrik Schmutzliteratur manches literarische Erzeugnis, das mit der Behandlung
sexueller Themen nicht das geringste zu tun hat und das man, wie man früher zu sagen
pflegte, jedem jungen Mädchen ruhig in die Hand geben durfte. Aber es ist mir wohl
bekannt, daß nach dem Sprachgebrauch unter Schmutzliteratur nur jene Produkte
verstanden werden sollen, die sich ohne künstlerische oder belehrende Absicht mit
sexuellen Themen in solcher Art befassen, daß bei dem hiezu prädestinierten Leser
eine sexuelle Erregung eintritt oder wenigstens eintreten könnte.
In diesem Sinne
läßt sich freilich der
Begriff der
Schmutzliteratur praktisch nicht umgrenzen. Je nach Bildungsgrad, Empfindlichkeit, gutem Willen des
Beurteilers wird der
Begriff weiter oder enger gefaßt werden, und ebenso wie es Leute gibt, die zwischen
den obszönen Späßen eines jämmerlichen Witzblattes und der »
Büchse der Pandora« keinen merkbaren Unterschied zu finden vermögen, gibt es wieder andere, die
um der künstlerischen Vorzüge eines Werkes willen dem Autor gewisse Frivolitäten zu
verzeihen geneigt sein werden, selbst wenn sie nicht ganz ohne Absicht eingestreut
worden sind.
Schon an dieser Verschiedenheit des Standpunktes wird jede
Möglichkeit scheitern, den Begriff der Schmutzliteratur zum Zwecke gesetzlicher
Maßnahmen mit juristischer Schärfe zu präzisieren. Die wesentlichste
Schwierigkeit liegt eben darin, daß die befürchtete Gefahr der
sexuellen Erregung ebenso von einem künstlerisch bedeutenden als von einem
wertlosen Literaturprodukt ausgehen kann. (Mit den Werken der bildenden Kunst
verhält es sich natürlich ebenso.) Und gerade den patentierten Sittlichkeitswächtern
mangelt meistens sowohl Fähigkeit als guter Wille, eine Unterscheidung zwischen einem
künstlerisch wertvollen und einem künstlerisch wertlosen Werke zu treffen.
Die seltsame Tatsache fällt immer wieder auf, daß
verstorbene
Schmutzliteraten, wie
Boccaccio,
Ovid und andere,
keineswegs mit der gleichen Intensität angegriffen werden wie lebende. Doch
erklärt sich das nicht etwa daraus, daß von diesen Verstorbenen, da doch
ihre Werke noch leben, eine Erregung der Sinnlichkeit nicht
zu befürchten oder daß diese Erregung minder bedenkliche Folgen auszulösen imstande
wäre, sondern einfach daraus, daß man den verstorbenen Verfassern der noch immer
lebendigen Werke durch Verbote und Beschimpfungen keinerlei Schaden mehr zufügen
kann. Es zeigt sich ferner, daß manchmal schon
innerhalb
weniger Jahre ein beträchtlicher
Umschwung sowohl
in der Beurteilung eines einzelnen Werkes als auch in den allgemeinen Anschauungen
über die Sittlichkeit eintreten kann.
Aber selbst angenommen, es ließe sich eine absolut und für die Dauer gültige
Unterscheidung zwischen vermeintlicher und wirklicher Schmutzliteratur treffen und
man ließe dann die literarisch wertvollen Werke trotz ihrer sexuell erregenden
Eigenschaften frei ausgehen, würde sich damit das Gesetz nicht auf den gleichen
Standpunkt stellen, wie es die Gesundheitspolizei täte, wenn sie der schönen, aber
krank befundenen Dirne die Lizenz zur weiteren Ausübung ihres Gewerbes nur darum
nicht entzöge, weil sie eben schön sei?
Welchen Schaden stiftet die Schmutzliteratur?
So eng oder so weit ich den Begriff zu umgrenzen suche, kaum einen, mit dem sich
der
Staat oder das Gesetz zu beschäftigen hätte. Daß sie gelegentlich in einem reifen
oder in einem unreifen Individuum Regungen der Sinnlichkeit auszulösen imstande ist,
darin kann ich um so weniger einen Schaden erblicken, als die Summe der Erregungen,
die der sogenannten oder wirklichen Schmutzliteratur zu verdanken sind, gewiß nicht den millionsten Teil derjenigen Erregungen
ausmachen, die auf anderem Wege ausgelöst werden und gegen die einzuschreiten völlig
undurchführbar wäre; und endlich auch darum, weil ich in der Sinnlichkeit an sich
überhaupt keinerlei Gefahr zu erblicken vermag. Die Gefahr liegt ausschließlich in
Gesundheitsschädigungen, denen die unbelehrte,
ungebändigte oder leichtfertige Sinnlichkeit ausgesetzt ist, und jedermann wird
zugeben müssen, daß der Schaden, den eine zu früh aus dem Spital entlassene Prostituierte oder ein
gewissenloser Lump niederer oder höherer Kategorie anzurichten imstande ist und
tatsächlich Tag für Tag anrichtet, unendliche Male bedeutender ist, als der Schaden,
den die Schmutzliteratur aller Zeiten zu stiften imstande gewesen ist oder wäre.
Hat die Schmutzliteratur auch einen Nutzen? Und wie verhält sich
dieser Nutzen zum Schaden?
Diejenigen Produkte, die geschlechtliche Themen mit Kühnheit und Eigenart behandeln
(die also vernünftigerweise überhaupt nicht zur Schmutzliteratur zu rechnen sind),
haben selbstverständlich den gleichen Nutzen, den literarische Produkte anderer Art
besitzen: sie gewähren dem dazu veranlagten Menschen künstlerischen Genuß. Aber für eine gewisse beträchtlich größere Gruppe von
Menschen, für die der künstlerische Genuß überhaupt nicht
in Frage kommt, kann leider sogar die wirkliche Schmutzliteratur einen gewissen
Nutzen gewähren, indem sie ihnen eben den einzigen aus literarischen Produkten zu
gewinnenden Genuß bietet, dessen solche Menschen bei ihrer geringen geistigen
Kapazität überhaupt fähig sind.
Welche Momente befördern die Schmutzliteratur insbesondere gegenüber
der besseren Lektüre?
Die Verbreitung der Schmutzliteratur wird dadurch gefördert, daß den meisten Menschen
von allen vielleicht außerordentlichen Eigenschaften eines Buches überhaupt nur die
eine Qualität ersichtlich wird, daß es sexuell erregend wirkt. Und vielleicht sind
dieser Gefahr gerade die beruflichen gewerbs- oder zwangsmäßigen Bekämpfer der
Schmutzliteratur im besonders hohen Maße ausgesetzt, da ja ihre Aufmerksamkeit
notwendig auf diese eine verpönte Qualität ununterbrochen
gerichtet ist.
Soll man die Schmutzliteratur bekämpfen?
Gewiß soll man das, aber der zuweilen zweifellos echte sittliche Ernst, mit dem man
sich gegen die Schmutzliteratur wendet, steht kaum je im richtigen Verhältnis zu dem
erzielten Resultate. Unendlich wichtiger als der Kampf gegen die Schmutzliteratur,
der, wie die Erfahrung lehrt, sich allzu häufig auch gegen eine reine, echte, wenn
auch kühnere Art von Literatur zu wenden pflegte und pflegt, und in dem so oft
Heuchelei, politische Ranküne und gutgläubige Beschränktheit das große Wort führen;
ehrlicher in ihren Absichten und bedeutungsvoller in ihren Zielen sind Aufklärung,
Hygiene, Einsicht und Gerechtigkeit. In diesen Bemühungen um diese Güter ist der
Kampf gegen die wirkliche Schmutzliteratur notwendig mit inbegriffen – soweit er
nicht in Fragen der Aesthetik und des Geschmackes übergreift; diese aber fallen nicht
in die Kompetenz der Staatsgewalt – glücklicherweise.