Alfred von Berger: Jugend von heute und ehemals, 6. 8. 1911

Jugend von heute und ehemals
Von Alfred Freiherr v. Berger
Neid ist nicht eben die Empfindung, welcher ich mich besonders zugänglich weiß, aber wenn ich einmal jemand beneiden sollte, so wäre das nicht etwa nur ein einzelner Mensch, sondern die ganze heutige Jugend. Man sollte den bekannten Goetheschen Ausspruch: »Was man in der Jugend wünscht, das hat man im Alter die Fülle« – ein Ausspruch, dessen Wahrheit wohl nur ein solcher an sich selbst erleben kann, der ungefähr so ist wie Goethe – man sollte diesen Ausspruch ein wenig umändern: »Was man in der Jugend wünscht, das hat jene Jugend in Fülle, die heranwächst, während man selbst alt wird.« Möglich, daß mancher junge Mensch von heute sich über dieses Bekenntnis wundert. Es ist auch nicht so zu verstehen, als ob ich die Jugend von heute für viel glücklicher, ja auch nur überhaupt für glücklicher hielte, als das Geschlecht, das mit mir jung war. Richtiger würde sich also der Sinn meines Neides in die Worte fassen lassen: »Wie glücklich wären wir, die wir vor vierzig und mehr Jahren jung waren, gewesen, wenn wir gehabt hätten, was die Jugend gegenwärtig hat.« Wir standen der heutigen Zeit mit unserem Gedanken- und Empfindungsleben schon so nahe, daß alle Triebe und Wünsche, deren Befriedigung sich in der heutigen Jugend längst zur Selbstverständlichkeit abgekühlt hat, sich leidenschaftlich in uns regten, aber niemand fiel es damals ein, für selbstverständlich zu halten, was das Ziel unserer meist verfehlten Sehnsucht war. Im Gegenteil! Für Torheit, für Ueberspanntheit, wo nicht für noch Aergeres würde es von unseren erfahrenen und vernünftigen Eltern gehalten worden sein, jedenfalls für etwas zu Unterdrückendes, in unserem eigenen Interesse beizeiten zu Bändigendes. Man erfaßte und behandelte eben damals die Jugend ausschließlich als die an sich selbst ziemlich bedeutungslose Vorstufe und Vorbereitungszeit der Lebensperiode der Erwachsenheit, welche als der eigentliche Inhalt und Kern des Lebens galt; niemand ahnte noch, daß Kindheit und Jugend der Mannheit und dem Greisenalter völlig ebenbürtige Lebens- und Erscheinungsformen des Menschentums sind, deren Wert in ihnen selbst ruht und nicht nur in den Beziehungen zu späteren Altersstufen, zu deren Erleben es möglicherweise überhaupt nicht kommt. Wer mit zwölf Jahren stirbt, hat ein Anrecht darauf, den wesentlichen Gehalt des Daseins schon erlebt zu haben, wenn auch nur in der thematisch einfachen Urform einer wohlgelebten Kindheit, und wer mit vierundzwanzig Jahren stirbt, hat Anspruch, das ganze Leben in der schon reicheren Variation der Jugend erschöpft zu haben. Diese Erkenntnisse und Forderungen sind heute durchgedrungen, man sieht heute in der Jugend etwas ganz anderes, als unsere Eltern in ihr sahen, man versucht wenigstens, ihr zu geben, was ihr nach ihrem innersten Wesen gebührt, und hat Vertrauen zu ihren natürlichen Instinkten der Selbsterziehung. Es gibt eben in der Entwicklungsgeschichte jedes Volkes Perioden, in welchen nur Mannheit und Greisenalter im gesamten öffentlichen und privaten Leben den Ton angeben und den Takt schlagen, und andere, in denen die Jugend mehr zur Geltung kommt. Wir leben heute in einem Zeitalter mehr und mehr emporwachsender Bedeutung der Jugend. Der junge Mensch kann heute das Leben aus tausend Quellen trinken, die uns verboten waren, kann seinen Lebensdurst löschen bis zur Stillung, und wenn er nachher ins ernste Mannesalter hinüberwächst oder wenn er die Schwelle des Greisenalters überschreitet, welches wieder groß und geläutert zur Einfachheit der thematischen Urform zurückstrebt, dann folgt ihm wenigstens die Reue in ihrer traurigsten Gestalt nicht nach, die Reue, das Schönste verpaßt, an Vielem, Allzuvielem vorbeigelebt zu haben. Denn die Verkümmerung der Jugend, sei sie auch durch allerweiseste pädagogische Zwecke verursacht, erzeugt Verkümmerung aller Erscheinungsformen des Lebens, in| welche sie sich später umwandelt. Weil der Jugend heute ihr Recht endlich zu teil geworden ist, darum beneide ich die heutige Jugend.
Die Jugend ist heute als solche geachteter, als sie es in früheren Zeiten war. Man betrachtet den jungen Menschen nicht mehr als einen, der überhaupt noch nicht das Recht hat, mitzureden, man sieht in seinen Aeußerungen, Gedanken und Empfindungen nicht mehr ausschließlich Folgeerscheinungen mangelnder Erfahrung und unzulänglichen Begreifens, sondern Kundgebungen eben des eigentümlichen Zustandes der Seele und des Körpers, den wir Jugend nennen. Früher waren »jugendlich« und »unreif« identische Begriffe. Heute glauben wir, daß jede Altersstufe ihre eigene Weisheit, ihre besondere Auffassung des Lebens hat. Keine ist ganz wahr und keine entbehrt völlig der Wahrheit. Der Greis, der das Erdengetriebe achtzig Jahre lang mitgemacht hat und aus einem Uebermaß an Erfahrung, aus einem Zuviel an Lebenskenntnis heraus redet, empfindet und handelt, hat uns gewiß vieles zu sagen, was ein junger Mensch, dem die Welt noch neu ist, zu denken und auszusprechen unfähig ist; aber der Junge, dem die Welt noch neu ist, hat dafür und eben deshalb auch manches zu sagen, was wir vom Alter nicht erfahren können. Aber nicht nur darum, weil man heute dem richtigen Verständnis der Jugend näher steht und sie höher schätzt, während vormals ein junger Mensch, auch ein begabter, ein recht untergeordnetes Wesen war, nicht nur darum beneide ich die heutige Jugend. Die gesamten, modern genannten Lebensformen haben sich überhaupt den Bedürfnissen, welche recht eigentlich die der Jugend sind, in einer Weise angepaßt, von der wir uns noch nichts träumen ließen. Vielleicht bedeutet sogar das schwer definierbare Wort »modern« so viel wie »im Geiste der Jugend«, so wie man die vielgepriesene gute alte Zeit die Epoche der Duckung der Jugend nennen könnte. Um dies anschaulich zu machen, müßte man die ganze Lebensweise schildern, wie sie in den mittleren Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts im wohlhabenden Bürgertum üblich war. Zuvörderst, um beim Aeußerlichsten zu beginnen: Wie wohnte man damals! Wenn mich der Zufall jetzt gelegentlich in eine der Wohnungen führt, die noch ungefähr so sind wie jene, in der ich meine eigene Jugend verlebt habe, so schaudere ich. Finstere Räume, in deren Dämmerung niemals ein Sonnenstrahl drang, die Aussicht in eine schmale, von allen möglichen Gerüchen erfüllte, von Wagengerassel dröhnende Gasse, zum Teil auch in schlauchartige Lichthöfe, die nur ganz oben ein kleines Quadrat Himmel sehen ließen; die Treppe sehr oft eine kümmerlich beleuchtete, enge Schneckenstiege, auf welcher das Problem einer Begegnung zwischen Auf- und Absteigenden nur mittelst akrobatischer Künste zu lösen war. Im Hofe einen Brunnen, dessen Wasser aus sanitären Gründen häufig verpönt war. Das Trink- und Kochwasser wurde von dem längst von der Erde verschwundenen Typus der »Wasserweiber« in Holzbutten aus einem öffentlichen Brunnen heraufgeschleppt. Ein Bad war ein Ereignis; es wurde bei der nachstgelegenen Badeanstalt bestellt und dann »geführt«, wie man dies nannte, das heißt, das erforderliche kalte und heiße Wasser wurde von etlichen Männern in Fässern in die Wohnung gebracht und nachher wieder abgeholt. Daß bei solcher Umständlichkeit des Verfahrens ein Bad nur im Falle unabwendbarer Notwendigkeit genommen wurde, läßt sich denken. Also ohne Luft, Licht und Wasser wuchs der junge Mensch aus guter Familie auf, in Entbehrung der ihm zu gesunder Entwicklung notwendigsten Elemente. Eingesperrt in solche Höhlenwohnungen starb ihm schon im Aufblühen das Gefühl lebendigen Zusammenhanges mit der Natur ab, von der er nur auf Spaziergängen im Prater und in den öffentlichen Gärten ein Stück zu sehen bekam. Wie viele junge Menschen des Mittelstandes wachsen heute in Wohnungen auf, zu denen ein Garten gehört, wahrscheinlich ohne eine Ahnung zu haben, welche Entbehrung es für uns war, den langen Spätherbst, Winter und Frühling zubringen zu müssen, ohne den Fuß je sonst auf grünen Rasen oder weißen Schnee setzen zu dürfen, als auf den langweiligen Spaziergängen, die mich immer an die den Gefangenen mehr befohlene als erlaubte Bewegung in frischer Luft erinnert haben. Darum war vielen von uns die herbstliche Rückkehr in den städtischen Wohnungszwinger von grenzenloser Wehmut umgeben, wie ein Abschied vom Leben selbst. Freilich war der Prater vor 1873, in welchem Jahre einige der schönsten, der Stadt am nächsten gelegenen Partien mit den Weltausstellungsanlagen und Bauwerken verbaut wurden, viel waldartiger und naturfrischer, als ihn die jüngeren Generationen kennen. Auch die Vororte, wie Döbling, Dornbach, waren damals noch viel ländlicher und dorfartiger als heute, wo die großstädtische Verkarstung längst die Felder, Wiesen und Weingärten weggezehrt hat, über welchen man damals noch die Lerche hoch im Blauen trillern hörte. Diese und andere Vororte waren damals die eigentlichen Sommerfrischen des Wiener Mittelstandes, so wie fünfzig Jahre früher noch die Wieden als Sommeraufenthalt benützt wurde. Als Nachwirkung jenes Zustandes haben sich die zahlreichen Grüfte bekannter Wiener Familien in den seither längst geschlossenen Ortsfriedhöfen jener vormaligen Sommerfrischen erhalten. Eine wahre Wohltat hätten die Buchenwälder des Kahlengebirges und anderer Teile des Wienerwaldes der Jugend sein können. Aber um sie nach Jugendart voll auszugenießen, dazu ließ man den jungen Menschen viel zu wenig Freiheit. Sie mußten die Beaufsichtigung durch Erwachsene, welcher der »junge Herr aus guter Familie« sich so gut wie niemals entziehen durfte, auch in die freie Natur mitschleppen. In Gestalt feierlicher Familienausflüge mittelst Stellwagens oder Fiakers wurden die waldversteckten Dörfer und aussichtsreichen Höhen des Wienerwaldes meistens besucht, wobei von echter, ungebundener Natur- und Bewegungsfreude nicht die Rede sein konnte. Die jungen Mädchen waren selbstverständlich noch viel übler daran. An einen freien, heiteren Verkehr beider Geschlechter untereinander war unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Wie viel unschuldige Poesie, wie viel Gelegenheit, zähmende und bildende Einflüsse unvermerkt| zu erfahren, dadurch verloren ging, läßt sich gar nicht ermessen. Der gesellige Verkehr der Knaben unter sich beschränkte sich gewöhnlich auf die Söhne einiger Familien, mit denen die Eltern befreundet waren. Tennis, Fahrrad und Eissport, welche das gesellschaftliche Leben der Jugend überhaupt erst geschaffen haben, waren noch nicht erfunden oder nicht eingeführt. Auch Jugendspiele im Freien gab es nicht, wenigstens nicht für Kinder aus gutem Haus. Meine ganze frühere Jugendzeit habe ich verlebt mit dem Gefühl heißen Neides gegen die Straßenjungen.
Da haben sie jetzt am Wolfgangsee ein großes Gebäude zur Unterbringung einer Ferienkolonie gebaut. Fünfhundert Kinder faßt es, und wie ich höre, ist es jetzt schon bezogen. Es steht dicht am waldigen Vorgebirge Frauenstein, nicht weit von der Falkensteinwand, keine Ortschaft ist in der Nähe. Hinter ihm steigen die waldbedeckten steilen Abhänge des Schafberges auf, vor ihm flutet der dunkelblaue See, am anderen Ufer, schon am frühen Nachmittag in bläulichen Bergschatten gehüllt, stürzen sich die bewaldeten Ausläufer des Zwölferhorns jäh in den See. Seit einem halben Jahrhundert etwa steht auf dem Frauenstein, von hohen Bäumen versteckt, die nur einen schmalen Durchblick auf den See freilassen, eine einsame Villa. Ein Ort voll Ruhe und Abgeschiedenheit, an dem man wohl sein Dasein beschließen möchte in sinnender Rückschau auf ein bewegtes und inhaltreiches Leben. Mir tat das Herz wehe, als ich im vorigen Sommer hören und sehen mußte, wie fremdländische Arbeiter den Bau begannen und mit wüstem Gezänk, Lärm und Gehämmer die heilige Stille entweihten. Jetzt aber, wenn ich daran denke, daß fünfhundert junge Menschenkinder, aus dem Qualm, Elend und Ekel der Großstadt wenigstens für vier Sommerwochen gerettet, dort ein Leben führen werden, wie es der Jugend gebührt, hat sich mein Bedauern in Rührung verwandelt. Darf ich gestehen, daß auch darin eine leise Regung von Neid mitschwingt? Denn so, wie diese Jungen hier durch vier Wochen Wald und See, Luft und Gebirge mit allen Sinnen genießen werden, so gut haben wir Kinder aus gutem Haus in unserer ganzen Jugendzeit es überhaupt niemals gehabt, trotz Wienerwald und Salzkammergut.
Und schließlich ist’s doch besser, ein halbes Tausend Stadtkinder genießt hier ein richtiges, überschäumendes Jugendleben, als daß irgend ein alter Kerl, und wär’s der gescheiteste seines Geschlechts, in dieser Einsamkeit spazieren geht und dabei über die klügsten und die dümmsten Streiche seines Lebens nachdenkt. Zufällig habe ich vorhin das Fahrrad erwähnt. Nun, das Fahrrad wird die Jugend von Anno dazumal doch nicht vermißt haben, denkt vielleicht mancher, da das Fahrrad ja damals noch gar nicht erfunden war. Und doch hat sie’s vermißt, wenn sie sich auch nicht bewußt sein konnte, was ihr eigentlich fehle. Denn das Gefühl, dem das von der eigenen Kraft des Fahrenden getriebene Rad dient, das war damals schon da: die Sehnsucht, die Ungeduld, gedankengeschwind und ohne Umstände sich leiblich an den Ort zu versetzen, wohin die Phantasie schon vorausgeflogen war. Ohne dieses Gefühl, ohne diese Sehnsucht und Ungeduld hätte ja das Fahrrad gar nicht erfunden werden können, denn jede wahre Erfindung entspringt wie ein echtes Gedicht, irgend einer Sehnsucht. Und diese war damals schon vorhanden. Wenn ich diesen Betrachtungen eine kleine autobiographische Episode einschalten darf, so kann ich sagen, ich empfand diese Sehnsucht so stark, daß ich als Knabe dem Vater keine Ruhe gab, bis er mir einen Kinderwagen kaufte, der sich durch den darauf Sitzenden mittelst einer Handkurbel ziemlich mühsam vorwärtsbewegen und mit den Füßen steuern ließ; auf diesem Fuhrwerk rollte ich, so gut es gehen wollte, auf den Straßen um Ischl herum. Wenn mir damals jemand ein modernes Bicycle geschenkt hätte, ich glaube, ich wäre gestorben vor Glück. Ein solches hätte ja zugleich auch die Freiheit bedeutet, die Abschüttelung der ewigen Eltern- und Lehreraufsicht. Mitlaufen hätten diese erwachsenen Tugendwächter doch nicht können, so wie die Gluckhenne ihrer jungen Entenbrut nicht hinaus in ihr Element folgen kann.
Ja, Licht, Luft und Wasser, viel mehr Betätigung und Uebung der wachsenden Körperkräfte im Freien, viel mehr persönliche Freiheit überhaupt, kaum behinderter Verkehr mit Altersgenossen beiderlei Geschlechts – die »Jugend« bildet ja heute schon einen die Gesellschaft geistig durchdringenden, in vielen Dingen maßgebenden Geheimbund, der über kurz oder lang noch parlamentarische Vertretung der Jugendrechte fordern wird – all das besitzt die heutige Jugend in weit reicherem Ausmaß, als es uns vergönnt war. Aber eine Hauptsache wurde noch gar nicht erwähnt: ihre völlig veränderte Stellung innerhalb der Familie, namentlich infolge der tiefen Umwandlung, welche das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern erfahren hat. Ein berühmter Wiener Dichter äußerte vor kurzem zu mir, wenn er mit seinem kleinen Sohn spazieren gehe und dieser allerlei zuweilen recht verfängliche Fragen an ihn richte oder ihm seine eigenen persönlichen Ansichten vortrage, da denke er oft daran, wie häufig er selbst als Knabe ähnliche Fragen und Meinungen seinem Vater vorgebracht habe; und er hätte dies noch viel häufiger getan, wenn die Antworten des Vaters danach gewesen wären; aber diese liefen gewöhnlich auf eine ziemlich unsachliche Abfertigung, wo nicht auf einen dem frühreifen Sprößling erteilten Verweis hinaus, daß er sich in seinem Alter schon mit solchen Sachen beschäftige. »Glauben Sie,« so schloß der Dichter seine Mitteilung, »ich würde solche Antworten, wie mein Vater sie mir gab, meinem Sohn zu geben wagen?« Da liegt’s! Das Verhältnis der Eltern zu den Kindern, jedenfalls der Väter zu den Söhnen, hat sich heute vielfach einer Art von Freundschaftsverhältnis von gleich zu gleich angenähert, abgesehen natürlich vom Altersunterschied. Daß der junge Mensch ein desto behaglicheres Leben hat, je mehr aus seinem Verhältnis zum Vater Respekt und Furcht (in ihrer Verschmelzung »Ehrfurcht« genannt) verschwindet, bedarf nicht erst der Versicherung. Auch bewirkt, wenn beide Teile auf dem Fuß der Gleichheit miteinander verkehren, die alsdann sich von selbst einstellende wechselseitige Zutraulichkeit und Offenherzigkeit, daß die| Eltern weit mehr von dem erfahren, was in ihren Kindern vorgeht, während sie sich gerade darüber ehedem oft in unglaublicher Unwissenheit befanden. Andererseits werden deshalb die Kinder heute mit weit mehr Wahrhaftigkeit aufgefüttert, als man uns zu gewähren noch für ratsam hielt, und haben mehr Nutzen von der Erfahrenheit der Eltern. War ehedem etwas in den Gesichtskreis der Kinder gedrungen, was nach der elterlichen Theorie »nicht für Kinder paßt«, so wurde nach Herzenslust verschwiegen, vertuscht und sogar gelogen, um ja nur »das nicht für sie Passende« wieder möglichst rasch aus den Köpfen der Kinder zu vertreiben. Natürlich wurde das Gegenteil erreicht. Unwahrheit, auch in bester Absicht gespendet, ist ein höchst gefährliches geistiges Gift, besonders in dem Alter, in welchem der noch unschuldige Verstand und das noch ehrliche Gemüt die Neigung hat, alles Gesagte zu glauben. Nur unter schweren Kämpfen und Enttäuschungen stoßen gesunde Naturen die schönfärberischen Unwahrheiten über die Menschen und das Leben aus, die ihnen ihre Eltern meist in liebevollster Absicht eingeflößt haben. Auch der Schreiber dieser Zeilen wüßte davon zu erzählen.
In meinem Neide gegen die heutige Jugend ist diese Milderung, welche im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern eingetreten ist, inbegriffen, wenn auch mit manchem Vorbehalt. Ueberhaupt erstreckt sich dieser Neid mehr auf das, was die jungen Leute heute haben, als auf das, was sie sind. Ich meine, in manchem Falle beobachtet zu haben, daß die Charakterbildung und Gemütsentwicklung durch die Entspannung im Verhältnis zu den Eltern ungünstig beeinflußt wird. Früher folgerten die Eltern: Wir haben euch das Leben gegeben, also seid ihr uns Liebe, Dankbarkeit und Ehrfurcht schuldig. Heute folgern die Kinder nur zu oft umgekehrt: Ihr habt uns das Leben gegeben, ohne uns zu fragen, ob es uns auch recht ist, also seid ihr uns grenzenlos verpflichtet, und wir haben das Recht, alles von euch zu fordern, was uns beliebt. Die philosophische Flachheit dieses Gedankenganges bleibe unbesprochen. Aber daß er sich, wenn auch nicht so drastisch scharf gefaßt, gar nicht selten in allzu modernen jungen Leuten abspielt und ihrem Benehmen gegen die Eltern im geheimen zu Grunde liegt, kann niemand leugnen, der das Leben kennt. Seine Wurzel aber ist die Auflockerung der vormaligen Strenge dieses Verhältnisses, welches dadurch, wie alle anderen Autoritäten, der Kritik anheimfällt und, wenn es schon nicht völlig zersetzt wird, doch viel von der Gemütstiefe und Heiligkeit einbüßt, die es ehedem besaß. Die Jugend ist eben heute das verwöhnte Schoßkind des elterlichen Geschlechtes, und das hat neben reichem Segen auch manche geistige und sittliche Uebel zur Folge; denn in Naturen, welche das verbreitetste aller Talente, nämlich Talent zum Egoismus, in höherem Grade besitzen, erzeugt verwöhnende Liebe nicht um so größere Liebe, sondern brütet die egoistische Anlage zu krankhafter Riesengröße aus. Dieser schädlichen, wenn auch angenehmen und – möglicherweise in streng ärztlichem Sinne – gesunden Verwöhnung dürfte auch das moderne Bestreben zuzuzählen sein, der Jugend in der Schule alle echte, wehetuende Mühe, alle wirklich schwere Arbeit tunlichst zu ersparen.
Ja, mag es auch paradox klingen, sogar gewisse fehlerhafte, das Lernen erschwerende Gebrechen der Lehrmethoden wie der Lehrer selbst schaden weit weniger, als sie nützen. Wie oft haben wir Schottner unter den ungeheuren Zumutungen gestöhnt, welche an unser Gedächtnis gestellt wurden, aber ich denke, keiner von uns hat jemals später bedauert, diesen harten, allen modernen pädagogischen Begriffen Hohn sprechenden Gedächtnisdrill erfahren und – erlitten zu haben, wenn das unerbittliche Leben selbst Leistungen von uns heischte, deren eben nur ein so unbarmherzig gestähltes Gedächtnis fähig war. Auch sonst wurden vielfach Leistungen wie Selbstverständlichkeiten von uns verlangt, welchen unsere Kraft und unser Können noch nicht gewachsen war, die aber trotzdem nach einem Maßstab beurteilt wurden, dem mancher Erwachsene und Reife kaum genügt hätte. Hat uns das geschadet? Es hat uns vielmehr dazu erzogen, in jede Arbeit jenes Aeußerste an Anspannung zu legen, welches das anscheinend Unmögliche schließlich doch bezwingt. Nicht im Namen der achtundzwanzig Schüler, die wir genau vor vierzig Jahren bei glühender Hitze die Matura abgelegt haben, wobei kein einziger von uns durchfiel und zwölf das Zeugnis der Reife mit Auszeichnung errangen, sage ich dies. Als ausdrucksvolle Verkörperung jener Wahrheit steht vielmehr die ehrwürdige und rüstige Gestalt des Professors Pater Hugo Mareta vor mir, der mit seiner gefürchteten Strenge manchem von uns das Beste, was er hat, gegeben hat. Noch entsinne ich mich der ersten deutschen Hausaufgabe, die ich, kaum siebzehnjährig, unter ihm zu leisten hatte. »Was haben Heimatliebe und Sehnsucht in die Ferne miteinander gemein?« war das Thema. Mit innerer Angst und mit Anspannung aller Kräfte ging ich an die Ausarbeitung. Denn Pater Mareta pflegte den besten Aufsatz und den schlechtesten, letzteren nicht ohne sarkastische Glossen, vor der gesamten Klasse vorzulesen. Endlich, als ich fast schon verzweifelte, etwas Ordentliches, das der Kritik Pater Maretas stand halten könnte, fertig zu kriegen, blitzte ein Einfall für den Schluß des Aufsatzes in mir auf. »Wie nahe verwandt,« schrieb ich, »die beiden Gefühle sein müssen, geht daraus hervor, daß ein und dasselbe Gedicht, Goethes Mignonlied ›Kennst du das Land‹ für Mignon der Ausdruck ihres Heimwehs nach Italien und für Goethe der Ausdruck, seiner Sehnsucht nach Italien war.« Pater Mareta las meinen Aufsatz vor, und das innerste Herz erbebte mir, als er, nachdem er zu Ende gelesen, die Worte sprach: »Der Schlußgedanke lag zwar ziemlich nahe, aber eingefallen ist er doch sonst keinem.« Was meine späteren Schreibereien wert sind, weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß die Höhe und Strenge der Anforderungen, die Pater Mareta und andere Lehrer stellten, mich für das ganze Leben gelehrt haben, bei jeder Zeile die ganze Kraft einzusetzen und womöglich noch etwas mehr. Ja, Strenge und, wenn es sein muß, ein bißchen Härte sind eine gute Sache, wenn sie mit starker Liebe verbunden sind, wie bei Pater Mareta, dem diese kleine persönliche Erinnerung zum sechzigjährigen Priestersjubiläum, das er vor wenigen Tagen im Stillen gefeiert hat, in Dankbarkeit dargebracht sein möge.