Hinter den Coulissen, 26. 10. 1904

Hinter den Coulissen.
Arthur Schnitzler, außerhalb seines eigenen dichterischen Schaffens sonst so sparsam, fast geizig mit seiner Feder, leitet die deutsche Buchausgabe von »Fesseln der Liebe« mit einem reizenden und anregenden, an Vaucaire gerichteten Briefe ein, der uns zur Wiedergabe übermittelt wird. Da das Stück morgen im jungen »Lustspielhaus« hier aufgeführt wird, sei der Brief Arthur Schnitzlers hier mitgeteilt:
Lieber Herr Vaucaire!
Sie wollen also wirklich ein Vorwort zu der deutschen Buchausgabe Ihres Stückes? Ich glaube, dieser Wunsch entspringt mehr einer Liebenswürdigkeit Ihrerseits mir gegenüber als der Empfindung, daß Ihre reizvolle Komödie einer Einführung beim deutschen Publikum bedürfe.
Ein Vorwort, das ist schließlich immer eine Art von Erklärung oder von Entschuldigung. Und die beste Entschuldigung für ein Werk wird immer bleiben, daß es gelungen ist; die zweifelloseste Erklärung, ja vielleicht die einzig erlaubte, wenn es sich selbst erklärt. Welches Vergnügen mir die Lektüre von »Petit chagrin« bereitet hat, habe ich Ihnen seinerzeit nicht verhehlt. Seither habe ich das Stück im Josefstädter Theater gesehen, und wieder hat es mir so lebhaft ans Herz gerührt wie damals, als ich es las. Nennen Sie es immerhin lächelnd den »kleinen Gram« oder »kleine Schmerzen« (ich weiß, daß »Petit chagrin« hübscher klingt und eigentlich was anderes heißt – allerdings bestimmt nicht »Fesseln der Liebe«. . . ), ich finde nun einmal, daß diese alltägliche Geschichte von der kleinen Mimi Foy im Grunde recht traurig ist und auch Ihnen viel trauriger vorkommt, als Sie es zugestehen wollen. Daß Mimi sich trösten, daß sie eine große Künstlerin werden, daß sie weiterleben wird, als wäre nichts geschehen – wie man zu sagen pflegt –, das macht die Sache höchstens für sie selbst etwas weniger traurig, aber nicht für uns nachdenkliche Zuschauer des Lebens und seiner Nachbildungen. Und was mir eigentlich für Mimi noch weher tut, als daß ihr Herz ein wenig bricht und daß es ihr ein wenig zusammenheilt, ist dieses: daß sie alles, was ihr passieren wird, im vorhinein gewußt und so auch alle Seligkeit des Anfangs schon mit der Ahnung von dem banalen Ende genossen und hingenommen hat. Und merkwürdigerweise hat sie sich nicht einmal aufgelehnt, kaum einen Augenblick, und jedenfalls nicht sehr ernstlich. Aber sollte sie es wirklich ganz in der Ordnung finden, daß man ein Wesen ihrer Art verläßt, um irgend ein Fräulein aus guter Familie zu heiraten, und daß man ohne weiteres das Recht hat, sie in ihre Welt zurückzustoßen, um ein Mädchen aus einer anderen zur Frau zu nehmen?. . .  Nein, ich glaube, sie weiß schon heute, daß ihre Welt die bessere und hoffnungsreichere ist, und bald wird sie den tieferen Sinn und das Heil ihres Erlebnisses darin spüren, daß sie nicht zu gering für ihren Geliebten, sondern, daß er ihrer nicht würdig war. – Damit will ich Ihrem Georges nicht einmal etwas Böses nachsagen. Er ist im Grunde ein guter Junge, liebenswürdig und hat viel Geist. . .  Den haben sie alle, die jungen Leute in Ihrem Stück. Sie haben beinahe so viel Geist als ihr Schöpfer und darum manchmal mehr, als dieser verantworten könnte. – Besonders Herrn Daumesnil habe ich sehr gern. Er könnte sich mit Recht darüber aufhalten, als Episodenfigur behandelt zu werden, und ich glaube, daß er ein wenig tiefer empfindet, und daß ihm daher mehr Leid beschieden wird, als Sie uns verraten. Die meisten Stücke haben ja irgend einen allerletzten Akt, der nicht geschrieben wurde; und wenn man aus dem Theater nach Hause geht, liebt man es, solche allerletzten Akte zu dem ausgespielten Stück dazu zu träumen. Und manche solcher vierten Akte könnte man sich zu »Petit chagrin« dazudenken. Aber wer weiß, ob es auch nur in einem von ihnen so lustig zuginge als in Ihren dreien, die in all ihrer Melancholie oft sehr heiter und immer so amüsant sind. – So denke ich mir einen Akt, der zwischen Daumesnil und Mimi spielt; und mir ist, als wenn Schatten der Vergangenheit ziemlich schwer über ihnen beiden liegen müßten. Dann seh’ ich Georges im Kreise der Familie Renouard, und trotz allen Glückes junger Brautschaft sehnt er sich doch nach einer gewissen Nacht in Versailles zurück, wo unter den Fenstern drei Violinen und ein Piano spielten, nach irgend einem unordentlichen Frühstück bei Mimi, und vielleicht sogar nach dem traurig-süßen Abschiedsmahle im Café de Madrid, da Sommerlüfte über den offenen Balkon in das stille Zimmer zogen.
Sehen Sie, lieber Herr Vaucaire, so mache ich mir Sorgen um manche Leute, die in Ihrer Komödie erscheinen; so stark ist der Hauch des Lebens, der von ihnen ausgeht. Nur um die kleinen Freundinnen der Lucie ist mir wenig bange, – eher um die Herren, die einmal ihre Gatten werden sollen.
Aber was erzähle ich Ihnen da? . . .  Sie wissen besser, was Ihre Figuren nach dem letzten Fallen des Vorhangs anstellen und erleben werden als ich. Es sind ja keine ungewöhnlichen Menschen, und wie Sie selbst, lieber Herr Vaucaire, in der wehmütig lächelnden Ueberschrift ausdrücken, ihre Schmerzen sind gering. Aber wirkliche Menschen sind es, und ihre kleinen Schmerzen gehen uns ans Herz, so vergänglich sie sind. Und das wird wohl die Hauptsache sein.
Und Sie wollen, daß ich Ihnen ein Vorwort schreibe? . . .  Wahrhaftig, Ihre Komödie bedarf weder eines Kommentars, noch einer Rechtfertigung. Aber vielleicht könnte ein Vorwort doch noch etwas Drittes bedeuten: den Dank, den irgend jemand im Namen von vielen ausspricht. Wollen wir es so nehmen? Da ist es vielleicht pretentiös, daß gerade ich meinen Namen unter diese Zeilen setze. Aber Sie waren so liebenswürdig, es zu wünschen, mein lieber Herr Vaucaire, und so mag ich darum auch bei anderen entschuldigt sein.
Ihr herzlich ergebener
Arthur Schnitzler.