Ein Brief Artur Schnitzlers an den Herausgeber des »Neuen Wiener Journals«, 31. 5. 1925

Ein Brief Arthur Schnitzlers an den Herausgeber des »Neuen Wiener JournalJ. Lippowitz.
Wir wollten bei unserer Enquete über die Anregungen des Dr. Kürschner den illustren Namen Arthur Schnitzlers nicht missen. Unser Mitarbeiter Hermann Menkes wandte sich an den Dichter mit der Bitte, sich über die wichtige Frage zu äußern. Schnitzler lehnte ab, indem er erklärte, daß er sich grundsätzlich an Zeitungsrundfragen nicht beteilige. Darauf schrieb ihm unser Herausgeber, daß es sich hier nicht um eine der gewöhnlichen Zeitungsrundfragen handle, sondern um eine bedeutsame Kulturaktion, welche voraussichtlich den Völkerbund beschäftigen werde, an der mitzuwirken für einen Mann von dem Ansehen und der literarischen Stellung Schnitzlers geradezu eine »moralische Pflicht« sei. Diesen Brief beantwortete der Dichter zwar nicht mit dem gewünschten Gutachten, aber mit einem langen Schreiben, das so charakteristisch für Schnitzler als Dichter und Mensch ist, daß wir es uns nicht versagen können, es im vollen Wortlaut abzudrucken. Der Dichter schreibt:

23. Mai 1925.
Sehr verehrter Herr Chefredakteur!
Auf Ihr liebenswürdiges Schreiben vom 9. d. M., in dem Sie mich, wie vorher schon Hermann Menkes, ersuchen, mich in irgendeiner Weise zu der Anregung des Dr. Kürschner zu äußern, erlaube ich mir zu erwidern, daß ich auf einem anderen prinzipiellen Standpunkt stehe als Sie, verehrter Herr Chefredakteur. Sie präzisieren den Ihren dahin, daß die »prominentesten unter den literarischen Führern geradezu die moralische Verpflichtung haben, bei einer so bedeutsamen kulturellen Aktion (wie es die Enquete über die Kürschnersche Idee sei, ein internationales Schulamt in Genf zu schaffen etc. etc.) nicht abseits zu stehen. Ich bin demgegenüber vor allem der Meinung, daß es keineswegs ein »Abseitsstehen« bedeutet, wenn man es vermeidet, öffentlich das Wort zu irgendeiner kulturell noch so bedeutsamen Frage zu ergreifen; ferner bestreite ich mit aller Entschiedenheit die von Ihnen behauptete »moralische Verpflichtung« eines freien Schriftstellers, in irgendeinem Falle »nicht abseits« zu stehen. Nichts wäre leichter und wohlfeiler, als sich zu der Kürschnerschen Idee mit ein paar Worten, sei es völlig zustimmend und hoffnungsvoll, sei es (in Hinsicht auf den Erfolg, der von ihm vorgeschlagenen Aktion) skeptisch zu äußern – ich aber für meinen Teil empfände es vor allem als höchst prätentiös, wenn ich mich zu einer solchen Sache überhaupt äußern wollte, ohne sie nach allen Seiten hin reiflich erwogen zu haben und ohne irgend etwas Wesentliches und Neues zu der Lösung der Frage beitragen zu können. Wie ich im allgemeinen über »nationalistische, den Klassen- und Rassenhaß nährende« Schulbücherbeiträge denke, davon dürften sich die Leute, die einiges von dem kennen, was ich bisher geschrieben habe, wohl ein Bild zu machen imstande sein. Und daß ich gerade nicht zu den Abseitsstehern gehöre, wenn das auch jederzeit mein gutes Recht wäre, habe ich mehr als einmal in meinem Leben zu beweisen Gelegenheit gehabt. Aber es muß durchaus meinem Ermessen anheimgestellt bleiben, bei welcher Gelegenheit, innerhalb welchen Rahmens, in welcher Form – ob ich eine politische oder unpolitische Anschauung dramatisch, episch, essayistisch, aphoristisch zum Ausdruck zu bringen den Wunsch hege. Ich muß nicht erst betonen, daß diese Worte weder eine Stellungnahme gegen Enqueten im allgemeinen, noch eine solche gegen die von Ihnen veranstaltete Enquete, noch gar eine gegen den vorzüglichen Artikel von Dr. Kürschner zu bedeuten haben, sondern daß ich nur mit aller Entschiedenheit das Bestehen einer moralischen Verpflichtung in Abrede stelle, mich an irgendeiner Enquete zu beteiligen, Meinungen abzugeben, mich kritisch zu äußern, kurz irgendwo und sei es im allerrespektabelsten Kreise, und über irgendein Problem, sei es so aktuell und interessant wie möglich, mitzureden, ohne daß mich im Augenblick ein inneres Bedürfnis dazu zwingt. Sollten Sie aber, sehr verehrter Herr Chefredakteur, den Lesern Ihres hochgeschätzten Blattes eine Erklärung für meine Nichtbeteiligung an Ihrer Enquete schuldig zu sein glauben (ich bin ja keineswegs dieser Ansicht), so habe ich gegen die Veröffentlichung dieses Briefes nichts einzuwenden – natürlich nur einer vollständigen Veröffentlichung, da einzelne Sätze immer leicht mißverstanden werden können.
Mit verbindlichstem Dank für Ihre freundliche Einladung und in vorzüglicher Hochachtung
Ihr sehr ergebener
Arthur Schnitzler.