Unveröffentlichte Briefe über die dichterische Inspiration
Eine
Nürnberger
Autographensammlerin legt uns hier eine Reihe von alten
Briefen vor: Briefe aus dem Jahre 1901, Briefe berühmter literarischer Männer, von
denen ein Teil schon gestorben ist, Briefe – und das ist das Wichtigste – über ein
einziges, von der Sammlerin gestelltes Thema, das Zentralproblem des dichterischen
Schaffens: die Inspiration. Ueber die Geschichte ihrer Sammlung berichtet sie selbst
im Folgenden.
Uns scheint es sehr dankenswert, daß Frau Bernhard jetzt den Inhalt ihres
»Schweinsledernen Kastens« zum Teil der Allgemeinheit zugänglich macht.
Wer heute diese alten Briefe liest, fühlt, wieviel Stabiles und wie unendlich viel
Veränderliches selbst im Begriff der Inspiration – dem scheinbar stabilsten –
enthalten ist. Das Relative, Zeitbedingte, drückt sich, wie uns scheint, gerade in
der Absolutheit aus, mit der die meisten – oft auf die bedeutendste Art – hier
sprechen: es ist das Zeichen einer Zeit, die in ihren Grundfesten gesichert ist und
für absehbare Zeit unveränderlich schien. Seltsam, daß nicht ein Wort über die
Imponderabilien der höheren historischen Einflüsse und Wandlungen und über den
Anteil des Allgemeinen an der individuellen Produktion fällt. Seltsam – und doch sehr
erklärlich.
Heute würde vermutlich gerade die andere Seite das Feld der Betrachtung beherrschen:
die Nation, die Klasse, die Elemente der historischen Wandlung. Die Betrachtung wäre
ebenso extrem und einseitig. Eine aktuelle Phrase, wie das angebliche Problem von
kollektiver und individueller Genesis der Dichtung ist der Beweis dafür: als ob die
Grenzen nicht verflössen, als ob es so entscheidend sei, ob das Anonyme und unendlich
vielfältig Bestimmte der dichterischen Inspiration zufällig in
einem Individuum oder in einer Gruppe lebendig wird; als ob die Inspiration
Shakespeares nicht ebenso »allgemein« wäre wie
die der anonymem Homeriden oder die eines Volksliedes.
Dieselbe Rundfrage, heute angestellt, würde in 32 Jahren
ebenso historisch wirken. Vielleicht noch mehr.
Die Schriftleitung.
Die 4. Notverordnung gab uns die Möglichkeit, unsern langfristigen Mietvertrag zu
kündigen. Das bedeutet Radikalumstellung auf neue Sachlichkeit in engen Räumen und
Loslösung von manchem auf Sentiment eingestellten Besitz. Auch die wertvolle alte
Autographensammlung in vorkriegsmäßigem, schweinsledernem Kasten wurde in Erwägung
gezogen, aber noch siegte der Geist über die Materie.
Sie war um die Jahrhundertwende entstanden, in einer Zeit, in der wohlbebütete
bürgerliche Jugend ihr Rekordbedürfnis geistig austrug. Es genügte mir nicht die
Unterschrift irgendeines Sportmannes oder Kinostars zu besitzen, ich wandte mich mit
unbeschwertem jugendlichen Unternehmungsgeist an die Großen der Nation, an die Großen
aller Länder und beschwerte sie mit Problemstellungen, die ihnen interessant genug
erschienen, gelöst zu werden.
Es gibt wohl kaum einen bekannten Namen auf dem Gebiet der Politik, der Malerei, der
Literatur und Musik, an den ich damals nicht schrieb, und erstaunlich scheint mir
heute noch die liebenswürdige Bereitwilligkeit der Antworten. Ich spezifizierte meine
Fragen auf das dem Adressaten adäquate Gebiet; heute scheint mir, die wertvollsten
Antworten brachte meine Frage an Dichter und Schriftsteller:
Haben Sie bei der Konzeption Ihrer Werke zuerst
ein fertiges Bild, etwa die Komposition in Umrissen, das Aussehen der vorkommenden
Personen vor Augen und stellt sich dann erst alles Gedankliche ein, oder ist der
Prozeß ein umgekehrter – dominiert eine bestimmte Idee, die sich eine kontinuierliche
Bildkette, die ihr adäquate Form nachträglich schafft?
Dies war die Quintessenz meines Briefes. Viele haben darauf geantwortet; ich möchte
nur einige wiedergeben, von denen ich weiß, daß sie auch heute noch im Mittelpunkt
des Interesses stehen, wenn auch mancher von ihnen längst nicht mehr am Leben ist.
–
Die Antworten sind datiert von
Oktober bis Dezember 1901; das Recht der
Veröffentlichung ist mir in jedem Fall eingeräumt worden.
[…]
Arthur Schnitzler †
Auf Ihre Fragen mit ein paar allgemeinen Bemerkungen zu antworten, scheint mir nach
meinen Erfahrung vollkommen unmöglich. Wenn ich das Vergnügen hätte, Sie persönlich
zu kennen, so könnte ich in mündlichen Unterhaltungen über die Entstehungsweise
dieser oder jener Arbeit berichten – soweit ich mich noch daran erinnere. Wir sind
ja
einigermaßen veränderlich
und so schafft sich wohl jedes einzelne Werk eine neue Möglichkeit und eine neue Art
zu werden.