Unveröffentlichte Briefe über die dichterische Inspiration, 3. 6. 1932

Unveröffentlichte Briefe über die dichterische Inspiration
Eine Nürnberger Autographensammlerin legt uns hier eine Reihe von alten Briefen vor: Briefe aus dem Jahre 1901, Briefe berühmter literarischer Männer, von denen ein Teil schon gestorben ist, Briefe – und das ist das Wichtigste – über ein einziges, von der Sammlerin gestelltes Thema, das Zentralproblem des dichterischen Schaffens: die Inspiration. Ueber die Geschichte ihrer Sammlung berichtet sie selbst im Folgenden.
Uns scheint es sehr dankenswert, daß Frau Bernhard jetzt den Inhalt ihres »Schweinsledernen Kastens« zum Teil der Allgemeinheit zugänglich macht.
Wer heute diese alten Briefe liest, fühlt, wieviel Stabiles und wie unendlich viel Veränderliches selbst im Begriff der Inspiration – dem scheinbar stabilsten – enthalten ist. Das Relative, Zeitbedingte, drückt sich, wie uns scheint, gerade in der Absolutheit aus, mit der die meisten – oft auf die bedeutendste Art – hier sprechen: es ist das Zeichen einer Zeit, die in ihren Grundfesten gesichert ist und für absehbare Zeit unveränderlich schien. Seltsam, daß nicht ein Wort über die Imponderabilien der höheren historischen Einflüsse und Wandlungen und über den Anteil des Allgemeinen an der individuellen Produktion fällt. Seltsam – und doch sehr erklärlich.
Heute würde vermutlich gerade die andere Seite das Feld der Betrachtung beherrschen: die Nation, die Klasse, die Elemente der historischen Wandlung. Die Betrachtung wäre ebenso extrem und einseitig. Eine aktuelle Phrase, wie das angebliche Problem von kollektiver und individueller Genesis der Dichtung ist der Beweis dafür: als ob die Grenzen nicht verflössen, als ob es so entscheidend sei, ob das Anonyme und unendlich vielfältig Bestimmte der dichterischen Inspiration zufällig in einem Individuum oder in einer Gruppe lebendig wird; als ob die Inspiration Shakespeares nicht ebenso »allgemein« wäre wie die der anonymem Homeriden oder die eines Volksliedes.
Dieselbe Rundfrage, heute angestellt, würde in 32 Jahren ebenso historisch wirken. Vielleicht noch mehr.
Die Schriftleitung.
Die 4. Notverordnung gab uns die Möglichkeit, unsern langfristigen Mietvertrag zu kündigen. Das bedeutet Radikalumstellung auf neue Sachlichkeit in engen Räumen und Loslösung von manchem auf Sentiment eingestellten Besitz. Auch die wertvolle alte Autographensammlung in vorkriegsmäßigem, schweinsledernem Kasten wurde in Erwägung gezogen, aber noch siegte der Geist über die Materie.
Sie war um die Jahrhundertwende entstanden, in einer Zeit, in der wohlbebütete bürgerliche Jugend ihr Rekordbedürfnis geistig austrug. Es genügte mir nicht die Unterschrift irgendeines Sportmannes oder Kinostars zu besitzen, ich wandte mich mit unbeschwertem jugendlichen Unternehmungsgeist an die Großen der Nation, an die Großen aller Länder und beschwerte sie mit Problemstellungen, die ihnen interessant genug erschienen, gelöst zu werden.
Es gibt wohl kaum einen bekannten Namen auf dem Gebiet der Politik, der Malerei, der Literatur und Musik, an den ich damals nicht schrieb, und erstaunlich scheint mir heute noch die liebenswürdige Bereitwilligkeit der Antworten. Ich spezifizierte meine Fragen auf das dem Adressaten adäquate Gebiet; heute scheint mir, die wertvollsten Antworten brachte meine Frage an Dichter und Schriftsteller:

 

Haben Sie bei der Konzeption Ihrer Werke zuerst ein fertiges Bild, etwa die Komposition in Umrissen, das Aussehen der vorkommenden Personen vor Augen und stellt sich dann erst alles Gedankliche ein, oder ist der Prozeß ein umgekehrter – dominiert eine bestimmte Idee, die sich eine kontinuierliche Bildkette, die ihr adäquate Form nachträglich schafft?

 

Dies war die Quintessenz meines Briefes. Viele haben darauf geantwortet; ich möchte nur einige wiedergeben, von denen ich weiß, daß sie auch heute noch im Mittelpunkt des Interesses stehen, wenn auch mancher von ihnen längst nicht mehr am Leben ist. – Die Antworten sind datiert von Oktober bis Dezember 1901; das Recht der Veröffentlichung ist mir in jedem Fall eingeräumt worden.
[…]
Arthur Schnitzler †
Auf Ihre Fragen mit ein paar allgemeinen Bemerkungen zu antworten, scheint mir nach meinen Erfahrung vollkommen unmöglich. Wenn ich das Vergnügen hätte, Sie persönlich zu kennen, so könnte ich in mündlichen Unterhaltungen über die Entstehungsweise dieser oder jener Arbeit berichten – soweit ich mich noch daran erinnere. Wir sind ja einigermaßen veränderlich und so schafft sich wohl jedes einzelne Werk eine neue Möglichkeit und eine neue Art zu werden.