Karl Kraus: Vorlesungen [für Peter Altenbergs Grab], Ende Dezember 1922

Vorlesungen
[…]
Mittlerer Konzerthaussaal, 26. November, 3 Uhr:
I. Das Wort, sie sollen es lassen stahn [Mit Vorbemerkung]. – In eigenster Sache.
II. Aus: Kralikstag (Einleitung). – Szenen: Die Cherusker in Krems / Elfriede Ritter und die Reporter. – Die vornehmsten Gäste aus der Kulturstadt Wien / Großmann daheim. – Reklamefahrten zur Hölle. – Im Untergang.
Vorbemerkung:
Ein Aufsatz, geschrieben ein Jahr, bevor die Presse zu jenem Kreuze kroch und die Justiz ihren Segen dazu gab.
Auf dem Programm:
Dem Grabsteinfonds sind zugeflossen: . . . .  = K 2,635.500 und č K 170.
Das bisherige Ergebnis – neben zwei Millionen Kronen aus dem Ertrag einer Vorlesung nur eine aus der unmittelbaren Beteiligung des Publikums – ist beschämend dürftig und recht eigentlich der Tatsache angemessen, daß das Ehrengrab Peter Altenbergs so lange durch kein sichtbares Zeichen zu erkennen| gibt, wer darin ruht. Daß die Leute, die sich Künstler nennen, wenigstens zu diesem edlen Zweck etwas beisteuern könnten, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Die Kreuze in der nichtswürdigsten Tagespresse geben Zeugnis davon, wie viel sie der irdische Ruhm täglich kostet. Ein winziger Bruchteil, an dessen schmutzigen Verwaltern erspart, würde hinreichen, um dem Andenken eines Dichters, der freilich lebendiger ist als ihrer aller Gegenwart, die äußere Ehre zu erweisen. Der Vorleser spricht die Erwartung aus, daß das Publikum nun durch regere Teilnahme wettmachen wird, was es selbst und was die armseligen Kunsttreibenden dieser Stadt bisher versäumt haben. Er müßte sonst, da die Kosten eines Grabsteines viel höher sind als das bisherige Ergebnis der Sammlung, weitere Vorlesungserträgnisse aufwenden, welche dann der Fürsorge für ein hungerndes und frierendes Leben entzogen wären. Ganz nebenbei aber und zur Gelegenheit des 60. Geburtstages Gerhart Hauptmanns sei bemerkt, daß er besser getan hätte, anstatt einer Welt, die das freilich so haben will, das allen einstigen Spuren von Echtheit hohnsprechende Schauspiel zu bieten dieser unermüdlichen Willfährigkeit, sich feiern zu lassen – daß es ihm wohl angestanden hätte, wenigstens einer einzigen dieser tausend Freß- und Preßorgien zugunsten der wie eh und je hungernden Weber abzuwinken. Auch könnte gerade er sich des Altenberg-Grabes erinnern, der ja das Genie des Mannes früh genug erkannt hat. Wenigstens ist dies durch ein in meinem Besitz befindliches Schreiben beglaubigt, das den folgenden Wortlaut hat:
Lieber Herr Peter Altenberg,
gestern sprach ich mit Gerhart Hauptmann, der sich über Ihr Buch in unendlich sympathischer Weise äußerte und unter anderm sagte, seit Jahren habe kein Buch einen so starken Eindruck auf ihn gemacht als das Ihre.
Da diese Bemerkung für Sie interessant sein dürfte und sie sonst kaum an Sie gelangen könnte, fühle ich mich in gewissem Sinne angenehm verpflichtet, sie Ihnen mitzuteilen.
Mit bestem Gruß Ihr ergebener
Berlin, 29. X. 96.  Arthur Schnitzler
Ganz in diesem Sinne will ich (wenn der Autor des Schreibens binnen acht Tagen keinen Einspruch erhebt) es als Autogramm verkaufen, um wenigstens auf diese Weise die deutsche| Literatur zur Errichtung eines Grabsteines für Peter Altenberg heranzuziehen. Der Wert des Autogramms ist allerdings beträchtlich erhöht durch eine Randnotiz Peter Altenbergs, der die ihm widerfahrene literarische Weihe mit den Adressen eines Nachtcafés und offenbar einer von dessen Besucherinnen quittiert hat – eine Altenberg-Reaktion, um derentwillen ich vor so viel Jahren mir das Doppelautogramm von ihm erbat, das der unheimliche Zufall gerade im Jahr der Grabsammlung und der sechzigsten Geburtstage auffinden half. Wenn ich noch erwähne, daß dieser Sachverhalt durch eine handschriftliche Bemerkung von mir festgestellt ist, so dürfte dem Wert des Schriftstücks und dem guten Zweck, dem er bestimmt ist, keine Einbuße drohen. Es kann im Ernst nicht angenommen werden, daß die beiden Dichter, die ja der lauteren irdischen Huldigung teilhaft wurden, etwas dagegen einzuwenden haben, daß mit diesem echten Altenberg-Dokument auf echte Altenberg-Art dazu beigetragen werde, daß sein Grab zu der würdigsten und selbstverständlichsten aller Ehren kommt.
[…]
Auf der Rückseite des Programms:
Dem Grabsteinfonds sind zugeflossen: . . . .  = K 3,130.500, č K 170 und M 500.
30. 11. 1922.
Sehr geehrter Herr Lányi.
Aus dem mir freundlichst übersandten Programm der Vorlesung Karl Kraus am 26. November 1922 entnehme ich, daß Karl Kraus sich im Besitze eines Briefes von meiner Hand befindet, in dem ich am 29. Oktober 96 Peter Altenberg eine Äußerung Gerhart Hauptmanns über ihn, gleich ehrenvoll für beide, zur Kenntnis brachte; und erfahre ferner, daß Karl Kraus diesen meinen Brief zu Gunsten des Fonds zur Errichtung eines Grabsteines für Peter Altenberg zu verkaufen beabsichtigt, falls ich binnen acht Tagen keinen Einspruch erheben sollte. Karl Kraus hat einen solchen Einspruch gewiß nicht ernstlich befürchtet und wird nicht einmal sonderlich überrascht sein, wenn ich selbst als Kauflustiger mich zu melden hiemit so frei bin, – und zwar mit einem Anbot von 250.000 Kronen, die ich durch die Postsparkasse der Buchhandlung Richard Lányi überweise.
Mag es auch fraglich erscheinen, ob Karl Kraus berechtigt war ein Privatschreiben von mir ohne meine vorherige Genehmigung abzudrucken oder vorzulesen und zu einer eventuellen Feilbietung dieses meines Schreibens sich mit meiner nachträglichen oder gar mit einem Schweigen meinerseits begnügen zu wollen (wenn er auch allen Grund hatte mein Einverständnis zu Veröffentlichung und Verkauf als selbstverständlich vorauszusetzen) – so wenig denke ich daran ihm das unbeschränkte Verfügungsrecht über den erzielten Kaufpreis abzusprechen. Trotzdem – und ich glaube damit nicht nur im Sinne des großen lebenden Dichters vorzugehen, dessen Äußerung ich festgehalten, sondern auch im Geist des großen toten Dichters, dem ich sie zur Kenntnis gebracht hatte – trotzdem gestatte ich mir dem augenblicklichen Eigentümer meines Schreibens in aller Bescheidenheit den Vorschlag zu unterbreiten, ob er nicht – entgegen seiner ursprünglichen edeln Absicht, den Erlös für mein Autogramm dem Fonds zur Errichtung eines Grabsteines für Peter Altenberg zuzuführen (von dessen Existenz, des Fonds nämlich, mir übrigens bis| zum heutigen Tage nichts bekannt war und auf dessen Gründung der praktische Philosoph und Durchschauer menschlicher Eitelkeiten kaum sonderlichen Wert gelegt haben dürfte) – diese Summe einem meines Erachtens noch edleren und jedenfalls nützlicheren Zwecke, – nämlich der Österreichischen Künstlerhilfe zuzuwenden sich entschließen möchte; wie er es so oft mit anderen, höheren, aus eigenem Schaffen stammenden Beträgen zu tun pflegt.
Sollte jedoch auf mein Autogramm ein höheres Anbot erfolgen als das meine (was mir trotz der eigenhändig an den Rand geschriebenen Notiz Peter Altenbergs unwahrscheinlich dünkt, da im Laufe des seither vergangenen Vierteljahrhunderts sowohl die Adresse des Nachtkaffeehauses als auch die vermutliche Adresse der Besucherin jenes Nachtkaffeehauses an aktuellem Interesse und praktischer Verwendbarkeit allzuviel eingebüßt haben dürften) – so ziehe ich natürlich mein Anbot zu Gunsten jenes höheren zurück, nicht aber die der Buchhandlung Lányi überwiesene Summe von 250.000 Kronen, die ich in diesem Falle ohneweiters der Österr. Künstlerhilfe zur Verfügung zu stellen bitte.
Mit vorzüglicher Hochachtung

 

2. 12. 1922.
Hochgeehrter Herr Doktor!
Mit dem besten Dank für Ihr sehr freundliches Schreiben vom 30. 11., das ich Herrn Karl Kraus übermittelt habe, beehre ich mich Ihnen mitzuteilen, daß nach meinem Dafürhalten das autographische Dokument – mit drei Handschriften und dem Urteil Gerhart Hauptmanns – einen noch weit höheren Wert als die freundlich übersandten 250.000 Kronen hat, für deren gütige Spende ich Ihnen, auch im Namen des Herrn Karl Kraus, in jedem Falle herzlich danke. Es kann ja wohl nicht angenommen werden, daß jene praktische Unverwendbarkeit der von Peter Altenberg eigenhändig hinzugesetzten und heute veralteten Adressen, von der Sie scherzhaft sprechen, dem Wert des Schriftstücks Abbruch tue, zu dessen Erhöhung überdies, was Sie, hochgeehrter Herr Doktor, übersehen haben, auch die| handschriftliche Bestätigung des augenblicklichen Eigentümers nicht unerheblich beiträgt. Mit vollem Recht aber bemerken Sie, daß dieser Ihren Einspruch nicht ernstlich befürchtet hat, vielmehr allen Grund hatte, Ihr Einverständnis zur Veröffentlichung (die übrigens nur durch das Programm und nicht durch eine Vorlesung erfolgt ist) und zum Verkauf eines Briefes als selbstverständlich vorauszusetzen, der ja seinem Inhalte nach kaum als »Privatschreiben« aufgefaßt werden könnte. Hätte er mit der Förmlichkeit einer Anfrage Zeit verloren, so wäre die Gelegenheit, das Publikum seiner Vorträge auf das Dokument aufmerksam zu machen und eine kräftige Unterstützung der Aktion zu ermöglichen, versäumt worden. Was Ihren Vorschlag zur Verwendung des von Ihnen überwiesenen Betrages anlangt, so wird dieser ganz in Ihrem Sinne der »Österreichischen Künstlerhilfe« gewidmet werden, wenn der Erlös des dreifachen Autogramms ihn übersteigen sollte.1 Im andern Falle, wenn also kein höheres Anbot als das Ihre erfolgt, wären Sie, hochgeehrter Herr Doktor, der Käufer, dem jenes ausgehändigt würde. In diesem Fall jedoch könnte sich Herr Karl Kraus nicht damit einverstanden erklären, den Betrag statt dem Fonds zur Errichtung eines Grabsteines für Peter Altenberg der »Österreichischen Künstlerhilfe« zu überlassen. Ihr Hinweis, daß er selbst diesem Zwecke höhere, aus eigenem Schaffen stammende Beträge zuzuwenden pflege, beruht insoferne auf einem Irrtum, als solche Beträge der »Österreichischen Künstlerhilfe« tatsächlich zu einer Zeit zugewendet wurden, da die Bestimmung dieser Aktion die österreichischen Künstler noch nicht als Objekt – was ja wohl dem Sinn des Wortes besser entsprechen mag –, sondern als Subjekt der Hilfe gemeint, also bedeutet hat, daß die österreichischen Künstler den hungernden Russen helfen, nicht, daß ihnen selbst geholfen werde. Auch dies mag nun, wie Sie ganz zutreffend bemerken, ein nützlicher und edler Zweck sein, deckt sich aber nicht mit der Intention des Herrn Karl Kraus, der Menschennot ohne Rücksicht auf den Beruf der Notleidenden und darauf, daß sie etwa Künstler sind oder sich dafür halten, abzuhelfen.| Er würde gewiß nicht zögern, von den Erträgnissen seiner Vorlesungen auch Künstler zu beteilen, aber keineswegs in Würdigung ihrer speziellen Tätigkeit oder eines Werts, der sie aus der unübersehbaren Masse des Elends heraushebt. Da er in dieser allgemeinen Richtung, die nur das gleiche Recht des Bedürfens anerkennt, seine Pflicht erfüllt, so glaubt er, sie durch die Ehrung eines so teuren Dichtergrabes, welche freilich hinter der Achtung vor der Not des Lebens zurückstehen müßte, nicht zu verkürzen. Es mag wohl sein, daß auch der praktische Philosoph und Durchschauer menschlicher Eitelkeiten höheren Wert auf jene Pflicht als auf die der Pietät gelegt hätte. Immerhin wollen Sie in Erwägung ziehen, daß er selbst in einer seiner Skizzen die Inschrift für sein Grab bestimmt hat, das bis heute, obschon es, und im wahren Sinne des Wortes, ein Ehrengrab der Stadt Wien ist, sogar eines Kennzeichens entbehren muß.
Mit wiederholtem Dank und in vorzüglicher Hochachtung
  1. 1
    Da er 500.000 Kronen beträgt, ist die Spende der »Österreichischen Künstlerhilfe« zugeführt worden.
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    Da er 500.000 Kronen beträgt, ist die Spende der »Österreichischen Künstlerhilfe« zugeführt worden.