Der Protest aus Wien gegen Tollers Hinrichtung, 13. 6. 1919

Der Protest aus Wien gegen Tollers Hinrichtung
Ein Dementi des Staatssekretärs Bauer.
Wien, 12. Juni.
Staatssekretär Dr. Otto Bauer hat an den bayerischen Ministerpräsidenten Hoffmann in München folgende Depesche geschickt:
»Die ›Münchener Post‹ veröffentlicht einen Protest gegen die angebliche beabsichtigte Erschießung Ernst Tollers, unter den auch die Unterschrift des Präsidenten Seitz und meine Unterschrift gesetzt sind. In Wirklichkeit ist weder dem Präsidenten Seitz noch mir jemals ein solcher Aufruf zur Unterschrift vorgelegt worden. Unsere Namen wurden ohne unser Wissen unter den Protest gesetzt. Wir sind überzeugt, daß es unserer Bitte gar nicht bedarf, die bayerische Regierung zu bewegen, kein Todesurteil mehr vollziehen zu lassen.  Otto Bauer
Eine Erklärung Dr. Artur Schnitzlers.
Wien, 12. Juni.
Vom Schriftsteller Dr. Artur Schnitzler werden wir um die Veröffentlichung folgender Zeilen ersucht:
»Erklärung.
Eben erst kommt mir die gestrige Nummer der ›Wiener Mittagszeitung‹ zu Gesicht, aus der ich erfahre, daß am 9. d. an den bayerischen Ministerpräsidenten eine angeblich auch von mir unterfertigte Depesche abgegangen sei, in der aufs schärfste gegen jede Anwendung ungesetzlicher standrechtlicher Gewalt, insbesondere aber gegen die drohende standrechtliche Hinrichtung Tollers protestiert wurde.
Zu meinem Bedauern bin ich genötigt, festzustellen, daß ein solches Telegramm mir zur Einsichtnahme oder gar zur Unterschrift niemals vorgelegen hat, daß ich bis zu dieser Stunde dessen Wortlaut nicht kenne, und daß ich nicht weiß, wer sich ohne meine Zustimmung ja ohne den rechtzeitigen Versuch, meine Zustimmung zu erhalten, befugt halten durfte, meinen Namen unter einen Protest zu setzen, der mir, soweit mir der Inhalt aus jener kurzen Zeitungsnotiz bekannt geworden, zwar von einer zweifellos gerechten und – in Anbetracht der unterzeichneten Namen – weiter nicht erstaunlichen edeln Gesinnung getragen, aber keineswegs so weit gefaßt erscheint, als es der Anlaß ermöglicht und für meinen persönlichen, parteipolitisch völlig unberührten Geschmack dringend erfordert hätte.
Denn ich für meinen Teil schließe mich dem an den bayerischen Ministerpräsidenten gerichteten Protest nicht nur mit aller Entschiedenheit an, sondern ich dehne ihn hiemit aus auf sämtliche übrigen politischen Morde und sonstigen politischen und pseudopolitischen Gewaltakte und Bübereien, in welchem Lande, in welcher Partei, durch welche Instanz immer und ob sie nun an Proletariern, Bürgern, Literaten oder selbst an Fürsten verübt worden wären und weiterhin verübt werden sollten.
Endlich erhebe ich Einspruch gegen jeden von welcher Seite immer ausgehenden Eingriff in die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums – solange durch die Ausübung dieser Rechte nicht diejenigen eines anderen Individuums verletzt würden – und aus dieser Empfindung heraus verwahre ich mich hiemit öffentlich gegen die vermessene eigenmächtige Zeichnung meines zu meiner alleinigen Verfügung stehenden Namens – und wäre es auch in bester Absicht und zum besten Zweck geschehen – unter ein Schriftstück, von dessen Existenz ich im Augenblicke der Absendung überhaupt keine Ahnung hatte.  Dr. Artur Schnitzler