(Tragödie und Pantomime.)
Von Dr. Max Messer
Die dramatische Dichtkunst ist die Königin der Poesie. Ihre Geschwister, die Lyrik,
die Epik, und ihre vielen Halbgeschwister sind nicht von minder edlem Blut. Aber dem
Drama gebührt der Vorrang. Während das Gedicht bloß zum Herzen oder Verstand des
Lesers spricht, während die Erzählung uns Geschehnisse und menschliche Figuren nur vor das
innere Auge zaubert, läßt der Dramatiker die Geschöpfe seiner Phantasie leibhaftig
vor uns auferstehen, läßt uns in das Weben und Werden des Schicksals schauen. Wir
hören, wir sehen nachgeschaffene Menschen sprechen und handeln, und bleiben doch
immer unsichtbare Zuschauer dieser fremden Geschicke. Fremde Häuser und Wohnungen,
fremde Seelen und Herzen öffnen sich unseren begierigen Sinnen. Wie in Tarnkappen
verhüllt, leben wir fremdes Leben mit. Im Drama ist die »Illusion« am vollkommensten.
Je echter und größer der Dicher, desto rascher vergessen wir an ihn selbst, wenn der
Vorhang in die Höhe schwebt und sich nun ein Abbild des Lebens vor unseren Augen
aufrollt. Neugierig und ergriffen wie Kinder folgen wir dem dramatischen Dichter in
die Welt des Scheins. Je tiefer und wahrhaftiger seine Kunst, desto mehr wird der
Schein dem Sein gleichen, desto beglückter werden wir
lauschen und schauen. Die dramatische Kunst der Griechen war angewandte,
verbildlichte Religion. Der Dramatiker jener Zeit hatte etwas Göttliches in seiner
Kraft. Seine Hand glich der Hand der Parzen, er lenkte das Schicksal. . . . .
Die Entwicklung des Dramas hat schon früh bizarre Nebenformen gezeitigt, spielerische
Abarten, die den theatralischen Reiz des offenen, dramatischen Geschehens durch
Wegnahme eines Teiles der auf der Bühne wirkenden Kräfte zu erhöhen suchten. Eine
solche bizarre Abart des Dramas ist das Puppenspiel. In
allem anderen mit dem Drama identisch, weicht es nur darin von ihm ab, daß statt
lebendiger Menschen am Draht gezogene Puppen die Handlung darstellen. Bewegung,
Bühne, Rede und Gegenrede sind geblieben. Man hat dem Organismus des Dramas nur den
lebendigen Menschen, den Schauspieler entzogen, und an seine Stelle die Puppe
gesetzt.
Die zweite, ebenso seltsame Abart des Dramas ist die Pantomime. Bühne, lebendiger Darsteller, Bewegung und Mienenspiel sind
geblieben. Aber das lebendige Wort ist ausgeschaltet, durch stummes Gebärdenspiel
ersetzt. Was das lebendige Wort leicht verdeutlicht, wird hier dem Zuschauer durch
die Geste des Schauspielers, durch begleitende und erklärende Musik
verdolmetscht.
Puppenspiel und Pantomime sind in gewissem Sinne krüppelhafte Dramen. Es fehlt ihnen
ein Glied des gesunden und vollkommenen Dramas. Diese Abarten haben den Reiz des
Ungewöhnlichen. Sie sind artistische Kunststücke, bewunderungswert, aber in höherem
Sinne nicht notwendig.
Paganini spielte ein
Violinkonzert auf
einer Saite. So verzichtet auch hier der
Dichter auf die Gesamtheit der Mittel, um durch den kunstvollen Ersatz des Fehlenden
neue Reize und Wirkungen auszulösen.
Der Telegraph hat vor einigen
Tagen gemeldet, daß die Pantomime »
Der Schleier der
Pierrette« von
Artur Schnitzler (Musik von
Ernst v.
Dohnanyi) an der
königlichen Hofoper in Dresden einen
großen Erfolg errungen hat. Man vernahm weiters, daß diese Pantomime, wie schon ihr
Titel andeutet, aus einer früheren dramatischen Dichtung
Artur Schnitzlers emporgewachsen ist. Wenn wir statt »Pierrette«
Beatrice setzen, so steht jene Tragödie vor uns,
die mit ihrem Reichtum an Gestalten und Vorgängen, ihrer symbolischen Tiefe, der
prunkvollen Schönheit ihrer Verse einen Gipfel der bisherigen dramatischen Produktion
des Dichters bedeutet. Das
Wiener Publikum hat es
einer Unterlassungssünde der Direktion
Schlenther zuzuschreiben, daß es den »
Schleier der Beatrice« auf der Bühne nicht zu sehen bekam. Den Dichter mag es vielleicht in dem
Entschlusse bestärkt haben, den dramatischen Kern der Tragödie zu einer Pantomime
umzugestalten.
Dies nimmt um so weniger wunder, als der »
Schleier der
Beatrice« – wie
Artur Schnitzler uns
neulich erzählte – schon in seiner ersten, nicht veröffentlichten Fassung eine
Pantomime gewesen ist. Im Jahre
1892 war sie entstanden.
Sie spielte im
Altwiener Kostüm. Die Handlung bestand
darin, daß Pierrette, ein
Wiener Mädel, von ihrer
Hochzeit mit Arlekino weg zu ihrem früheren Geliebten Pierrot läuft. Diese
ursprüngliche Pantomime war lustspielmäßig gedacht. Der Konflikt löste sich zum
Wohlgefallen aller Beteiligten. Es war ein Atelierscherz.
Aus dieser heiteren Pantomime wuchs ein Schauspiel heraus, das noch immer im
wienerischen Kostüm spielte. Während der Arbeit an
diesem
Drama kam der Dichter erst
zum Entschlusse, die Handlung in die Renaissancezeit
zu verlegen, da, wie er uns sagte, die Menschen seiner Dichtung ihm nicht mehr in
das
moderne Kostüm zu passen schienen. Aus dem Scherzspiel wurde eine Tragödie. Pierrot
ist nunmehr der Dichter
Philippo
Loschi,
Beatrice ist die Tochter eines
Wappenschneiders in
Bologna, Arlekino ist
Lionardio Bentivoglio, Herzog von
Bologna. Aber der Kern der Fabel ist unverändert
geblieben.
Beatrice läuft von
ihrer Hochzeit mit dem Herzog
Bentivoglio weg zu
Philippo
Loschi, ihrem Geliebten, und verrät sich dem Gatten zurückkehrend damit, daß
sie den Schleier bei dem Geliebten vergessen. Wie bewunderungswürdig reich ist jedoch
in der neuen Tragödie dieser Kern der Handlung umsponnen! Aus dem einfachen
Wiener Mädel ist in
Beatrice eine wunderbare, rührende, seltsame Frauenfigur
geschaffen, in deren Brust zwei Seelen wohnen: eine naive, lebensfreudige, an Glanz
und Genuß hängende (das frühere
Wiener Mädel aus dem
Vormärz) – und eine komplizierte, tragische, isoldenhafte. Mit dem einen Teil ihrer
Seele liebt sie den Herzog
Bentivoglio, mit dem anderen den Dichter
Philippo Loschi. Zwischen beiden schwankt sie noch am
Hochzeitstage. Und genau wie in der ursprünglichen Pantomimenfabel eilt sie nach der
Hochzeit zum Geliebten. Aber auch
Philippo ist jetzt eine tragische Figur geworden. Die Pierrotzüge sind fast
ganz verwischt, eher gewahren wir an ihm Aehnlichkeiten mit »
Anatol«, dem Helden der
Schnitzlerschen Jugendstücke. Auch er ist eine schwankende Natur, seltsam
stolz und in den Wünschen seiner Liebe von übertriebenster Empfindsamkeit. Daß
Beatrice bloß vom Herzog geträumt
hat, empört ihn, so daß er sie von sich stößt.
». . .
Träume sind Begierden ohne Mut,
Sind freche Wünsche, die das Licht
des Tags
Zurückjagt in die Winkel unsrer
Seele,
Daraus sie erst bei Nacht zu
kriechen wagen;
Und solch ein Traum, mit
ausgestreckten Armen,
Sehnsüchtig läßt er, durstig dich
zurück.
So wenig warst du mein, daß,
schlossest du
Die Augen, deine Seel’ auf
Abenteuer
Ausfliegen konnte, und ich war dir
nur
Von Tausend Einer, kniete wie die
andern
Vor dir und war dir nichts und bin
dir nichts,
Ich, der dir so viel gab, als
nichts ahnst,
So viel, daß meiner Liebe wert zu
sein,
Dich Ekel fassen müßte, wenn du
denkst,
Es leben andre Männer auf der
Welt!
Willst du, daß, dem gefäll’gen
Eh’mann gleich,
Ich fremden Kuß von deinen Lippen
trinke,
Und kommst daher als Dirne deines
Traums?
Geh, Beatrice!« . . .
Und hinter all diesen seelischen Konflikten droht im Hintergrund erschütternd das
große Schicksal:
Cesar Borgias Heer rückt an
Bologna heran. Und morgen vielleicht schon ist diese
Stadt zerstört und sind die hochgespannten Seelen dieser Menschen dem ermordeten Leib
entflohen. . . .
Der »
Schleier der Beatrice« ist im Jahre
1901 erschienen. Ihr Dichter ist von den Abarten des Dramas immer
wieder gelockt worden. Er hat jene entzückenden Puppenspiele geschrieben, unter denen
der »
Tapfere Cassian« (in Musik gesetzt von
Oscar Straus) als Meisterwerk hervorleuchtet.
Einer äußeren Anregung folgend, hat
Artur
Schnitzler nun, wie er uns erzählte, dem »
Schleier der Beatrice« noch einmal den Stoff zu einer Pantomime entnommen.
Jener Kern der Handlung, der schon im Jahre
1892 Stoff einer Pantomime
gewesen ist, ist im Grunde genommen auch der wesentliche Inhalt der neuen Pantomime
»
Der Schleier der Pierrette«. Freilich ist der
Entwicklungsweg, den diese Handlung bis zum großen Renaissancedrama geschritten ist,
auf die neue Arbeit nicht ohne Einfluß geblieben. Auch die neue Pantomime ist
tragischen Ausganges.
Arlekino,
der Gatte Pierrettens, hat deutliche Züge vom Herzog
Bentivoglio übernommen, ebenso
Pierrot von
Philippo Loschi. Pierrette verläßt das Hochzeitsmahl, um den armen
Pierrot ein letztesmal zu sehen
und mit ihm zu sterben.
Pierrot
aber entreißt ihr das Gift, trinkt es allein.
Pierrette flüchtet zu Arlekino zurück, der ihr das
Geständnis entreißt und sie zwingt, ihn dorthin zu führen, wo sie ihren Schleier
verloren hat. Ganz neu ist nun der grotesk-tragische Schluß der Pantomime.
Arlekino nimmt fürchterliche Rache
an
Pierrot (im »
Schleier der Beatrice« vollzieht
Francesco,
Beatricens Bruder, die Rache). Er schleppt den toten
Pierrot zum Tisch, setzt ihn auf den Divan und
zwingt
Pierrette, mit ihrem toten
Geliebten und ihm zu pokulieren. Dann läßt er sie mit
dem Toten allein, eilt davon, versperrt die Türe hinter sich.
Pierrette findet keinen Ausweg. Sie ist allein
mit dem Toten und wird wahnsinnig. . . .
Schnitzler hat mit seinem künstlerischen Geschmack
für diese Pantomime wieder das
Altwiener Kostüm
gewählt. So wie ihn vor Jahren die seelische Entwicklung und Umgestaltung dieser
Figuren in der Tragödie notwendig zur Renaissancezeit führte, führte ihn jetzt die
Pantomime mit ihrem Einschlag ins Märchen- und Zauberhafte wieder ins
Altwiener Kostüm zurück.
»
Der Schleier der Pierrette« hat in seiner Handlung
und Wirkung etwas, das an die Gestalten und Begebenheiten der Werke
E. T. A. Hoffmanns erinnert. Das
Geheimnisvolle und Gruselige, das Wilde und Gespensterhafte ersetzt hier romantisch
den Schimmer des Klassischen, der uns in der farbigen, reichen Welt der Tragödie
entzückt hat, aus der sie stammt.
Artur Schnitzler erzählt uns, daß die Rolle des
Pierrot, in der schaurigen Schlußszene, wo
Pierrot als Toter mitspielt,
Alexander Girardi gelockt habe und der Künstler den Wunsch
ausgesprochen habe, diese Rolle zu spielen.
Man hat in
Wien, außer dem »
Verlorenen Sohn« und der
»
Statue
des Kommandeurs« (bei der
Tewele mitspielte), schon lange keine Pantomime
gesehen.
»
Der Schleier der Pierrette« ist das Werk eines
Wiener Dichters, eines
Wiener Komponisten. Vielleicht wird man es auch in
Wien zu sehen und zu hören bekommen.