Max Messer: Die Entstehung des »Schleiers der Pierrette«, 30. 1. 1910

Die Entstehung des »Schleiers der Pierrette«.
(Tragödie und Pantomime.)
Von Dr. Max Messer
Die dramatische Dichtkunst ist die Königin der Poesie. Ihre Geschwister, die Lyrik, die Epik, und ihre vielen Halbgeschwister sind nicht von minder edlem Blut. Aber dem Drama gebührt der Vorrang. Während das Gedicht bloß zum Herzen oder Verstand des Lesers spricht, während die Erzählung uns Geschehnisse und menschliche Figuren nur vor das innere Auge zaubert, läßt der Dramatiker die Geschöpfe seiner Phantasie leibhaftig vor uns auferstehen, läßt uns in das Weben und Werden des Schicksals schauen. Wir hören, wir sehen nachgeschaffene Menschen sprechen und handeln, und bleiben doch immer unsichtbare Zuschauer dieser fremden Geschicke. Fremde Häuser und Wohnungen, fremde Seelen und Herzen öffnen sich unseren begierigen Sinnen. Wie in Tarnkappen verhüllt, leben wir fremdes Leben mit. Im Drama ist die »Illusion« am vollkommensten. Je echter und größer der Dicher, desto rascher vergessen wir an ihn selbst, wenn der Vorhang in die Höhe schwebt und sich nun ein Abbild des Lebens vor unseren Augen aufrollt. Neugierig und ergriffen wie Kinder folgen wir dem dramatischen Dichter in die Welt des Scheins. Je tiefer und wahrhaftiger seine Kunst, desto mehr wird der Schein dem Sein gleichen, desto beglückter werden wir lauschen und schauen. Die dramatische Kunst der Griechen war angewandte, verbildlichte Religion. Der Dramatiker jener Zeit hatte etwas Göttliches in seiner Kraft. Seine Hand glich der Hand der Parzen, er lenkte das Schicksal. . . . .
Die Entwicklung des Dramas hat schon früh bizarre Nebenformen gezeitigt, spielerische Abarten, die den theatralischen Reiz des offenen, dramatischen Geschehens durch Wegnahme eines Teiles der auf der Bühne wirkenden Kräfte zu erhöhen suchten. Eine solche bizarre Abart des Dramas ist das Puppenspiel. In allem anderen mit dem Drama identisch, weicht es nur darin von ihm ab, daß statt lebendiger Menschen am Draht gezogene Puppen die Handlung darstellen. Bewegung, Bühne, Rede und Gegenrede sind geblieben. Man hat dem Organismus des Dramas nur den lebendigen Menschen, den Schauspieler entzogen, und an seine Stelle die Puppe gesetzt.
Die zweite, ebenso seltsame Abart des Dramas ist die Pantomime. Bühne, lebendiger Darsteller, Bewegung und Mienenspiel sind geblieben. Aber das lebendige Wort ist ausgeschaltet, durch stummes Gebärdenspiel ersetzt. Was das lebendige Wort leicht verdeutlicht, wird hier dem Zuschauer durch die Geste des Schauspielers, durch begleitende und erklärende Musik verdolmetscht.
Puppenspiel und Pantomime sind in gewissem Sinne krüppelhafte Dramen. Es fehlt ihnen ein Glied des gesunden und vollkommenen Dramas. Diese Abarten haben den Reiz des Ungewöhnlichen. Sie sind artistische Kunststücke, bewunderungswert, aber in höherem Sinne nicht notwendig. Paganini spielte ein Violinkonzert auf einer Saite. So verzichtet auch hier der Dichter auf die Gesamtheit der Mittel, um durch den kunstvollen Ersatz des Fehlenden neue Reize und Wirkungen auszulösen.
Der Telegraph hat vor einigen Tagen gemeldet, daß die Pantomime »Der Schleier der Pierrette« von Artur Schnitzler (Musik von Ernst v. Dohnanyi) an der königlichen Hofoper in Dresden einen großen Erfolg errungen hat. Man vernahm weiters, daß diese Pantomime, wie schon ihr Titel andeutet, aus einer früheren dramatischen Dichtung Artur Schnitzlers emporgewachsen ist. Wenn wir statt »Pierrette« Beatrice setzen, so steht jene Tragödie vor uns, die mit ihrem Reichtum an Gestalten und Vorgängen, ihrer symbolischen Tiefe, der prunkvollen Schönheit ihrer Verse einen Gipfel der bisherigen dramatischen Produktion des Dichters bedeutet. Das Wiener Publikum hat es einer Unterlassungssünde der Direktion Schlenther zuzuschreiben, daß es den »Schleier der Beatrice« auf der Bühne nicht zu sehen bekam. Den Dichter mag es vielleicht in dem Entschlusse bestärkt haben, den dramatischen Kern der Tragödie zu einer Pantomime umzugestalten.
Dies nimmt um so weniger wunder, als der »Schleier der Beatrice« – wie Artur Schnitzler uns neulich erzählte – schon in seiner ersten, nicht veröffentlichten Fassung eine Pantomime gewesen ist. Im Jahre 1892 war sie entstanden. Sie spielte im Altwiener Kostüm. Die Handlung bestand darin, daß Pierrette, ein Wiener Mädel, von ihrer Hochzeit mit Arlekino weg zu ihrem früheren Geliebten Pierrot läuft. Diese ursprüngliche Pantomime war lustspielmäßig gedacht. Der Konflikt löste sich zum Wohlgefallen aller Beteiligten. Es war ein Atelierscherz.
Aus dieser heiteren Pantomime wuchs ein Schauspiel heraus, das noch immer im wienerischen Kostüm spielte. Während der Arbeit an diesem Drama kam der Dichter erst zum Entschlusse, die Handlung in die Renaissancezeit zu verlegen, da, wie er uns sagte, die Menschen seiner Dichtung ihm nicht mehr in das moderne Kostüm zu passen schienen. Aus dem Scherzspiel wurde eine Tragödie. Pierrot ist nunmehr der Dichter Philippo Loschi, Beatrice ist die Tochter eines Wappenschneiders in Bologna, Arlekino ist Lionardio Bentivoglio, Herzog von Bologna. Aber der Kern der Fabel ist unverändert geblieben. Beatrice läuft von ihrer Hochzeit mit dem Herzog Bentivoglio weg zu Philippo Loschi, ihrem Geliebten, und verrät sich dem Gatten zurückkehrend damit, daß sie den Schleier bei dem Geliebten vergessen. Wie bewunderungswürdig reich ist jedoch in der neuen Tragödie dieser Kern der Handlung umsponnen! Aus dem einfachen Wiener Mädel ist in Beatrice eine wunderbare, rührende, seltsame Frauenfigur geschaffen, in deren Brust zwei Seelen wohnen: eine naive, lebensfreudige, an Glanz und Genuß hängende (das frühere Wiener Mädel aus dem Vormärz) – und eine komplizierte, tragische, isoldenhafte. Mit dem einen Teil ihrer Seele liebt sie den Herzog Bentivoglio, mit dem anderen den Dichter Philippo Loschi. Zwischen beiden schwankt sie noch am Hochzeitstage. Und genau wie in der ursprünglichen Pantomimenfabel eilt sie nach der Hochzeit zum Geliebten. Aber auch Philippo ist jetzt eine tragische Figur geworden. Die Pierrotzüge sind fast ganz verwischt, eher gewahren wir an ihm Aehnlichkeiten mit »Anatol«, dem Helden der Schnitzlerschen Jugendstücke. Auch er ist eine schwankende Natur, seltsam stolz und in den Wünschen seiner Liebe von übertriebenster Empfindsamkeit. Daß Beatrice bloß vom Herzog geträumt hat, empört ihn, so daß er sie von sich stößt.
Und hinter all diesen seelischen Konflikten droht im Hintergrund erschütternd das große Schicksal: Cesar Borgias Heer rückt an Bologna heran. Und morgen vielleicht schon ist diese Stadt zerstört und sind die hochgespannten Seelen dieser Menschen dem ermordeten Leib entflohen. . . . 
Der »Schleier der Beatrice« ist im Jahre 1901 erschienen. Ihr Dichter ist von den Abarten des Dramas immer wieder gelockt worden. Er hat jene entzückenden Puppenspiele geschrieben, unter denen der »Tapfere Cassian« (in Musik gesetzt von Oscar Straus) als Meisterwerk hervorleuchtet.
Einer äußeren Anregung folgend, hat Artur Schnitzler nun, wie er uns erzählte, dem »Schleier der Beatrice« noch einmal den Stoff zu einer Pantomime entnommen. Jener Kern der Handlung, der schon im Jahre 1892 Stoff einer Pantomime gewesen ist, ist im Grunde genommen auch der wesentliche Inhalt der neuen Pantomime »Der Schleier der Pierrette«. Freilich ist der Entwicklungsweg, den diese Handlung bis zum großen Renaissancedrama geschritten ist, auf die neue Arbeit nicht ohne Einfluß geblieben. Auch die neue Pantomime ist tragischen Ausganges. Arlekino, der Gatte Pierrettens, hat deutliche Züge vom Herzog Bentivoglio übernommen, ebenso Pierrot von Philippo Loschi. Pierrette verläßt das Hochzeitsmahl, um den armen Pierrot ein letztesmal zu sehen und mit ihm zu sterben. Pierrot aber entreißt ihr das Gift, trinkt es allein. Pierrette flüchtet zu Arlekino zurück, der ihr das Geständnis entreißt und sie zwingt, ihn dorthin zu führen, wo sie ihren Schleier verloren hat. Ganz neu ist nun der grotesk-tragische Schluß der Pantomime. Arlekino nimmt fürchterliche Rache an Pierrot (im »Schleier der Beatrice« vollzieht Francesco, Beatricens Bruder, die Rache). Er schleppt den toten Pierrot zum Tisch, setzt ihn auf den Divan und zwingt Pierrette, mit ihrem toten Geliebten und ihm zu pokulieren. Dann läßt er sie mit dem Toten allein, eilt davon, versperrt die Türe hinter sich. Pierrette findet keinen Ausweg. Sie ist allein mit dem Toten und wird wahnsinnig. . . . 
Schnitzler hat mit seinem künstlerischen Geschmack für diese Pantomime wieder das Altwiener Kostüm gewählt. So wie ihn vor Jahren die seelische Entwicklung und Umgestaltung dieser Figuren in der Tragödie notwendig zur Renaissancezeit führte, führte ihn jetzt die Pantomime mit ihrem Einschlag ins Märchen- und Zauberhafte wieder ins Altwiener Kostüm zurück.
»Der Schleier der Pierrette« hat in seiner Handlung und Wirkung etwas, das an die Gestalten und Begebenheiten der Werke E. T. A. Hoffmanns erinnert. Das Geheimnisvolle und Gruselige, das Wilde und Gespensterhafte ersetzt hier romantisch den Schimmer des Klassischen, der uns in der farbigen, reichen Welt der Tragödie entzückt hat, aus der sie stammt.
Artur Schnitzler erzählt uns, daß die Rolle des Pierrot, in der schaurigen Schlußszene, wo Pierrot als Toter mitspielt, Alexander Girardi gelockt habe und der Künstler den Wunsch ausgesprochen habe, diese Rolle zu spielen.
Man hat in Wien, außer dem »Verlorenen Sohn« und der »Statue des Kommandeurs« (bei der Tewele mitspielte), schon lange keine Pantomime gesehen.
»Der Schleier der Pierrette« ist das Werk eines Wiener Dichters, eines Wiener Komponisten. Vielleicht wird man es auch in Wien zu sehen und zu hören bekommen.