Julius Stern: Wiener Theaterwoche, 14. 3. 1920

Wiener Theaterwoche.
Artur Schnitzler an drei Bühnen: Im Burgtheater, Volkstheater und an der Renaissancebühne. – Wie der Dichter arbeitet. – Ein großmütiges Geschenk.
Artur Schnitzler, der feinsinnige, stille Poet, der in seinem lieben Häuschen zu Füßen der Sternwarte mit der schönen Wiener Natur heimliche Grüße tauscht, wird in dieser seiner Freude gerade jetzt empfindlich, aber durchaus nicht unangenehm gestört. Drei Wiener Bühnen rufen ihn gegenwärtig zur Teilnahme an Probearbeiten: Das Burgtheater, das seine neueste Dichtung, das Casanovastück »Die Schwestern« vorbereitet, das Deutsche Volkstheater, auf dem vergangene Woche die Einakter »Der Puppenspieler«, »Der grüne Kakadu« und »Komtesse Mizzi«, und die Renaissancebühne, auf der (mit Harry Walden) die »Komödie der Worte« in neuer Inszenierung gegeben worden sind. Es ist, als wäre unser Wiener Dichter neu in Mode gekommen. Gewiß wird sich Dr. Schnitzler darüber freuen. Aber wir könnten darauf wetten: Er läßt sich durch all diese Geschäftigkeit der Theater in seinem festen Arbeitsplan nicht stören.
Es gibt nämlich wenige Schriftsteller, die mit solcher Regelmäßigkeit dem Tagewerk des Schaffens obliegen wie Schnitzler. Des Morgens ein Spaziergang rings um den Türkenschanzpark, dann Lektüre, dann nach Tisch ein wenig Ruhe, aber gleich darauf die Arbeit. Er hat natürlich ein prächtiges Stück von Schreibtisch und einen bequemen, weichen Lederstuhl davor, aber sie bleiben abseits, wenn der Dichter schreibt. Da stellt er sich an sein hohes Stehpult, und erst da fließen ihm Verse und Prosa leicht aus der Feder. Es vergeht wohl selten ein Nachmittag, an dem Schnitzler nicht irgend eine Arbeit fortgesetzt hätte, sei es eine Novelle, sei es ein Drama. Hat er die Sache fertig, so wandert sie zunächst in die Lade; dort bleibt sie mindestens drei Wochen liegen. Dann nimmt er sie wieder heraus und liest die Blätter förmlich als Fremder, mit den Augen des Kritikers. Da wird das Ding entweder unbarmherzig verworfen oder aber neu geformt. Jedenfalls auf das eingehendste durchgearbeitet und ausgefeilt. Kein Dialog irgendeines Schnitzlerstückes, der nicht zwei bis dreimal vollkommen umgearbeitet worden wäre! Und erst wenn die letzte Form die Prüfung des Dichters bestanden hat, wird die Arbeit in die Welt geschickt. . . 
Schnitzlers Villa in der Sternwartestraße hat seit jeher innige Beziehungen zum Burgtheater unterhalten. Bevor der Dichter dieses liebliche Haus besessen, war es Eigentum des Künstlerehepaares RömplerBleibtreu gewesen. Es bedeutete eine der größten Freuden im Leben des Dichters, als es ihm vergönnt war, kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstage für seine Familie und sich dieses Heim zu erwerben. Ein Stück Boden, und wäre es noch so klein, sein eigen zu nennen, war seit jeher ihm ein lieber Traum gewesen. Im Frühling und Sommer im Freien sein Abendbrot zu nehmen, bereitete ihm ein Wohlbehagen ganz besonderer Art. Als er sich noch nicht »zu den Hausherren« zählen durfte, ging der Dichter oft und oft in irgendeinen der vielen vorortlichen Gasthofgärten, um dort zu Füßen alter Bäume nach wienerischer Art zu »schwelgen«. Ein Gulyas, ein Stück Emmentaler, zwei »aufgesprungene« Riesenwecken dazu, und etwas Bier und einen G’spritzten – welchen Hochgenuß bereitete dieses volkstümliche Menü dem Dichter!
Und wenn in diesem Gasthausgarten zufällig Volkssänger eine »Soiree« gaben, so hatte Schnitzler auch nichts dagegen. Er hörte in heiterer Beobachtung zu und wurde solcherart ein Kenner dieser heute verschwundenen Welt des ungehobelten Brettels, in der Unbildung und Talent zu wildem Reigen sich betteten. Wie urdrollig hat er die Gestalten der Wiener Volkssängerei in der Novelle »Das neue Lied« geschildert: den »Kapellmeister« (eigentlich Klavierspieler), der die »Nr. 1« spielt, die »Ouvertüre«, den Komiker Wiegel-Wagel, der im grünen Frack »direkt« aus Afrika auf die Bühne kommt, den »Musikclown« Jedek, der auf Glasrändern konzertiert, die »Ungarin« Ilka, die wienerisch magyarembert usw. Man hat diese Gestalten in Saltens »Der Gemeine« wiedergesehen, als wären sie aus Schnitzlers Novelle gekommen – ähnlich wie der Mann im grünen Frack aus Afrika, nur nicht ganz so direkt. . . . 
Wer hätte je geglaubt, als das erste Büchlein von »Anatol« vorlag, daß diese Gestalt über die ganze deutsche Bühnenwelt ihren Siegeslauf nehmen werde. Artur Schnitzler hatte das Werk noch als Student der Medizin geschrieben. Sein Vater, der geschätzte Laryngologe Professor Dr. Johann Schnitzler, lebte noch in der Hoffnung, sein Sohn Artur werde ein berühmter Kehlkopfoperateur werden. Während er darauf schwor, sein jüngerer Sohn werde zu einem großen Dramatiker sich entwickeln. Richtig ist dieser jüngere Sohn just der heutige bekannte – Operateur Professor Dr. Julius Schnitzler geworden! . . .  Wie kränkte sich der alte Professor, daß sein Sohn Artur die Medizin weniger liebte als verschiedentliche Ausflüge in höhere Regionen, aus denen nur Lorbeerduft zu holen ist!
Die Sache mußte aber endlich entschieden werden: entweder Laryngologie oder Schreiberei fürs Theater. Fest entschlossen nahm eines Tages Professor Schnitzler das Anatol-Manuskript seines Sohnes und ging damit zu Adolf Sonnenthal, seinem alten Freund. Der las die Anatol-Einakter mit Hingebung und kam nach einigen Tagen zum Professor, um ihm zu sagen: »Lieber Freund, absolut talentlos!« Selbstverständlich hieß es nun für den jungen Herrn Artur bei der Medizin bleiben und brav weiter rackern. Kürzlich zeigte uns übrigens ein Arzt eine kleine Schrift, die in jener Zeit entstanden ist und von deren Existenz die Schnitzlerliteratur wohl kaum Kenntnis genommen hat. Sie betitelt sich: »Ueber die Behandlung von Stimmbandlähmungen mittels Hypnose.« Als Verfasser zeichnet »Dr. Artur Schnitzler, Assistent an der Poliklinik«. Es wäre übrigens nicht uninteressant zu erfahren, ob Dr. Schnitzler auch tatsächlich eine derartige Heilung bei einem Patienten versucht hat. Mit hypnotischen Mitteln hat er übrigens vor unseren Augen schon gearbeitet, aber als – Dichter, nicht als Arzt. Es geschah dies im reizenden Einakter »Die Frage an das Schicksal«. Der Held versetzt sein Liebchen in hypnotischen Zustand, um ganz wahrhaftig zu erfahren, ob ihm das Mädchen jemals untreu gewesen. Doch bevor es noch die ganze Wahrheit aus dem Halbschlaf ausplaudern kann, gerade in dem Augenblick, in dem das entscheidende Ja oder Nein fallen könnte – erwacht das Fräulein! Und ist ängstlich, ob sie sich nicht doch verraten habe. . . .  Schluß: »Er« weiß nach wie vor nichts Gewisses. . . . 
Wie gesagt, von Sonnenthal aus war Artur Schnitzler »absolut talentlos«. Niemand ist jemals ob eines Irrtums so verlacht worden wie Sonnenthal – von sich selbst. Er hatte Schnitzler schon als Kind gekannt und vielleicht gerade deshalb an ihn nicht geglaubt. Er hatte auch kein Auge gehabt für die eigentümliche, halb leichtlebige, halb versonnene Gesellschaftsschichte, der dieser nachdenkliche Lebemann Anatol entstammt. Das war eine ganz andere Klasse als die Bourgeoisie Bauernfelds, in dessen Lustspielwelt Sonnenthal aufgewachsen war.
Als dann Burckhard dem jungen Schnitzler die Pforte des Burgtheaters öffnete und trotz des wilden Widerstandes hochadeliger Funktionäre das Proletarierstück »Liebelei« aufführte, da sprang Sonnenthal gleich mit beiden Füßen ins Lager der Jungen. Sein Musikus rührte ganz Wien zu Tränen. Nur des Künstlers liebste Freundin und Kollegin Charlotte Wolter konnte sich nicht beruhigen. Die Gestalt dieses Vaters – meinte sie – sei einfach eine Ohrfeige fürs Burgtheater. Ein Vater, der da wisse, daß seine Tochter Beziehungen zu einem jungen Mann unterhalte, die nie zur Ehe führen können, der diese Tochter darob nicht niederschlägt und zum mindesten aus dem Hause jagt, das sei kein Held, das sei eine abscheuerregende Erscheinung. Und doch hatte der Dichter gerade in diesem alten Mann reinste Liebe und edelste Lebensweisheit verkörpern wollen. Der greise Musikus will das junge Glück seiner armen Tochter nicht zerstören, er weiß ja, er ahnt, es ist der erste und der letzte Sonnenstrahl, der in ihr junges Leben fällt.
Aber es dauerte nicht lange und das Drama des Wiener Mädels war aus dem Burgtheater verschwunden. Eine hohe Dame vom Hofe verbannte es, nicht wegen der wienerischen Heldin – gefallene Mädchen gibt es ja in so vielen klassischen Dramen, von »Faust« angefangen – sondern wegen dieses verworfenen Vaters. In dem Burgtheater jener halbvergangenen, unseren Augen aber heute wie tot daliegenden Zeit konnte man nur Väter dulden wie jener edle Odoardo Galotti, der sein Töchterchen erdolcht, bevor der Sturm diese Rose noch entblättert hat.
Vor Jahren saß ich einmal bei Schnitzler, als das Stubenmädchen mit einer Visitkarte eintrat. »Haben Sie was dagegen, daß der Herr jetzt eintrete?« fragte mich der Dichter und reichte mir die Karte. Ich las »Salom Asch«. Es war der russisch-jüdische Dichter, dessen Drama »Gott der Rache« die deutsche Bühne sich erobert hatte. Ein junger Mann, dunkles englisches Schnurrbärtchen, elegant, stellte der fremde Dichter sich vor. Er drückte zunächst seine Freude aus, Schnitzler seine Bewunderung bekennen zu dürfen. Er wolle ihm aber auch einen kollegialen Rat geben: »Sie verstehen,« meinte Dr. Asch lächelnd, »leider gar nicht, den Dieben das Handwerk zu legen, die Sie bestehlen!« – »Da haben Sie recht,« meinte Schnitzler. – »In Rußland,« fuhr Dr. Asch fort, »werden Sie in hunderten Theatern gespielt, ohne daß die Direktoren Ihnen auch nur einen Kreuzer bezahlen.« – »Da geschieht mir ein Unrecht,« meinte Schnitzler in seiner geradezu naiven Weltfremdheit. – »Sie sind aber schuld,« fuhr der fremde Dichter fort, »weil Sie Ihre Werke zuerst drucken lassen, ehe Sie sich in Rußland Ihr geistiges Eigentum gesichert haben. Machen Sie’s in Zukunft umgekehrt, und die russischen Direktoren werden Ihnen dann Tantiemen zahlen müssen!« . . .  Schnitzler dankte seinem Besucher für den kostbaren Rat.
Ich ging dann mit dem russischen Schriftsteller fort. In einem Ecksalon erkannten wir beide fast gleichzeitig unter Glas und Rahmen die Schriftzüge Goethes. Wir traten näher, und richtig: Es war die Originalhandschrift des Unsterblichen – zwei Zeilen mit wundervoll deutlicher Unterschrift, in Karlsbad niedergeschrieben.
»Es ist mein kostbarster Hausschatz!« sagte Dr. Schnitzler. »Ihn für Geld zu erwerben – so reich bin ich nicht. Aber mein Freund und Kollege Stephan Zweig hat mir diesen Reichtum beschert. Ich schenkte ihm einst die Urschrift meiner »Liebelei« und er erwiderte diese meine Aufmerksamkeit mit zwei Zeilen Goethes. Hat je ein Freund an einem anderen solche Großmut geübt?« schloß Schnitzler. Und wir beglückwünschen ihn zu seinem Besitz.
Julius Stern.